Gewichtsmanagement in der Adipositastherapie


Thèse de Master, 2014

104 Pages, Note: 1,8


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abstrakt

1 Einleitung

2 Adipositas im Erwachsenenalter
2.1 Entstehung der Adipositas
2.2 Diagnostik
2.3 Abgrenzung zu Essstörungen
2.4 Folgen für die Betroffenen
2.5 Folgen für das Gesundheitssystem

3 Therapiekonzepte bei Adipositas
3.1 Leitlinien
3.2 Konzepte im Detail
3.2.1 Weight Watchers
3.2.2 DOC WEIGHT®
3.2.3 M.O.B.I.L.I.S.
3.2.4 Abnehmen mit Genuss
3.2.5 Xeni-calculiertes-Abnehmen
3.2.6 ADI-POSI-FIT
3.2.7 metabolic balance®
3.2.8 Ich nehme ab
3.2.9 Abnehmen mit Vernunft
3.3 Formula-Diät basierte Konzepte
3.3.1 OPTIFAST®
3.3.2 BODYMED®
3.3.3 INSUMED
3.4 Operative Therapie
3.5 Zusammenfassung

4 Gewichtsmanagement
4.1 Selbsthilfebewegung
4.2 Professionelle Begleitung
4.3 Weitere stabilisierende Faktoren

5 Untersuchungsdesign
5.1 Sampling
5.2 Methodisches Vorgehen
5.2.1 Planung und Durchführung der Interviews
5.2.2 Problemzentriertes Interview
5.2.3 Interviewleitfaden
5.2.4 Die Datenanalyse
5.3 Ergebnisse
5.3.1 Initiale Gewichtsreduktion
5.3.2 Sport und Bewegung
5.3.3 Gewichtsregulierung
5.3.4 self-monitoring
5.3.5 Bedeutung von Beziehungen
5.3.6 Bedeutung ärztlicher Begleitung
5.3.7 Essverhalten
5.3.8 Selbstbild und Gefühle
5.3.9 Motivation
5.3.10 Ziele
5.3.11 Konservative vs. Operative Methoden
5.4 Begrenzungen der Studie

6 Ausblick

7 Literaturverzeichnis
7.1 Fachzeitschriften
7.2 Internetquellen
7.3 Abbildungsverzeichnis
7.4 Tabellenverzeichnis

8 Anhang
8.1 Studien zur Gewichtsstabilisierung
8.2 Kompletter Interview Leitfaden
8.3 Einverständniserklärung / Datenschutz (zur Information)
8.4 Einwilligungserklärung (zur Unterzeichnung)

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abstrakt

Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Fragestellung, wie ein Gewichtsmanagement nach einer Gewichtsreduktion in Rahmen einer Adipositastherapie erfolgreich gestaltet werden kann auseinander. Dazu werden zu Beginn die aktuellen Verfahren zur Gewichtsreduktion bei der Behandlung einer Adipositas erläutert. Dies erfolgt mit der Zielsetzung, den nächsten Schritt, die Gewichtserhaltung, hier als Gewichtsmanagement bezeichnet, zu beleuchten und zu diskutieren. Im Rahmen eines qualitativen Forschungsansatzes wurden zehn Personen im Rahmen eins problemzentrierten Interviewverfahrens befragt. Zu dem Sampling gehörten Betroffene die ihr Gewicht nach eine Reduktion mindestens fünf Jahre halten konnten und solche die nach der Reduktion zunahmen. Die Auswertung erfolgte anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse. Nur ein kleiner Anteil der Betroffenen schafft es ihr Gewicht zu stabilisieren. Die Ergebnisse geben Hinweis darauf, dass die Gewichtsstabilisierung als fester Bestandteil in die Adipositastherapie eingebunden werden sollte. Somit endet dann die Adipositastherapie nicht mehr mit der Gewichtsreduktion, sondern sollte als lebenslanges Begleitkonzept, wie bei anderen chronischen Erkrankungen, angesehen werden.

1 Einleitung

In Deutschland haben 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen Übergewicht. Von diesen sind 23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen adipös. Damit kann festgehalten werden, dass sieben von zehn Männern sowie fünf von zehn Frauen zu viel Gewicht auf die Waage bringen. Studien und Berichte der vergangenen Jahre zeigen, dass sich der Anteil an übergewichtigen Personen auf einem hohen Niveau eingependelt hat (Beleg in der Studie der DEGS und Berichte der DAG). Die Entwicklung zeigt aber auch, dass diejenigen Menschen, welche von einer Adipositas betroffen sind, zusehends dicker werden. Dies ist in den verschiedenen Stadtbildern immer häufiger anzutreffen. Vor allem hochübergewichte Menschen fallen durch ihr jeweiliges ꞌFormatꞌ auf. Dies scheint auf den ersten Blick eine zunehmende Problematik darzustellen. Wie schätzen jedoch Fachverbände die Lage ein? Die WHO stuft die Adipositas derweil als das am schnellsten wachsende Gesundheitsproblem ein. Laut den ersten Ergebnissen der DEGS 1 (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) nimmt der Anteil der übergewichtigen Menschen mit steigendem Alter zu. Bei den 18- bis 19-jährigen Männern sind 20 Prozent betroffen. Im Alter zwischen 35 und 39 Jahren sind es bereits 67 Prozent. Mit 80 Prozent befinden sich die meisten übergewichtigen Männer im Alter von 60 bis 74 Jahren. Die Ergebnisse zeigen, dass das Übergewicht bei Frauen in nahezu allen Altersgruppen seltener ist als bei Männern. Doch mit etwa 60 Jahren ist der Anteil der adipösen Frauen höher als der der Männer (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. 30.01.2013, S. 1–2). Dass Menschen ihr Gewicht reduzieren möchten, ist ein altbekanntes Thema. Befragt man betroffene Menschen dazu, warum sie abnehmen möchten, erhält man selten die Antwort: ꞌgesünder zu seinꞌ. Oftmals ist es übergewichtigen (nicht adipösen) Betroffenen wichtig, gewissen Schönheitsidealen zu entsprechen oder diesen zumindest näherzukommen. Nun muss unterschieden werden, ob von einem Übergewicht oder von einer Adipositas gesprochen wird. Adipositas bewegt sich im Bereich ꞌder hohen Gewichtsklassenꞌ. Viele Menschen möchten aufgrund des optischen Erscheinungsbildes abnehmen, aber auch um beweglicher zu sein. Die meisten Betroffenen können sich mit zunehmenden Gewicht weniger bewegen. Auch können sie ihren beruflichen Pflichten immer schwerer nachkommen und die Aktivität im Alltag nimmt ab. Das wiederum führt zu einer fortschreitenden Isolation. Entwicklungen zur Prävalenz machen deutlich: „Auch wenn die Gesamtprävalenz derzeit auf hohem Niveau zu stagnieren scheint, scheint die Zahl der Jugendlichen und Erwachsenen mit extremer Adipositas (BMI ≥40 kg/m²) weiter zuzunehmen“ (Müller et al. 2012, S. 120). Was ist diesbezüglich nun zu tun? Ärzte, Verbände, Therapeuten und andere Beteiligte sehen einen deutlichen Handlungsbedarf und haben über die Jahre Konzepte zur Gewichtsreduktion entwickelt. Einige davon werden evaluiert und können förderliche Nachweise über die Wirksamkeit liefern. Das bedeutet, dass das Gewicht abnimmt. Inzwischen zeichnet sich immer deutlicher ab, dass sich die Menschen, die ihr Übergewicht oder gar die Adipositas erfolgreich bewältigen konnten, ihres Erfolges nicht sicher sein können. Nicht bei allen Betroffenen, jedoch doch bei vielen stieg das Gewicht abermals an. Es zeigt sich das Phänomen, dass auch Menschen, deren Magen durch eine operative Maßnahme verändert wurde, nach einiger Zeit wieder Gewicht aufgebaut haben. Wie kann es zu dieser Situation kommen? Haben die Betroffenen nicht ꞌgenug gelerntꞌ, haben sie zu wenig Disziplin oder nehmen sie gar die Situation nicht ernst? Für die vorliegende Arbeit wurde die Fachliteratur zum Thema der Adipositas und deren Behandlung bearbeitet. Es wird von einer Adipositastherapie gesprochen, da die Auswirkungen als krankhaft einzustufen und somit therapeutisch-medizinisch zu behandeln sind. Bei der Recherche der Fachliteratur zeigte sich, dass die Behandlung der Adipositas mit erreichter Gewichtsreduktion endet. In der vorliegenden Arbeit wird den Fragestellungen nachgegangen, was ein Gewichtsmanagement zur Gewichtserhaltung ausmacht; ob und wie das Gewichtsmanagement von den Betroffenen betrieben wird; ob das gewählte Abnehmverfahren Auswirkungen auf das Gewichtsmanagement hat und wenn ja, ob gesagt werden kann, welche Faktoren zu einem erfolgreichen Gewichtsmanagement führen und was als Erfolg bezeichnet werden kann? Herr Prof. Dr. Hauner (H. Hauner at al. 2007a, S. 18) äußerte bereits vor einigen Jahren: „Die Langzeitergebnisse von Gewichtsmanagementprogrammen hängen entscheidend vom langfristigen Betreuungskonzept ab.“ Doch bis dato hat auf diesem Gebiet kaum eine Weiterentwicklung stattgefunden. Dies wird von engagierten Fachkräften, die sich mit Adipositas auseinandersetzen, bestätigt. Dr. Winckler (Winckler, S. 106) schreibt in 2012 dazu: „Der zeitliche und inhaltliche Umfang der Nachsorge ist Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Trotz jahrzehntelanger Erfahrungen mit der Adipositaschirurgie existieren bisher keine einheitlichen Nachsorgestandards, so dass große Unterschiede von Zentrum zu Zentrum beobachtet werden können.“ Dr. Winckler beschreibt hier die entstehenden Adipositaszentren. Doch auch dort erhalten Betroffene keinerlei Begleitung oder Behandlung, nachdem sie ihr Gewicht reduziert haben. Sollte somit das Gewichtsmanagement nicht ein Teil der Adipositastherapie sein? Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der primären Adipositas. Die primäre Adipositas ist eine Form, die nicht durch Medikamente oder endokrine Auslöser entsteht. In Abb. 1 sind die Ursachen einer sekundären Adipositas aufgeführt, die anders behandelt und begleitet werden muss als eine primäre Adipositas.

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Abbildung 1: Sekundäre Ursachen der Adipositas (Weiner und Behnken 2010, S. 7)

Die Adipositas im Kinders- oder Jugendalter findet in dieser Arbeit hingegen keine Beachtung. Die Adipositas im Erwachsenenalter erfordert eine andere Herangehensweise als die Adipositas im Kinder- und Jugendalter. Während bei Kindern und Jugendlichen bereits ein präventiver Ansatz greifen kann, tritt die Prävention im Erwachsenenalter in den Hintergrund. In diesem Alter sind die Verhaltensweisen und Faktoren, die zu einer Adipositas führen, oftmals schon chronifiziert.

Neben der Auseinandersetzung und Diskussion zur aktuellen Therapielage der Adipositas wurden Betroffene auf Basis eines qualitativen Forschungsansatzes zu ihrem individuellen Gewichtsmanagement befragt. Die Auswertung der Befragung soll Aufschlüsse zu Ansatzmöglichkeiten und konzeptionelle Möglichkeiten in der Betreuung zur Gewichtserhaltung oder Stabilisierung geben.

2 Adipositas im Erwachsenenalter

„Der Begriff „Adipositas“ ist der medizinische Fachausdruck für erhebliches Übergewicht mit gesundheitlichen Risiken“ (Pudel 2009, S. 9). Dabei reicht die Angabe des Gewichtes allein nicht aus. Es gibt weitere Faktoren, an welchen eine Adipositas festgemacht werden kann. Dazu gehören die Größe, das Geschlecht sowie der Hüft- und Taillenumfang. Die Maßeinheit Kilogramm (kg) gibt noch keinen Aufschluss über den gesundheitlichen Zustand einer Person, da die Muskelmasse schwerer als die Fettmasse ist. Die Zahl auf der Waage differenziert nicht zwischen diesen beiden Faktoren. Aus diesem Grund müssen diese Einheiten in einen Zusammenhang gebracht werden, damit sie aussagekräftig sind. Nicht die Muskelmasse trägt den gesundheitlichen Risikofaktor in sich, sondern die im Körper vorhandene Fettmasse. Adipositas und Übergewicht sind für diverse Gewichtsbereiche einzusetzen. In der Begleitung und Therapie von Betroffenen ist es wichtig zu unterscheiden, ob ein Übergewicht oder doch eine Adipositas vorliegt. Um Übergewicht reduzieren zu können, bedarf es einen kürzen Zeitraum und einen weniger invasiven Einsatz. Je kürzer die Zeit der Gewichtsreduktion ausfällt, desto leichter ist es eine entsprechende Motivation aufrechtzuerhalten. Auch die bereits entstandenen Folgeerkrankungen, die mitbehandelt werden müssen, sind bei einer Adipositas wesentlich ausgeprägter als bei einem Übergewicht.

Das Thema ‘Körpergewicht’ kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Aus medizinischer Sicht liegt eine Adipositas vor, sobald der Fettanteil an der Gesamtkörpermasse kritisch erhöht ist. Als Grenzwerte gelten hier 25 Prozent Fettanteil bei Männern und 30 Prozent bei Frauen. Dabei ist es außerordentlich aufwendig und nicht umsetzbar, diesen Fettanteil im Alltag bestimmen zu können. Aus diesem Grund bedienen sich Fachleute weiterer Methoden, als die betroffene Person lediglich zu wiegen. Einige Methoden werden auch von den Betroffenen selbst angewendet. Diese alternativen Methoden haben gemeinsam, dass sich der Fettanteil ausschließlich schätzen lässt (vgl. Schmidt-Semisch und Schorb 2007, S. 57). Die bekannteste angewandte Formel ist der BMI (Body Mass Index). Dieser errechnet sich nach dem Körpergewicht in kg/ (Körpergröße in m)². Er gibt allerdings keine Auskunft darüber, ob sich die betreffende Person psychisch wohlfühlt, mit ihrem Aussehen zufrieden ist oder eine gesundheitliche Einschränkung aufweist. Seit Jahren wird in der Fachwelt und Öffentlichkeit darüber debattiert, welches Messverfahren als das effektivste in der Behandlung von Adipositas anzusehen ist. H.V. Ulmer (vgl. Ulmer 2005, S. 1213) diskutierte dies bereits 2005 im deutschen Ärzteblatt und weist darauf hin, dass essenzielle Aspekte im BMI nicht berücksichtigt werden. Dazu gehören der Körperbau, die Fettverteilung oder auch die Muskelmasse. Neben der BMI-Einteilung existieren noch weitere Definitionen, um das Körpergewicht einzuordnen. Dazu gehören z.B. der Broca-Index, die Messung der Hautfalte, das Idealgewicht und die Waist-to-hip-ration (Taille-Hüft-Umfang). Sowohl in der Praxis als auch in der Fachliteratur hat sich die Einheit BMI durchgesetzt. Der BMI bringt das Körpergewicht in einen Zusammenhang mit der Körpergröße. Anhand einer standardisierten BMI-Tabelle werden die Betroffenen eingeordnet und es wird beurteilt, ob ihr Gewicht als gesund zu werten ist oder ob hingegen ein Erkrankungsrisiko vorliegt. Dabei wird von den folgenden Werten ausgegangen:

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Tabelle 1: Klassifikation des BMI in Anlehnung an die WHO (1998) (Tuschen-Caffier et al. 2005, S. 26)

Die Adipositas wird somit in drei Schweregrade mit unterschiedlichen Risikogruppen eingeteilt. Die WHO definiert Adipositas wie folgt: „Bei Erwachsenen beginnt Übergewicht ab einem Körpermasseindex (BMI) =25kg/m². Von Adipositas wird bei einem BMI ≥30 kg/m² gesprochen, Erwachsene mit einem BMI von 25,0-29.9 werden als präadipös bezeichnet“ (Weltgesundheitsorganisation (Regionalbüro Europa) 2007, S. 1). Die WHO geht davon aus, dass das überhöhte Körpergewicht eines der schwerwiegendsten Probleme für die öffentliche Gesundheit im 21. Jahrhundert darstellt. In ihren Äußerungen geht sie so weit, dass es mit einer Epidemie gleichzusetzen ist, denn die Prävalenz in Bezug auf Adipositas hat sich seit den 1980er Jahren mindestens verdreifacht (vgl. Weltgesundheitsorganisation (Regionalbüro Europa) 2007, S. 1–7). In der aktuellen DEGS Studie des Robert Koch Institutes (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) wird deutlich, das nicht die Gesamtzahl an Betroffenen mit erhöhtem Gewicht steigt, sondern vielmehr die Anzahl an Menschen mit Adipositas zunimmt.

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Abbildung 2: Übergewicht und Adipositas (DEGS 1 Robert Koch Institut) (Mensink et al. 2012)

Bis dato besteht kein Konsens darüber, ob die Adipositas an sich als eine Erkrankung anzusehen ist oder ausschließlich die Folgen, die daraus entstehen, als erkrankungswürdig zu bezeichnen sind. Somit finden sich in der Literatur verschiedene Ansätze, wie diese Problematik zu verstehen und zu behandeln ist. Obwohl „Adipositas […] nach Kapitel IV des ICD-10 (endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten) eine Krankheit [ist] (E 66)“ (de Zwaan et al. 2007, S. A2577). Einige Vertreter gehen davon aus, dass die Adipositas als chronische Erkrankung anzusehen sei – darunter die DAG, welche davon ausgeht, dass Adipositas als chronische Krankheit mit eingeschränkter Lebensqualität und hohem Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko einzustufen sei. Nicht nur die DAG, sondern auch die WHO dokumentiert und vertreten diese Sichtweise und machten dies im Jahr 2000 vor allem in den Leitlinien deutlich (vgl. Deutsche Adipositas Gesellschaft 2007, S. 4). Denn „Chronische Krankheiten sind Erkrankungen, die länger als etwa 8-10 Wochen andauern, mit eher gedämpften Symptomen, jedoch nicht unheilbar sein müssen, obgleich die Heilung meist schwerer zu erreichen ist als bei akuten Erkrankungen“ (F.A. Brockhaus Mannheim 1987, S. 569). Bei der Betrachtung des angegebenen Zeitraums und der Beschreibung der Symptomatik innerhalb dieser Darstellung kann demzufolge festgehalten werden, dass Adipositas als chronisch zu bezeichnen ist. Die Diskussion darüber ist unter Fachleuten und Kostenträgern bisher noch nicht abgeschlossen. Zu hoffen lässt hingegen die Aussage, dass „Adipositas mit Krankheitsbezug […] kürzlich in die Liste von Krankheiten aufgenommen worden [ist], die im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich berücksichtigt werden“ (H. Hauner 2013, S. 149).

2.1 Entstehung der Adipositas

Wie kommt es nun dazu, dass ein Mensch einen BMI ≥30 kg/m² entwickelt? Es gibt mehrere Aspekte, die in Bezug zur Ätiologie der Adipositas genannt werden können. Es wird davon ausgegangen, dass die Ätiologie im Zusammenhang mit der Art der Ernährung steht. Viele unserer Lebensmittel weisen eine hohe Energiedichte auf. Infolgedessen beinhalten sie mehr Energie, als der Mensch tatsächlich benötigt. Auch wenn Lebensmittel nicht im Übermaß verzehrt werden, wird dennoch überschüssige Energie im Fettgewebe eingelagert. Zu den energiedichten Lebensmitteln gehören z.B. Softdrinks, Alkohol oder auch Säfte. Die Portionsgrößen stellen einen weiteren Aspekt dar. Je größer die Portion, desto größer ist auch die Gesamtenergie, die zu sich genommen wird. Eine fatale Wechselwirkung zeigt die Kombination von einer erhöhten Energieaufnahme zu einem geringen Energieverbrauch auf. Der Energieverbrauch setzt sich aus dem Grundumsatz, der Thermogenese und der körperlichen Aktivität zusammen. Der Grundumsatz und die Thermogenese sind am schlechtesten bis gar nicht beeinflussbar. Somit verbleibt lediglich der Bereich der körperlichen Aktivität, über die der Energieverbrauch gesteuert werden kann (vgl. Herpertz et al. 2008, S. 246–249). Letztendlich baut sich Gewicht auf, wenn eine positive Energiebilanz vorliegt. Werden demzufolge mehr kcal aufgenommen als verbraucht, kommt es zur Einlagerung von Energiereserven und schlussendlich zur Bildung von Fettmasse. Die gegenwärtigen Lebensumstände in den Industrieländern fördern diese Energiebilanz zusätzlich. Die meisten Wege werden inzwischen mit dem Auto bewältigt. Das Lebensmittelangebot ist vielfältig und hochkalorische Nahrung ist oftmals sehr preiswert. Viele Arbeitnehmer gehen einer sitzenden Tätigkeit nach. Moderne Spiele und Spielkonsolen fördern die Bewegungseinheiten am Tag ebenfalls nicht. Ebenso können Lebensmittel derweil im Internet bestellt und nach Hause geliefert werden. Die Notwendigkeit, das Haus verlassen zu müssen, um die gewohnten und notwendigen Aufgaben zu erledigen, reduziert sich immer mehr. Wären eine positive Energiebilanz und ein verminderter Verbrauch die einzigen Faktoren, die zu einer Adipositas führen, so würde sich die Behandlung und Begleitung der Betroffenen vermutlich leichter gestalten. Schneider, Wittig et al. machen anhand eines Schaubildes das komplexe Zusammenspiel der Einflussfaktoren und deren Auswirkungen deutlich:

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Abbildung 3: Adipositasmodell (Schneider K, Wittig F, Mertens E, Hoffmann I: Uebergewicht/Adipositas: komplexes Zusammenspiel von Einflussfaktoren und Auswirkungen 2009)

Blau hervorgehoben wurde in dieser Abbildung die Problemlage, in diesem Fall die Adipositas. In den gelben Feldern werden die Einflussfaktoren, die zu einer Adipositas führen können, aufgezeigt. Vergleicht man diese nun mit dem aktuellen Therapieangebot, wird deutlich, dass lediglich ein Teil der Faktoren berücksichtigt wird, manche gar nur marginal. Der gesellschaftliche Wandel, der sozioökonomische Status und die Thematik des Arbeitsmarktes finden in der Behandlung kaum Beachtung. Zahlreiche Ärzte und Therapeuten setzen sich unterdessen mit den komplexen Ursachen und Zusammenhängen der Adipositas auseinander. Sowohl die Regierung als auch die Kostenträger verhaften fortwährend in ihren alten Vorstellungen und Modellen. Auch das Thema der genetischen Disposition wurde lange Zeit außer Acht gelassen. Eine genetische Veranlagung passte nicht recht in das Bild, was die Gesellschaft von einer adipösen Person hatte und zum Teil noch anhaltend hat. Dieses Bild malt einen Betroffenen, der seinen Zustand allem Anschein nach selbst verschuldet hat. Die Personen werden als faul und träge charakterisiert. Sie seien intellektuell nur eingeschränkt in der Lage, Sachverhalte zu verstehen. Einen Nachweis zur genetischen Grundlage kann dieses Bild letztendlich nicht aufrechterhalten. Neueste Studien belegen jedoch, dass dieser Aspekt nicht vollständig von der Hand zu weisen ist. „Überraschend war das Ergebnis einer Adoptionsstudie in den 1980er Jahren in Dänemark, bei der gezeigt werden konnte, dass zwischen dem BMI der Adoptivlinge und dem BMI der Adoptiveltern kein Zusammenhang besteht, wohl aber mit dem BMI der leiblichen Eltern“ (Herpertz et al. 2008, S. 249). Somit kann gesagt werden. dass „eine Adipositas […] vererbt sein [kann]; die Wahrscheinlichkeit hierfür liegt bei 50-60%. […] Genetische Faktoren bilden oft die Basis für die Entwicklung einer Adipositas. Umweltfaktoren bestimmen ihre Ausprägung“ (Herpertz et al. 2008, S. 249–250). Somit kann die Entstehung der Adipositas nicht allein auf die Genetik zurückgeführt werden, sie kann jedoch auch nicht gänzlich vorgelassen werden. Die Autoren Herpertz et al. (Herpertz et al. 2008, S. 80) brachten es wie folgt auf den Punkt: „Neben dem großen Einfluss einer genetischen Prädisposition ist v.a. das kulturspezifische Überangebot kaloriendichter Nahrung in Verbindung mit Bewegungsmangel für die epidemische Gewichtszunahme verantwortlich.“ In der Abb. 2 wurde der komplexe Zusammenhang bereits aufgezeigt. Ergänzend beschreibt die verhaltenstherapeutische Modellvorstellung, dass davon ausgegangen werden muss, dass die Entstehung einer Essstörung und auch die Entstehung einer Adipositas multifaktorielle Ereignisse sind. Diese werden in prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren unterteilt (vgl. Herpertz et al. 2008, S. 54). Die „prädisponierende Faktoren lassen sich in vier Unterkategorien einteilen: 1. biologische, 2. soziokulturelle, 3. familiäre und 4. individuelle Faktoren“ (Herpertz et al. 2008, S. 54). Diese Faktoren finden sich auch im Schaubild von Schneider und Wittig wieder (Sozialisationsinstanzen, Sozioökonomischer Status usw.).

„Prädisponierende oder Vulnerabilitätsfaktoren sind zeitlich überdauernde persönliche Merkmale oder Umweltbedingungen […] [die] dadurch gekennzeichnet [sind], dass sie bereits vor dem Auftreten der Störung über längere Zeit bestanden und möglicherweise auch nach Krankheitsbeginn weiter wirksam sind“ (Herpertz et al. 2008, S. 54).

Die Art der Faktoren lässt allerdings keinen Rückschluss darauf zu, dass definitiv eine Person betroffen sein wird. Es zeigt lediglich ein erhöhtes Risiko. Neben den prädisponierenden Faktoren kommen zudem die biologischen Faktoren hinzu. Zu den biologischen Faktoren zählen die neurobiologischen Veränderungen sowie die genetischen, körperlichen und ernährungsphysiologischen Faktoren (vgl. Herpertz et al. 2008, S. 54–55). Nun könnte anhand der aufgezeigten Faktoren vermutet werden, dass die Adipositasproblematik lediglich Gegenstand der Neuzeit ist. Wenngleich sich die Problematik der Zunahme von Gewicht ab dem 18. Jahrhundert drastisch veränderte, so ist Adipositas kein junges Thema.

„Essverhalten und Körperformen werden beispielsweise durch ökonomische Bedingungen beeinflusst. So haben erst die Industrialisierung der Nahrungsproduktion und die Mechanisierung des Transportwesens im 18. und 19. Jahrhundert dazu geführt, dass die Versorgung mit Lebensmitteln für die Bevölkerung Europas sichergestellt war. Zudem reduzierten die Abnahme körperlicher Arbeit und wiederum die Mechanisierung des Transports im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die vom Einzelnen verausgabte Energie“ (Herpertz et al. 2008, S. 4).

Sowohl in mittelalterlichen Bildern als auch in den Epochen danach ist das Thema Adipositas innerhalb der Historie stets präsent. „Maßlosigkeit galt als Problem der Selbstkontrolle und Moral. Völlerei galt im Mittelalter bekanntermaßen als ein der sieben Todsünden“ (Herpertz et al. 2008, S. 5). Dieses Bild begegnet einem noch heute, wenn es darum geht, Menschen mit einer Adipositas zu behandeln und zu begleiten.

2.2 Diagnostik

Um eine Adipositas zu diagnostizieren, gehört dazu mehr als ausschließlich die Einschätzung über das äußere Erscheinungsbild. Neben dem BMI, welcher die Körperfettmasse berechnet, kann in der Diagnostik auch die Hautfaltenmessung vorgenommen werden. Dieses Verfahren wird schwerpunktmäßig bei Kindern oder in der Feldforschung eingesetzt. Anhand der konstatierten Maße kann mithilfe einer Tabelle die Körperfettmasse geschätzt werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Messung des Taillenumfanges. Hierbei wird die Höhe des viszeralen Fettes geschätzt. Dieses Fett sammelt sich im Bereich des Bauches an. Der Taillenumfang für ein Übergewicht liegt für Frauen bei ≥ 88 cm und für Männer bei ≥ 102 cm. Eine weitere Größe ist die Taille-Hüft-Relation (engl. Waist-to-hip-ratio). Dabei werden die Angaben von Taille und Hüfte in einem Zusammenhang gebracht und geben ebenfalls Hinweise auf das viszerale Fett. Bei Frauen wird ein WHR ≥ 0,85 und bei Männern ein WHR ≥ 1 als Übergewicht eingeordnet (der WHR berechnet sich wie folgt: Taillenumfang in cm / Hüftumfang in cm = WHR). Laura Winkelmann (Laura Winkelmann 2013, S. 5. Online im Internet unter: http://www.donau-uni.ac.at/imperia/md/content/department/evidenzbasierte_medizin/projekte/berichte/wth_bericht.pdf) beschreibt in einer Evidenzrecherche:

„Aus dem Vergleich der anthropometrischen Messmethoden Waist-to-height Ratio (WHtR), Body Mass Index (BMI), Bauchumfang (WC) und Waist-to-hip ratio (WHR) geht hervor, dass der BMI als Prädiktor für Hypertonie, Typ-II Diabetes, Dyslipidämie und allgemein kardiovaskuläre Erkrankungen (CVD) [betrifft Inzidenz- und /Mortalitätsrate der koronaren Herzkrankheit (KHK)- sowie erhöhtes KHK-Risiko] den anderen Methoden unterlegen ist.“

Auch wenn die Unterschiede nicht außerordentlich signifikant sind „[…] erweist sich die Waist-to-height Ratio als am besten dafür geeignet, gefährdete von nicht gefährdeten Personen zu unterscheiden […]“ (Laura Winkelmann 2013, S. 5. Online im Internet unter: http://www.donau-uni.ac.at/imperia/md/content/department/evidenzbasierte_medizin/projekte/berichte/wth_bericht.pdf). Diese Ergebnisse spiegeln sich jedoch nicht in der aktuellen Fachliteratur wider. Nur in wenigen Artikeln wird auf den WHR hingewiesen. Die Adipositas kann ebenfalls mithilfe einer technischen Diagnostik erfolgen. Hierzu zählt auch die BIA-Methode (Bioelektrische Impedanzanalyse). Durch Zuhilfenahme von Wechselstrom wird der Wechselstromwiderstand im Körper gemessen. Mit dieser Methode erhält man Hinweise auf das Verhältnis der fettfreien Masse zur Fettmasse im Körper. Mit der DEXA-Methode können dagegen mithilfe von Strahlenmessung die regionalen Fettgehalte im Körper ermittelt werden. Mit der Dichtemessung wird durch Wasser oder Luft eine Druck- und Volumenänderung gemessen, welche Aufschluss über die Körperfettmasse gibt. Mithilfe der fortgeschrittenen Computertomografie kann das Fett im Körper abgebildet werden. Neben der Messung des Gewichtes und des Körperfettes kann auch das Ganzkörperwasser oder Ganzkörperkalium gemessen werden (vgl. Herpertz et al. 2008, S. 251–252). Neben diesen zahlreichen Messmitteln und Wegen ist bei der Diagnostik ebenso die Familienanamnese wichtig. Diesbezüglich könnten sich Hinweise auf genetische Zusammenhänge ergeben. Die Medikamentenanamnese gibt Aufschluss darüber, ob es sich um eine Primär- oder Sekundäradipositas handelt. Auch Fragebögen können bei der Diagnostik weitere Hinweise liefern (vgl. Wirth 1998, S. 9–18). Bei der Diagnostik können aber auch weitere Erkrankungen ausgeschlossen werden. Dazu zählen auch etwaige Essstörungen. Einige Essstörungen können vom äußeren Bild her wie eine Adipositas wirken, haben jedoch eine andere Grunderkrankung. Um Essstörungen diagnostizieren zu können, wurden diverse Fragebögen entwickelt. Die meisten dieser beziehen sich auf Anorexie oder Bulimie und sind für den Einsatz zur Datenerhebung bei Adipositas nicht effizient einsetzbar. Zu den bestehenden Fragebogenverfahren gehören der EDE (Eating Disorder Examination nach Fairburn & Coper, 1993), der SIAB-EX (Strukturiertes Inventar für anorektische und bulimische Essstörungen zur Expertenbeurteilung nach Fichter & Quadflieg, 1999), der EAT (Eating Attitudes Test nach Garner & Garfinkel, 1979) oder auch der ANIS (Anorexia-Nervosa-Inventar zur Selbstbeurteilung nach Fichter & Keeser, 19080). Der DEBQ (Dutch Eating Behavior Questionnaire nach Strien, Frijters, Bergers & Defares, 1986) wurde ursprünglich entwickelt, um das Essverhalten bei Adipositas zu charakterisieren. Allerdings wird es bisher primär bei Bulimia Nervosa eingesetzt (vgl. Tuschen-Caffier et al. 2005, S. 47–51).

2.3 Abgrenzung zu Essstörungen

Es gibt weitere Erkrankungsbilder, die mit dem Erscheinungsbild einer Adipositas einhergehen. Menschen mit einer Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung können sowohl normalgewichtig, übergewichtig oder auch adipös sein. Allerdings bewegt sich die Mehrheit der Betroffenen vermehrt im normalgewichtigen Bereich. Das ist oftmals der Grund, warum diese Art der Erkrankung so spät erkannt wird. Anders verhält es sich bei einer Adipositas, die mit einer starken optischen Veränderung einhergeht. Im ICD-10 wird die Bulimie auch als Bulimia nervosa bezeichnet.

„Neben impulsiven Heißhungeranfällen, die im nachhinein als ich fremd und ungewollt erlebt werden, zeichnet sich durch die Sorge aus, als Folge der Heißhungeranfälle übergewichtig zu werden, sowie durch das Praktizieren von Gegenmaßnahmen wie selbst induziertem Erbrechen, Abusus von Laxanzien, Appetitzüglern bzw. Diuretika und schließlich - mitunter exzessive - körperliche Ertüchtigung“ (Herpertz et al. 2008, S. 6).

Diese Form der Heißhungeranfälle und vor allem das Praktizieren der Gegenmaßnahmen sind bei einer reinen Adipositas in der Form nicht zu finden. In der nachfolgenden Tabelle werden der Vergleich sowie die Unterscheidungskriterien im Bereich der Essstörungen zusammengefasst.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Definitionskriterien für Diagnosen (Herpertz et al. 2008, S. 8)

Dabei wird abermals deutlich, dass die Adipositas in der Diagnostik stark am Körpergewicht ausgerichtet ist. In der Diagnostik wird die Adipositas nicht den Essstörungen zugeordnet, wobei

„Vorgeschlagen wurde […], auch die Adipositas als psychische Störung anzusehen und sie als Impulskontrollstörung ähnlich der Drogenabhängigkeit zu kategorisieren mit der Begründung, dass sie wesentlich auf die mangelnde Kontrolle der Nahrungsaufnahme zurückzuführen sei und zugleich ein wesentliches psychisches und gesundheitliches Problem darstelle“ (Herpertz et al. 2008, S. 8).

Für die Kostenübernahme einer ganzheitlichen Adipositastherapie wäre es zuträglich dass die Adipositas eine Anerkennung als psychische Störung erhalten würde. Dies wird daran scheitern, dass die Adipositas zu wenige rein spezifische psychische Anteile aufweist. Wie in der Abb. 2 (Kapitel 2) bereits dargelegt wurde, gibt es zahlreiche Faktoren, die letztendlich zu einer Adipositas führen.

2.4 Folgen für die Betroffenen

Die Folgen für die von Adipositas betroffenen Menschen sind sehr unterschiedlich. Nicht jeder Betroffene entwickelt die Krankheitsform Diabetes oder hat orthopädische Probleme. Doch das Risiko, dass krankhafte Veränderungen entstehen, erhöht sich analog zum Anstieg des Gewichtes. „Während die negativen körperlichen Langzeitfolgen der Adipositas oft erst nach einer Krankheitsdauer von 10-20 Jahren einsetzt, setzt die psychische Ausgrenzung und Stigmatisierung aber bereits mit dem Auftreten ein“ (Herpertz et al. 2008, S. 80)! Viele Betroffene suchen sich erst dann Hilfe, wenn die körperlichen Langzeitfolgen eintreten. Zu diesen körperlichen Folgeschäden gehören Bluthochdruck, koronare Herzerkrankungen, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus Typ 2, Schlafapnoe, das Pickwick-Syndrom, Refluxstörungen, Fettleber, Arthrosen verschiedenster Art, erhöhtes Krebsrisiko oder auch Störungen der Sexualität (vgl. Wirth 1998, S. 22). Die psychische Ausgrenzung und Stigmatisierung wird von den Betroffenen lange Zeit als gegeben hingenommen. „Das Merkmal Übergewicht steht in einem Bedeutungskontext mit Merkmalen wie träge, faul, haltlos, undiszipliniert und dumm“ (Herpertz et al. 2008, S. 80). Das führt wiederum zu einer steigenden Isolierung und Destabilisierung. „Sozialpsychologische Experimente zeigen, dass Übergewichtige in unseren westlich geprägten Kulturen z.B. weniger verdienen, seltener einen Arbeitsplatz erhalten, seltener als Mieter akzeptiert werden und höhere Gefängnisstrafen erhalten“ (Herpertz et al. 2008, S. 80). Die negativen Auswirkungen machen sich in sämtlichen Lebensbereichen bemerkbar: ob es nun die privaten Beziehungen betrifft, das Erwerbsleben, den privat-öffentlichen Lebensbereich, die Inanspruchnahme von ärztlichen Angeboten oder auch die psychische Gesundheit. In Beziehungen ist es für die Betroffenen schwierig, einen Partner zu finden. Übergewichtige werden meist als unattraktiv, träge und faul eingeordnet. Der potenzielle Partner schätzt den Adipösen oftmals so ein, dass er nicht in der Lage ist, sein Leben aktiv zu gestalten. Dabei werden die Betroffenen nicht zur von ihrer Umwelt abgewertet, sondern sie werten sich auch selbst ab und fühlen sich noch minderwertiger. Hilbert et al. (Hilbert et al. 2013, S. 151) beschreiben diesen Vorgang wie folgt:

„Menschen mit Adipositas haben oftmals die Tendenz, negative gewichtsbezogene Stereotypen für sich anzunehmen und sich selbst abzuwerten. Das Selbststigma geht in Querschnittstudien deutlich mit depressiven Symptomen, Ängsten, geringem Selbstwert, Essstörungspsychopathologie, sozialen und Verhaltensproblemen und einer verringerten Lebensqualität einher.“

Das macht die Begleitung, Behandlung und Stabilisierung von Betroffenen noch komplexer. Es gleicht einem Kreislauf, aus dem der Ausweg nur schwer möglich zu sein scheint. Je größer das Gewicht, desto weniger sind die Betroffenen in der Lage, sich zu bewegen oder an Aktivitäten teilzunehmen. Das führt zu einer weiteren Isolierung. Diese Isolierung resultiert in eine weitere Nahrungsaufnahme und so nimmt der Kreislauf seinen verhängnisvollen Weg.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Zusammenhang zwischen Adipositas und Stigmatisierungskreislauf

Erschreckend ist, dass „die gesellschaftliche Benachteiligung von Übergewichtigen […] ein Ausmaß [erreicht hat], wie es sonst politisch bei keiner anderen Gruppe geduldet wäre“ (Cuntz und Hillert 2008, S. 120). Eine Umfrage aus den 1990er Jahren ergab, dass vor allem beteiligte Frauen im Bereich bezüglich der Erfüllung von Rollenfunktionen und der sozialen Funktionsfähigkeit eine erhebliche Einbuße an Lebensqualität erfuhren.

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Abbildung 6: Lebensqualität und Körpergewicht. Eine repräsentative Umfrage bei 1.932 Frauen (Schneider et a. 1998 zit.n. Wirth 1998, S. 25)

Höhere Werte erzielten hingegen das allgemeine Gesundheitsempfinden und die Vitalität. Adipöse Menschen haben keine freie Berufswahl, denn „in Deutschland wird eine Verbeamtung schon ab einem Übergewicht von 30% eher abgelehnt; bei noch ausgeprägterem Übergewicht wird sie fast unmöglich“ (Cuntz und Hillert 2008, S. 120). Hier ist nicht das Ausmaß der Folgeerkrankung, sondern die Höhe des BMI ausschlaggebend. Auch wenn es möglich ist, aktiv gegen die Erkrankung vorzugehen, sind den Betroffenen bestimmte Grenzen gesetzt. Oftmals scheitert das Vorhaben bereits an der Finanzierung, womit sich erneut sich ein Kreislauf aufbaut. Adipöse Menschen erhalten nicht selten einen Arbeitsplatz mit geringerem Verdienst sowie entsprechend geringerer Verantwortung. Damit wird die Bezahlung einer Therapie für die Betroffenen zusätzlich erschwert. Bis heute gibt es keinerlei Rechtsanspruch auf die Finanzierung einer Adipositastherapie. Auf dem letzten VDD Kongress in 2013 berichtet die VDD-Präsidentin Doris Steinkamp (vgl. Doris Steinkamp 2013. Online im Internet unter: http://www.vdd.de/index.php?id=71&tx_ttnews[tt_news] =495&tx_ttnews[back Pid]=3&cHash=e3e8d6e25e262f2b8f05011522a66d81. (Stand: 19.10.2013)), dass die Situation für Menschen, welche von Adipositas betroffen sind, nach wie vor gesetzlich nicht einheitlich geregelt ist. Die Betroffenen sind auf Einzelfallentscheidungen der Kostenträger angewiesen und müssen oftmals für eine seriöse Therapie kämpfen. Auch nach der Gewichtsreduktion ergibt sich kein Anspruch auf eine Nachbetreuung, obwohl in den Fachkreisen offen von einer chronischen und nicht heilbaren Erkrankung gesprochen wird. Frau Steinkamp appelliert an die Gesetzgeber, diesen Zustand zu ändern, denn die aktuelle Situation impliziert zugleich eine Diskriminierung der adipösen Menschen.

2.5 Folgen für das Gesundheitssystem

Nicht nur die Auseinandersetzung auf der Ebene der Betroffenen hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Auch die Diskussion in der Politik und im Gesundheitssystem nimmt zu, zumal sich die Kostenträger den Auswirkungen der Erkrankung nicht weiter verschließen können. Um den Folgen der zunehmend größer werdenden Anzahl von adipösen Menschen zumindest ansatzweise entgegenwirken zu können, wurden ernährungspolitische Maßnahmen gegen Übergewicht und Fehlernährung ins Leben gerufen. Über 100 Projekte sind in dem Aktionsplan IN FORM zusammengefasst (vgl. https://www.in-form.de/buergerportal/in-form-die-initiative.html (Stand: 10.01.2014). IN FORM hat eine Laufzeit bis in das Jahr 2020. Bisher ist die Wirksamkeit noch nicht sichtbar. Ein Zwischenbericht soll 2014 vorgelegt werden. Für den Aktionsplan sind 30 Millionen Euro vorgesehen. Eine genaue Datenlage, wie hoch sich die Folgekosten aufgrund der Adipositas belaufen, liegt nicht vor (vgl. Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und Bundesministerium für Gesundheit 2013. Online im Internet unter: http://www.in-form.de/. (Stand: 08.10.2013)). Es existiert eine grobe Schätzung, die besagt „[…] dass etwa 5 bis 8% aller Kosten, die Deutschland im Gesundheitswesen anfallen, auf die Fettsucht und ihre Folgeerkrankungen zurückzuführen sind“ (Cuntz und Hillert 2008, S. 112). Die Problematik besteht darin, dass sich nicht jede Adipositas gleich schädigend auswirkt. So soll „mit Hilfe von Annahmen, Vergleichen und Hochrechnungen […] am Ende […] nachvollziehbare und diskutierbare Ergebnisse geliefert werden“ (Knoll, K. -P und Hauner 2008, S. 204). Diese Aussage bezieht sich auf eine publizierte gesundheitsökonomische Analyse aus 2008, in der „[…] [die] Kosten von Übergewicht/Adipositas aus der Region Augsburg […] gezeigt hat, dass adipöse Personen rund 70 Prozent und stark adipöse (BMI ≥ 35) sogar um das Dreifache höhere Kosten erzeugen als Normalgewichtige“ (Knoll, K. -P und Hauner 2008, S. 204). Die Kosten, welche diesbezüglich gemeint sind, werden in direkte und indirekte Kosten differenziert. Zu den direkten Kosten zählen Ausgaben, die sich auf die Verordnung von Medikamenten und Behandlungskosten beziehen. Diese werden in der Regel an den Folgeerkrankungen festgemacht. Hier würde beispielsweise die Behandlung einer Diabeteserkrankung aufgeführt werden. Die indirekten Kosten beziehen sich hingegen auf die Konsequenzen der Erkrankung. Aufgeführt werden die Ausgaben, welche unter dem Punkt Humankapital fallen. Dieser Punkt unterstellt, dass durch den Ausfall eines von Adipositas betroffenen Patienten aus dem Erwerbsleben ein gesamtwirtschaftlicher Schaden eintritt (Knoll, K. -P und Hauner 2008, S. 205). Herr Hauner kommt – wie auch die VDD-Präsidentin Steinkamp – zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Er (vgl. H. Hauner 2013, S. 148) berichtet, dass nach wie vor im bundesdeutschen Gesundheitssystem die Versorgung von Menschen, die von einer Adipositas betroffen sind, als unzureichend und unbefriedigend einzustufen ist. Die Kostenübernahme einer Behandlung erfolgt oftmals durch eine Einzelfallentscheidung. Die Betroffenen müssen dafür aufwendige Antragsverfahren durchstehen. Wird ein Antrag bewilligt, ist die Laufzeit der Kostenübernahme häufig kurz. Im Gegensatz dazu werden kostspielige Behandlungen von Folgeerkrankungen ohne Probleme von den Kostenträgern erstattet. Eine Behandlung der primären Ursache Adipositas erfolgt dabei im Regelfall nicht. So bleibt unklar, wie einerseits die Kosten erhoben und andererseits die Mittel verteilt werden. Die Behandlung von Adipositas sollte transparent und effektiv sein. Auch Prof. Rolf Holle (vgl. Prof. Rolf Holle 2012, S. A1) ist dieser Meinung und stellt ähnliche Forderungen auf. Folgt man einer aktuellen Übersicht zu über 30 internationalen Studien, so belaufen sich die direkten Kosten der Adipositas in den untersuchten Ländern auf 0,7 bis 2,8 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben. Verschiedene deutsche Studien kommen zu Schätzungen von etwa zehn Milliarden Euro adipositasbedingter Kosten pro Jahr. Doch zeigt sich hier ebenso, dass sich lediglich ein geringer Teil der Kosten auf die direkte Behandlung der Adipositas bezieht und der größte Anteil auf die Behandlung der Folgeerkrankungen zurückzuführen ist. Verwunderlich ist dieses Ergebnis nicht, da die meisten der angebotenen Module zur Gewichtsreduzierung von den Betroffenen selbst gezahlt werden müssen.

3 Therapiekonzepte bei Adipositas

In den letzten Kapiteln wurde deutlich, dass Adipositas ein stärker werdendes Problem darstellt – nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für das deutsche Gesundheitssystem. Da es sich nicht nur um ein ästhetisches Problem handelt, sondern diesbezüglich ein Zustand mit Krankheitswert vorliegt, wird in der Begleitung von adipösen Menschen von einer Therapie gesprochen. Solch eine Therapie sollte einheitlichen Standards folgen, damit für die Betroffenen sichergestellt werden kann, dass sie eine qualitativ gute und wirkende Therapie erhalten werden. Aus diesem Grund beschäftigen sich verschiedene Verbände und Gesellschaften seit Jahren mit dem Phänomen und den Auswirkungen der Adipositas. In der Fachwelt und in politischen Diskussionen treten vor allem der BDEM (Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner), die DAG (Deutsche Adipositas Gesellschaft), die DAEM (Deutsche Akademie für Ernährungsmedizin) und die DGEM (Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin) auf. Im Zuge der Zunahme an operativen und chirurgischen Angeboten zur Behandlung haben sich in den letzten Jahren 'zertifizierte Adipositaszentren' gebildet. Der BDEM hat in Zusammenarbeit mit diesen Zentren einen Leitfaden entwickelt, wie ein Patient durch das Therapiesystem zu führen ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7: Behandlungspfad ERNÄHRUNGSMEDIZIN zur Adipositastherapie (Schilling-Maßmann und Winkler) Adipositasforschung

In diesem Behandlungspfad wird deutlich, wie viele verschiedene Professionen im Behandlungsverlauf involviert sind bzw. sein sollten. Das von den Krankenkassen geforderte multimodale Konzept ist hier ebenfalls aufgeführt. Es befindet sich auf der rechten Seite der Therapieebene unter dem Punkt der konservativen Therapie. Der multimodale Therapieansatz beinhaltet die Bausteine der Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Verhaltenstherapie. Die Kostenübernahme eine Verhaltenstherapie muss bei der Krankenkasse beantragt werden; in der Regel werden dafür die Kosten übernommen. Anders verhält es sich bei der Ernährungs- und Bewegungstherapie, hier fallen für die Betroffenen zum Teil nicht unerhebliche Kosten an, die gar nicht oder lediglich gering anteilig von den Kostenträgern übernommen werden. Im Bereich der Ernährung muss unterschieden werden, ob es sich um eine Maßnahme nach § 43 SGB V oder um § 20 SGB V handelt. Im § 43 ist die Ernährungstherapie verankert. Um eine Bezuschussung zu erhalten, ist eine ärztliche Verordnung Voraussetzung. Mit dieser Verordnung kann der Betroffene einen Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse stellen. Die Ernährungstherapie ist keine Regelleistung und somit fallen die Bezuschussungen sehr unterschiedlich aus. Sie liegen oftmals zwischen 60 und 80 Prozent der anfallenden Kosten. Der § 20 SGB V regelt die Präventionsangebote. Hier benötigt der Betroffene keine ärztliche Verordnung, vielmehr handelt es sich hierbei um eine Ernährungsberatung. Eine Bescheinigung über die regelmäßige Teilnahme des Kurses ermöglicht es den Betroffenen, eine Kostenrückerstattung von erfahrungsgemäß 80 Prozent zu erhalten. Die Schwierigkeit die Kosten von einem Kostenträger erstattet zu bekommen, ganz gleich, für welchen Weg sich der Betroffene entscheidet, ist ein schwieriges Unterfangen. Denn „die Adipositas im Allgemeinen und die Adipositas Grad III im Besonderen werden in der deutschen Rechtssprechung nicht als behandlungspflichtige Erkrankungen angesehen. In Deutschland ist die Adipositaschirurgie eine Wahlleistung, die die Krankenkassen auf Antrag gewähren können“ (de Zwaan et al. 2007, S. A2578).

3.1 Leitlinien

Um ein evidenzbasiertes Behandlungskonzept voranzubringen, wurden Leitlinien entwickelt. Die Leitlinien sollen nicht nur Ärzten und Therapeuten helfen, ihr Angebot mit wirksamen Inhalten zu gestalten, sondern auch für die Kostenträger eine Entscheidungsbasis darstellen. Die DAG hat diese Leitlinien in Zusammenarbeit mit weiteren Fachverbänden, mit klinisch erfahrenen Experten und Vertretern von Betroffenenverbänden (Selbsthilfegruppen oder Organisationen) entwickelt. Es wurden Leitlinien zur Diagnostik, Prävention und Therapie bei Kinder und Jugendlichen, zur Adipositastherapie in Rehakliniken, zur Chirurgie der Adipositas sowie zur Prävention und Therapie der Adipositas entwickelt. „Leitlinien sind systematisch entwickelte Empfehlungen, die Entscheidungen von Therapeuten und Patienten über eine im Einzelfall angemessene gesundheitliche Versorgung ermöglichen sollen“ (H. Hauner at al. 2007b, S. 4). Diese Leitlinien haben zum Ziel,

[...]

Fin de l'extrait de 104 pages

Résumé des informations

Titre
Gewichtsmanagement in der Adipositastherapie
Université
Friedensau Adventist University
Note
1,8
Auteur
Année
2014
Pages
104
N° de catalogue
V272069
ISBN (ebook)
9783656632054
ISBN (Livre)
9783656632047
Taille d'un fichier
4737 KB
Langue
allemand
Mots clés
gewichtsmanagement, adipositastherapie
Citation du texte
Dipl.Soz. Katja Schreyer (Auteur), 2014, Gewichtsmanagement in der Adipositastherapie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272069

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