Über den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus


Scientific Essay, 2014

128 Pages


Excerpt


WIRKLICHKEIT UND IDEOLOGIE

Die Konstellation der wissenschaftlichen Erkenntnis als eine der Reziprozität zwischen Erkenntnisgegenstand und ihn abbildendes Erkenntnissubjekt erfährt wissenschaftsgeschichtlich eine Neubegründung durch Descartes, der das aus der Antike stammende passiv-hinnehmende Vernehmen der ewigen kosmischen Ordnung aufbrach, insofern die Körperwelt in "res cogitans" (denkender Körper) und "res extensa" (ausgedehnter Körper) unterschieden wurde. Es liegt auf der Hand, daß sich die wissenschaftliche Erkenntnistheorie fortan um die Frage der Identität in dieser neuen Konstellation bewegte. Ohne Identität wären wahre und unwahre Aussagen nicht zu unterscheiden.

Daß diese Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand wissenschaftlich, also die wissenschaftliche Wahrheit sei, wurde von den verschiedenen philosophischen Schulen mehr oder weniger postuliert, aber natürlich nur assertorisch, daher der Streit unter den Schulen. Der Marxismus allein behauptet, dass nur durch die revolutionäre Weltveränderung die richtige Übereinstimmungserkenntnis von Subjekt und Objekt herzustellen sei und dass nur durch die revolutionäre Praxis die Fetischverblendung der bürgerlichen Gesellschaft entschleiert werden kann, zugleich gibt diese revolutionäre Veränderung die Begründung, daß außer dem bewußten Vortrupp der revolutionären Arbeiterklasse als Kampfpartei alle anderen Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft ideologisch befangen sind und ein notwendig falsches Bewußtsein haben. Die richtige Widerspiegelung der Wirklichkeit wird um so brüchiger, je mehr sie sich unweigerlich in der bürgerlichen Ideologie verstricken, die sie in einem Scheinzusammenhang intellektuell entmündigt. Ideologie gibt den Zusammenhang der Wirklichkeit völlig falsch wieder, in ihr ist der Ausbeuter ArbeitGEBER und der Ausgebeutete ArbeitNEHMER. Ohne ständige Präsenz der Dialektik der proletarischen Revolution kann die widersprüchliche Wirklichkeit der kapitalistischen Produktion und ihr Überbau nicht richtig widergespiegelt werden. Ideologie mißbraucht die Generalbegriffe der Sprache, damit es keine Widersprüche gäbe. Es gibt keine reine Gesellschaft, sondern nur bestimmte Klassen, es gibt keine reine Politik, sondern nur Klassenpolitik. „Es ist vor allem zu vermeiden, die „Gesellschaft“ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren“. 1.) Das Individuum ist vielmehr ein besonderes und allgemeines Individuum. Die Gesellschaft ist bei und in jedem Individuum, als empfundene oder als gedachte. Der Studiosus in seinem stillen Kämmerlein schreibt gesellschaftlich. „Denken und Sein sind … zwar unterschieden, aber zugleich in Einheit miteinander“. 2.) Der Schein resultiert aus der Absolutsetzung der Generalbegriffe, die zum Fetisch werden, unter dem die vom Kapital ausgebeuteten Menschen ihre Unterdrückung im Kopf noch einmal akzeptieren. Aus der von den bürgerlichen Ideologen betriebenen Lostrennung vom Konkreten entwickelt sich durch die Absolutsetzung der Generalbegriffe eine Scheinwelt. Wie der Kapitalist eine Schlüsselstellung in der Ökonomie einnehmen muss, so hetzt sein Ideologe, Generalbegriffe einzunehmen, um diese gegennominalistisch zu entleeren. Die Klassenkampfgeschichte hat sich einen Aberwitz erlaubt, die bürgerlichen Soziologen verwenden den Begriff „Gesellschaft“ so, als ob wir bereits in einer kommunistisch-klassenleeren leben würden. Zwar ist die Gesellschaft zunächst das Produkt des wechselseitigen Handelns der Individuen, aber sie ist nicht ein Verhältnis Individuum zu Individuum, nur als dieses abstrakte ist der zentrale Klassenkonflikt zwischen Lohnarbeiter und Kapitalist, auf den sich alle anderen Konflikte beziehen, ausgeblendet. Für Bacon ist ein Ergebnis seiner Idolenlehre die Einsicht, dass das menschliche Denken die Tendenz habe, Fließendes als ruhend zu erfassen. Seine Lehre ist noch heute durchaus erhellend für die Ideologielehre. Der „tiers état“, der einst im Namen der Gesellschaft auftrat und – wie der junge Marx darlegte - deren „sozialer Kopf und deren soziales Herz“ 3.) war, machte und macht sich selbst zu dieser, obwohl die Pariser Commune gezeigt hatte, „dass der heutige Bourgeois sich für den rechtmäßigen Nachfolger des ehemaligen Feudalherren ansieht“. 4.) Das ist eben Ideologie: der Klassencharakter hat sich in sein Gegenteil verkehrt, aber der Allgemeinheitsanspruch gilt vor wie nach. So kam es, dass Durkheim die Gesellschaft in ein abstraktes Wesen ideologisierte. Die Ideologie behauptet die Gleichheit derer, die in der Gesellschaft ungleich sind. Die behauptete Allgemeinheit ist theoretisch, der reale Ungleichheitszusammenhang praktisch. Prägnant hat Lenin das an der Todesstrafe dargelegt, sie sei abzulehnen, wenn sie der Aufrechterhaltung des Geldsystems diene, sie sei zu befürworten gegen Hardcoreausbeuter. Ideologisches Denken weist immer einen gestörten Praxisbezug auf, indem es Partielles als Allgemeines ausgibt. Sowohl das dialektische Denken als auch das ideologische beanspruchen, die Zusammenhänge richtig zu denken, das dialektische arbeitet nicht mit der Abstraktion „Gesellschaft“, sondern fragt nach den wechselseitigen Beziehungen unter den Klassen, welche von ihnen ist die dominierende, damit eine partielle, und sie prägende, damit eine allgemeine ? Arbeitet man dagegen mit der Abstraktion, dann ist alles so gradlinig wie in der naiven Malerei, deren Glück darin besteht, nicht das Verhältnis der Kreativität zu ihren Erzeugnissen im Schöpfungsakt theoretisch miteinzubeziehen und die damit Kunst ohne Todestrieb betreibt. Dem materialistischen Dialektiker, der sich das Tun der Menschen aus ihren Bedürfnissen, nicht aus ihrem Denken erklärt, ist der Impetus des Todes in seinem Denken bewußt. Denken tötet, wenn es die Kontinuität der Weltbewegung, die gegenseitig (und also widersprüchlich) in sich ist, abbildet, es unterbricht die Kontinuität. 5.) Wer denkt stirbt. Ich denke, also sterbe ich. Aus der Zusammenarbeit von Kapitalist und Ideolog ergibt sich, dass die Menschen sterben, ohne gelebt zu haben, der kapitalistische Produktionsprozess verstümmelt den Arbeiter in einen Teilmenschen und verwandelt dessen Lebenszeit endgültig in Arbeitszeit. Wir werden heute mit Informationen überfüttert, die uns ideologisieren noch und noch. Angesichts der Monopolisierung der Massenmedien durch das Kapital ist eine Vernachlässigung des ideologischen Klassenkampfes völlig unangebracht. „Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Kopf hindurch...“ 6.) Allerdings – der proletarische Sklave, der sein Joch abwerfen will, muß der alltäglichen gräßlichen Wirklichkeit, die Hollywood mit Zuckerpampe übergießt, ins Angesicht schauen, eine Flucht in den Drogenkonsum käme einer Verdopplung seiner bereits vorliegenden ideologischen Versklavung gleich. Ein Gewinn aus den Niederlagen des Proletariats war dessen Desillusionierung. Marxisten gibt es wie Sand am Meer, aber nur wenige von ihnen verstehen es, den Klassenkampf gegen die Kapitalisten mit der Weiterentwicklung des Marxismus zu verbinden. Ohne kommunistische Partei als Kampfstab kann man nicht die bürgerlichen Klassen und ihr konterrevolutionäres Bewußtsein liquidieren. In den Streit der bürgerlichen Politparteien untereinander und gegen die KP sind die verschiedenen philosophischen Schulen involviert. Die Existenz verschiedener Schulen drückt den widersprüchlichen Charakter der Gesellschaft aus, in einer widersprüchlichen Gesellschaft geraten die Theoretiker in Widerspruch zu ihren eigenen Theorien und verschiedene Schulen bilden sich in den sogenannten wissenschaftlichen Disziplinen aus.

Der entscheidende Ausbruch aus der inzestuösen Reflexivität der Wissenschaft in ihrer immanenten Verharrung gelingt in den Feuerbachthesen. Diese stellen insofern ein einzigartiges Dokument der Revolution der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte dar, als Marx die wissenschaftliche Tätigkeit im Materialismus nicht nur mit der revolutionären Tätigkeit verbindet, sondern jene dieser subordiniert. Die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. Revolutionäre Praxis bringt dann Forschersubjekt und Forschungsobjekt in eine stimmige Widerspiegelungsrelation, wenn die Welt: „Natur Geschichte Gesellschaft Denken“ ein Komplex von Prozessen ist. Welt als Komplex fertiger Dinge erübrigt revolutionäre Praxis. Weltinterpretation als Prozeß treibt hingegen über sich selbst als bloß Interpretatorisches hinaus, so wie schon Fichte und Moses Hess forderten, dass die Philosophie zur Tat fortschreiten müsse. Wenn das Wesen essentieller Welterfassung, primär das der Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft, nicht interpretativ zu decodieren ist, so ist damit das Primat der Philosophie zur Welterklärung gebrochen. Es geht primär nicht um eine Erklärung des Sinns des Universums im religiös-philosophischen Sinn, sondern um die Gründung einer neuen Gesellschaft, einer mit allen Konsequenzen aus der kapitalistischen herkommenden sozialistischen, deren Schlüssel nicht in der Philosophie, die wichtig war im Kampf gegen den Feudalismus, sondern in der Ökonomie liegt. Erkenntnis gesellschaftlicher Bewegungsgesetze ist auf diese verwiesen und Marx verlegte den Schwerpunkt seiner Forschungen auf sie im Kontext seiner spezifischen Basis-Überbau-Dialektik. Aus der wechselseitigen Durchleuchtung von Basis und Überbau ergab sich nicht nur die Klarheit auf dem Gebiet der Politik und der Geschichte über sich widersprüchlich zueinander verhaltender Klassen im Überbau, sondern in der Relation zwischen Basis und Überbau wurden auch die Gewichte richtig taxiert: es besteht kein einseitiges Ableitungsverhältnis, sondern der Überbau wirkt auch auf die ihn inaugurierende Basis zurück. Basis und Überbau sind zwei ungleiche Kräfte, in der dialektischen Lehre vom Widerspruch gibt es keine eineiigen Zwillinge. Die Ausdehnung des dialektischen Materialismus auf die Gebiete der Geschichte und der Gesellschaft ermöglichte nicht nur, diese im Gegensatz zu Proudhon epochal-systematisch zu denken und nach den objektiven Triebkräften der subjektiven Triebkräfte (ideelle Motive) zu fragen, sondern revolutionierte auch die Geschichtswissenschaft insofern, als die bisherigen politischen Haupt- und Staatsaktionen eine sekundäre Bedeutung bekamen, da man sich jetzt den elementaren Bewegungen der Volksmassen und ihren Bedürfnissen zuwenden musste. Für die Auseinandersetzung mit der französischen Revolution bedeutete dies zum Beispiel, dass der Marsch der Markthallenweiber nach Versailles wesentlich wichtiger war als Marie-Antoinette. Die Menschen machten und machen Geschichte, um ihre öconomischen und kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen, während als Erkenntnisfrucht der Feuerbachschen Hegelkritik die Geschichte nichts macht. DIE GESCHICHTE KÄMPFT KEINE KÄMPFE. Und im Hintergrund der großen lärmenden Staatsaktionen vollzieht sich eine unsichtbare ökonomische Umwälzung – in aller Stille. Gegenstand der Geschichtswissenschaft sind die Produzenten der materiellen Güter, die Völker. Der Linkshegelianer Bruno Bauer, der die Geschichte nach und gegen Feuerbach wieder entmaterialisierte, interpretierte diese wieder als in sich produktive, als aparte, die Geschichte ließe ihrer nicht spotten, sagte er, machte also den Menschen wieder zum Mittel ihrer mysteriösen Zwecke. Die Menschen machen Geschichte unter vorgefundenen entfremdeten Bedingungen wie sie in der Religion ein Kreuz aus Holz schnitzen und es anbeten. Den Fortschritt, den Darwin der Naturwissenschaft gebracht hatte, den hatte Marx der Geschichtswissenschaft gebracht. Zudem die wissenschaftstheoretische Erkenntnis, dass sich Wissenschaft und Wirklichkeit widersprüchlich zueinander verhalten. Die Analyse der Entwicklung erfolgt an ihrem Ende mit ihren Resultaten, sie beginnt post-festum. Für Hegel hat nur die Philosophie das Exklusivrecht des Zu-Ende-Denkens aller Wissenschaften und zwar auf eine exklusiv-spezifisch philosophische Art: der Weltgeist wird seiner nicht im Realvollzug bewußt, überall fehlt noch der Philosoph. Für Hegel war der wahre Mensch der Philosoph, durch den das Unbewußte bewußt wird, für Marx ist es der Berufsrevolutionär, dessen wissenschaftlicher Schwerpunkt auf dem Studium der Ökonomie liegt. Auf dem Gebiet der Ökonomie, zu deren Wichtigkeit im Komplex der Staatswissenschaften er den ersten folgenschweren Hinweis durch einen Text von Engels bekam 7.), trat Marx nun besonders epochemachend auf. Seit Parmenides von Sonnenmädchen begleitet im Wagen ausfuhr, um von der Göttin unterwiesen zu werden, was Meinung, was Wahrheit ist, hat die Geschichte der menschlichen Erkenntnis wohl keinen wichtigeren Punkt geklärt als die Aufdeckung der Diskrepanz von bezahlter und unbezahlter Arbeit im modernen Lohnverhältnis. „Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung in bezahlte und unbezahlte Arbeit aus. Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit ... Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf diese Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade das Gegenteil zeigt, beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie“. 8.) Die Abschaffung feudaler Privilegien durch die Jakobiner beinhaltet nicht die der Lohnsklaverei, im Gegenteil: der Mensch ist aus einem Sklaven des Privilegiums zu einem des Rechts geworden. Der Mensch ist frei in seiner Religion und ihrer Wahl, der religiöse Mensch ist versklavt durch und durch. Erst mit der Aufhebung der Lohnarbeit durch die Marxisten beendigt sich die von Marx ausgearbeitete Lehre, der von keinen Sonnenmädchen und keinen Gottheiten auf seinem Weg begleitet wurde. Sein begabtester Sohn Edgar und zwei weitere Kinder starben des Hungers, nur drei Töchter kamen durch. Die Quintessenz ist der die ökonomische Entwicklung in ihren Knotenpunkten analysierende Berufsrevolutionär. Alle Gesellschaftsmodelle sind illusorisch, die nicht an dem Fundamentalfaden der ökonomisch widersprüchlichen Entwicklung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen anknüpfen. Das Proletariat organisiert den Sozialismus vermittels des Kapitalismus. Sowohl die Entwicklung des Klassengegensatzes und mit ihm die Herausbildung der proletarischen Kampfpartei halten gleichen Schritt mit der Entwicklung der Industrie, ja Engels geht noch weiter: die Nachfrage nach dem Kommunistischen Manifest sei „mit ziemlicher Genauigkeit“ ein Gradmesser geworden für die Entwicklung der großen Industrie. 9.) Lenin wird den kleinbürgerlichen Volksfreunden in Russland vorwerfen, diese dialektischen Umschläge in der Entwicklung gesellschaftlicher Kollektivität qua ökonomischer Fundamentalumwälzungen nicht begriffen zu haben, nicht begriffen zu haben, dass ein ausgebildeter Kapitalismus die Basisbedingungen, aber eben nur diese, des Sozialismus schafft. Die Aufgabe der sozialistischen Intellektuellen sei es, den geschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen und in der Dynamik der Kräfte, die dem Kapitalismus innewohnen, den Ausweg zu finden, „auf den die wirtschaftliche Entwicklung hinweist“ 10.), denn nur die kapitalistische Produktionsweise selbst kann den Weg anzeigen zur Vollziehung der Umwälzung. Die Entwicklung im Jahre 1917 in Russland nach der Februarrevolution muss Lenin in dem Sinn befürwortet haben, dass dieser Kapitalismus nicht voll ausgebildet zu sein braucht, um eine höhere Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung hervorzubringen. Aber aus dieser beschränkten Ausbildungshöhe ergaben sich die Defizite dieser Revolution. Als zum Beispiel Plechanow Lenins Aprilthesen las, in der er die sofortige Ersetzung der bürgerlichen Minister durch proletarische Volkskommissare forderte, verfluchte er diese „Fieberphantasie Lenins“, die ein mehr als dreißigjähriges Bemühen, den Marxismus in Rußland zu verwurzeln, zunichte machen würde. Plechanow hingegen appellierte an die Unternehmer, nötige Reformen in Rußland durchzuführen. In den Augen von Plechanow und den Menschewiken beging Lenin eine Epochenunterschlagung, und zwar die Unterschlagung der bürgerlichen Epoche in Russland, in der sich die für den sozialistischen Aufbau notwendige Produktivkraftentfaltung erst ergeben müsse. Innerhalb von nur elf Monaten wurde die politische Forderung nach einer bürgerlich demokratischen Republik aus einer revolutionären zu einer konterrevolutionären. Dass man gerade in Russland die kapitalistische Epoche umgehen könne, um direkt zum Sozialismus zu gelangen, war eine vor dem Aufkommen der marxistischen russischen Arbeiterbewegung weitverbreitete Auffassung der kleinbürgerlichen Narodnikiintellektuellen, die auf kollektivistische Strukturen der russischen Dorfgemeinschaft beruhte, die Haxthausen bereits in der Vorgeschichte entdeckt hatte, und gegen die Plechanow, der sie zunächst bis 1882 auch vertrat (1882 erschien die „Wendeschrift“ „Sozialismus und politischer Kampf“), und Lenin gemeinsam erfolgreich vorgegangen waren. Aus diesen Strukturen hätte sich ohnehin zunächst nur ein Agrarsozialismus herausbilden können. Auf den ersten Blick schien dieses rurale Motiv der Narodniki im April 1917 noch einmal aus der Vergangenheit aufzutauchen, aber die Leninisten hatten zumindestens auf dem urban-industriellen Sektor einen Spatz in der Hand: in keinem anderen Land in Europa war am Vorabend der Revolution die Industrie so stark konzentriert wie in Rußland, 54 Prozent aller Arbeiter waren in Betrieben mit mehr als 500 Arbeitern beschäftigt, und diese derart konzentrierten Industriearbeiter bildeten die Basis der Revolution. Die Produktionsmittel waren hier komplex zusammengesetzt und dementsprechend lag eine kollektive Organisation der Arbeit, ein bedingt fruchtbarer Boden für die sozialistische Machtübernahme vor. In dieser revolutionären Situation ergab sich die Lösung einer Frage, die im 19. Jahrhundert die Sozialrevolutionäre in Europa beschäftigte: ist ohne hohe Allgemeinbildung der Massen im Zeitalter der Industrialisierung überhaupt eine Revolution siegreich durchzuführen ? Das rückständige Russland gab die Antwort: die Kulturrevolution erfolgte nach dem Machtwechsel, der ein qualitativer war. Schon gegen Bauer wandten Marx und Engels ein, dass die Volksmassen sich auch erst das Terrain erobern können, auf dem die Beschäftigung mit Theorie möglich ist. Die Kritiker der Oktoberrevolution, die den Machtantritt der Bolschewiki als zu verfrüht deuteten, sahen in dieser Verkehrung der Reihenfolge natürlich einen utopischen Gehalt dieser Revolution, den es nach strengem wissenschaftlichen Sozialismus nicht geben durfte. Jetzt waren Fragen aufgeworfen: Ist der Leninismus vom Marxismus zu separieren oder verliert der Marxismus mit diesem seinen wissenschaftlichen Charakter ? Was Marx und Engels 1847/48 im Manifest über Deutschland schrieben, dass eine bürgerliche Revolution nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen sein kann - cirka siebzig Jahre später in Russland traf es ein.

FETISCHCHARAKTER DER WARE

„Es gibt ein sonderbares Land, wo Schafe Menschen auffressen“. (Morus)

Die die Prozesse durchwaltenden dialektischen Gesetze sind nicht formalistisch bzw. in formallogisch-mechanistischer Form abzubilden. Aufschlußreich hierzu sind zwei Briefe von Karl Marx an Friedrich Engels: der erste vom 9. Dezember 1861, in dem er mitteilt, daß Hegel nie die Subsumtion einer Masse von 'Cases' under a general principle Dialektik genannt habe, und vom 8. Januar 1868, der die spöttischen Bemerkungen über Steins „hölzerne Trichotomien“ enthält. Die „Elemente“ der Dialektik sind vielmehr sich wechselseitig durchdringende. Die immanenten Wechselbeziehungen bedingen die untereinander und umgekehrt. Durch das Ineinander und Auseinander all seiner Wechselbeziehungen ist der Prozess ein Ineinander und Auseinander seiner selbst. Die Akkumulation des Kapitals zum Beispiel beinhaltet wachsende Konzentration der Produktionsmittel und des Kommandos über Arbeit und Repulsion vieler individueller Kapitale voneinander zugleich. 11.) Nicht nur, dass jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger geht, und ohne Gegensatz gäbe es keinen Fortschritt, vielmehr: die Gegensätze durchdringen sich wechselseitig zu einer höheren Einheit. In einem Brief an Engels vom 24. August 1867 bezeichnete Marx die Entdeckung des Doppelcharakters der Arbeit, die sich je in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrücken kann, als das Beste des Kapitalbuches. In einem Brief an Engels vom 8. Januar 1868 weist er darauf hin, dass die Ökonomen nicht konsequent genug kontrovers gedoppelt gedacht haben: „Den Ökonomen entging ohne Ausnahme das Einfache, daß, wenn die Ware das Doppelte von Gebrauchswert und Tauschwert, auch die in der Ware dargestellte Arbeit Doppelcharakter besitzen muß, während die bloße Analyse auf Arbeit sans phrase wie bei Smith, Ricardo etc. überall auf Unerklärliches stoßen muß. Es ist dies in der Tat das ganze Geheimnis der kritischen Auffassung“. Gerade aus der Gedoppeltheit der Ware erschlüsselt sich der Fetischcharakter der Ware und entschlüsselt sich sein Geheimnis. Milliardenfach findet in der bürgerlichen Gesellschaft der gewöhnliche Austausch von Waren statt und nach Lenin erblickt Marx in der Ware die Zelle der bürgerlichen Gesellschaft, in der alle Widersprüche der modernen Gesellschaft gebündelt sind. In der Analyse der Ware, deren Produktion untereinander unabhängige Privatarbeiten zur Voraussetzung hat und durch die das Arbeitsprodukt in nützliches Ding und Wertding gedoppelt wird, sah Marx den Schlüssel zur Aufdeckung der ökonomischen Bewegungsgesetze der warenproduzierenden kapitalistischen Gesellschaft, die gerade durch die Wertform der Ware unter einer spezifischen Gesellschaftsmetaphysik verborgen waren. Warenproduktion und Mehrwertproduktion verweisen aufeinander, die letztere auf Überschuß der Arbeit des Arbeiters für andere über seine für sich selbst basierende, ist die wesentliche. (Übrigens können ohne Überschußarbeit auch kein Staat, kein Beamtentum existieren). Obwohl Waren für sich als Waren keinen Gebrauchswert haben, sie sich nur als Tauschwerte aufeinander beziehen, hätten die Arbeitsprodukte ohne Gebrauchswerte, die sich nach dem Tausch im Konsum realisieren (der Konsument bestimmt die Nützlichkeit), keinen Tauschwert, keinen mystischen Charakter. Wie in der Metaphysik die wirkliche Welt eine abgeleitete ist, das wirkliche Verhältnis also verkehrt wird, so spiegelt das Arbeitsprodukt als Ware dessen gesellschaftlichen Charakter als Natureigenschaften dieser Dinge selbst zurück, „daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen“. 12.) Die Metaphysiker verlegen den Schwerpunkt der Welt außerhalb ihrer, in der Warenform des Arbeitsproduktes wird der Produzent Produkt seines Produktes. Die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit werden zu gegenständlichen Charakteren der Arbeitsprodukte selbst. Grob gesprochen besteht die Fetischverblendung in einer Verkehrung der Subjekt-Objekt-Relation: das Subjekt wird Objekt, das Objekt Subjekt. „Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt...sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“. 13.) Die Ware ist aus einem Prädikat der Produzierenden zu einem selbständigen Subjekt geworden wie in der Religion Gott aus einem Geschöpf des Menschen zum Schöpfer des Menschen wird. Wie der religiöse Mensch der ganz aus seiner eigenen Achse gesprungene ist, so verliert der Lohnproduzent die Herrschaft über seine eigenen gesellschaftlichen Beziehungen. In der Religion und in der Warenproduktion macht der Mensch sich selbst untertänig, das Produkt des Kopfes und das Produkt der Hand beherrschen den Produzenten. Sobald der Proletarier Hand an eine fremde Maschine legt und seine Hand in Tätigkeit bringt, ist er der sich selbst abhandengekommene, der aus seiner eigenen Achse gesprungene Mensch. Die Entschlüsselung des Geheimnisses des Warenfetisch und das der Religion haben den gleichen Ansatz. Der Zehnte ist deshalb durchsichtiger als der Segen des Pfaffen, weil dieser auf die Verrücktheit der Religion als Weltverdopplung verweist, die dem hiesigen Sklaven dereinst ein menschliches Leben in der Unendlichkeit in Aussicht stellt. In den lyrischen Versuchen des Studenten Marx fand er für die Menschen den Ausdruck, sie seien Affen eines kalten Gottes und als er gerade 25 Jahre alt war sprach er in der „Judenfrage“ bereits vom „Spielball fremder Mächte“ und deutete das Geld als den Gott der Juden und der Christen, als ein sie beherrschendes fremdes Wesen, das sie anbeten. 14.) Nur durch die Überwindung dieses Zustandes, in dem der Produzent passiv, von den Produktionsmitteln angewendet wird, sie nicht von ihm angewendet werden und in dem der kategorische Imperativ seine völlige Perversion erreicht, die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst ist, ist des Menschen Souveränität über sich und die Natur wieder zu erobern. In der individuellen Aneignung von Naturgegenständen zu seinen Lebenszwecken kontrolliert der Arbeiter sich selbst. „Später wird er kontrolliert“. 15.) Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation ist die Trennung des Arbeiters von den Verwirklichungsbedingungen seiner Arbeit, also eine Trennung, die die Enteignung des arbeitenden Menschen von den Realisierungsbedingungen seiner Arbeit, den Produktionsmitteln beinhaltet. Es ist eigentümlich, dass nach einer historischen Periode, in der die Produzenten Mittel geworden sind, nachdem Schafe Menschen aufgefressen haben 16.), ein deutscher bürgerlicher Philosoph den kategorischen Imperativ aufstellt. Er spiegelt das wirkliche Verhältnis wie in der camera obscura völlig verkehrt wider. Die Formulierung des Imperativs war also zwangsläufig verkehrt. 17.) Der kategorische Imperativ ist ein Musterbeispiel, dass die Philosophie die Welt nur interpretiert, zumal Kant jede revolutionäre Schlußfolgerung aus dem Imperativ ablehnt. Dieser und der Ewige Frieden verweisen auf eine Sein-Sollens-Differenz und auf die erste Publikation von Wilhelm Weitling: „Die Welt, wie sie ist, und wie sie sein soll“. Die Verkehrung der Lohnsklaverei in gleichfreie Arbeitskraftkonsumenten und Arbeitskraftverkäufern, also die Vertuschung des Formwechsels der Sklaverei, war die von der bürgerlichen Ideologie verlangte historische Aufgabe. In den Kolonien liegt die offene Sklaverei vor, in den Industriegebieten die maskierte. Die bürgerliche Ideologie als Reflex kann nur widerspiegeln, was real vorgeht. Sie verwertet den Arbeiter ein zweites Mal, indem sie sein Verwertungsverhältnis als gegeben und als historisch konstant festschreibt. „Es kann nicht anders sein, in einer Produktionsweise, worin der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandener Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reichtum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da ist“. 18.) Für die bürgerliche Ideologie ist die Umkehrung des Verwertungsverhältnisses ebenso illusionär wie für die Marxisten seine Festschreibung.

Ohne Zweifel ist die Existenz der Religion Ausdruck einer primitiven Lebensform, Engels sprach von ihrer Entstehung in einer sehr waldursprünglichen Zeit aus waldursprünglichen Vorstellungen 19.) , aber zu fragen ist, ob wir uns nach der bürgerlichen Aufklärung nur vordergründig über die Religion erhoben haben, ob nicht durch den Fetischcharakter der Ware die Religion eine festere Bastion in der bürgerlichen Gesellschaft hat wie in keiner anderen Gesellschaftsformation zuvor ? Für Marx ist die adäquate Religion der Warenproduktion (Privatarbeiten werden auf gleiche menschliche Arbeit bezogen) das Christentum mit seinem Kult des abstrakten Menschen, insbesondere seine Luthersche Version und der Deismus. Und man täusche sich nicht über den Protestantismus, kaum hatten die norddeutschen Bauern ihn angenommen, so wurden sie Leibeigene. Der protestantische Pfaffe Townsend bezeichnete 1784 den Hunger als das natürlichste Motiv zur Industrie und Arbeit, der Arme dürfe keine öffentliche Unterstützung unterhalten. In Neu-England setzten sie Prämien für Indianerskalps ab 12 Jahre aus – kurz: der Protestantismus – gelinde gesagt – verkrüppelt wie jede Religion Menschen. Der Religion kann es ganz recht sein, dass das Geld angebetet wird. Sein Erwerb ist so borniert wie die Religion selbst. Die Weltanschauung des praktischen Bedürfnisses ist borniert und in wenigen Zügen erschöpft. 20.) Das Triviale sucht das Geld und das Geld sucht das Triviale. Aber es nur trivial zu deuten reicht für die Warenproduktion nicht aus, die ihre spezifische Grille hat. Das Triviale ist indeß ein notwendiges Moment der menschlichen Entwicklung. Das Privateigentum hat uns dumm und einseitig gemacht, schreibt Marx 1844 in Paris, wir müssen einen Gegenstand haben, ihn gebrauchen, nur dann gelte er als der unsrige. „An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten. Auf diese absolute Armuth mußte das menschliche Wesen reducirt werden, damit es seinen innern Reichthum aus sich herausgebäre“. 21.) Unter der bornierten Kategorie des Habens wird die Lebensäußerung zur Lebensentäußerung, die Lebensverwirklichung zur fremden Wirklichkeit. Schon in den Pariser Manuskripten kreisen Marxens Gedanken um diese Perversionen der menschlichen Selbstentfremdung und dieses Motiv bewegt ihn im Fetischkapitel: der Produktionsprozess bemeistert die Produzenten, die ihre Entwirklichung als naturgegeben verinnerlichen. Für den Fetischisten ist das Perverse das Natürliche. Der Fetischcharakter der Ware bestätigt eine alte Weisheit Heraklits, dass die meisten Menschen anwesend abwesend seien. Wenn bewußt nicht für sich selbst (privat), sondern für den Tausch (gesellschaftlich) produziert wird, so werden die Privatarbeiten auf die ihnen gemeinsame „abstrakte menschliche Arbeit“ reduziert. Dieser Reduktionsvorgang entzieht sich den in der Gier des Habens bornierten Privatproduzenten, die immer verschiedene Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleichsetzen. 22.) Ohne dialektisches Erfassen des Doppelcharakters der Arbeit bleibt man im warenproduzierenden Kontext befangen. In diesem gilt Warenproduktion als natürliche, nicht als historische Form. „Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion“. 23. Der objektiven Geschichtsauffassung entgeht, dass nach einer geflügelten Aussage von Marx im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie Entwicklungsformen der Produktion in Fesseln derselben umschlagen. Die Objektivisten fassen eine bestimmte historische Gesetzmäßigkeit als Naturgesetz auf. Sie fallen hinter Saint-Simon zurück, der die Entwicklung in der Natur und Gesellschaft als ständigen Kampf zwischen flüssiger und fester Materie deutete. Es ist wenig beachtet worden, dass für Marx einer der wichtigsten Gegenbegriffe zur Dialektik, insbesondere im Kapitel über den Warenfetisch und in seinen Briefen an Engels, der der „Befangenheit“ ist. Aus dieser heraus scheitert das wissenschaftliche Erfassen, das im Verknüpfen epochal-gültiger Strukturalität und ihrer Transformation in eine sie ablösende besteht. Und hierbei focussiert sich der Dialektiker auf den Übergang der Formen, der beide enthält. Die Gegenwartsbefangenheit beschränkt den menschlichen Gesichtskreis, dessen Erweiterung Engels in seiner kleinen, Torso gebliebenen Studie „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ in historisch-materialistischer Weise nachgezeichnet hat. An dieser Gegenwartsbefangenheit sind große Geister auf tragische Weise zerschellt, die weiter waren, die diese transzendiert hatten, aber aus ihrem Sumpf nicht loskommen konnten. (Der „Sonnenstaat“ wurde in Gefangenschaft verfasst). An Feuerbach können wir sehen, dass sein Denken zwar eine materialistische Grundlage hat, dass er aber sowohl in seiner Religionsphilosophie als in seiner Ethik im Idealismus verharrt. In der Warenbefangenheit ist eine Herauslösung aus der Religion ausgeschlossen, während eine Planwirtschaft für diese Emanzipation den geeigneten Boden abgibt und düngt. Diese Befangenheit verhinderte, dass die politische Ökonomie hinterfragte, warum sich „die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt ? Formeln, denen es auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch nicht den Produktionsprozess bemeistert...“ 24.) Wie den bürgerlichen Ökonomen diese Formeln so naturnotwendig sind wie die produktive Arbeit selbst, so ist den bürgerlichen Juristen die Ausbeutung des Volkes durch die Produktionsmitteleigner eine selbstverständliche Naturnotwendigkeit. Die ganze bürgerliche Justiz basiert auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, sie ist ein nationales Kriegswerkzeug der Produktionsmitteleigner gegen das Volk. Und siehe da ! Was hängt in den Gerichtssälen des „Rechtsstaates“ an den Wänden ? Gelobt sei Jesus Christus ! Der englische Kommunist Bray sprach 1839 von einer „legal robbery“. Und dass es ein legaler Diebstahl ist, das macht die Sache so schwierig. Man kann gegen die Kapitalisten nicht sagen, was leicht abgewandelt Hitler über die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 sagte: „Es handelt sich um eine ganz kleine Clique verbrecherischer Staatsbürger...“ (Hitler sprach von Offizieren). Sondern die Produktionsebene, das Produktionsmilieu muss sich vom privaten zum gesellschaftlichen wandeln, so dass die Kapitalisten nicht mehr ihren Lebensrhythmus der Gesellschaft als Regulativ aufzwingen können. „Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen“. 25.) Man bemerkt sofort den Unterschied zum anthropologischen Ansatz von Feuerbach, für den das Geheimnis der Theologie die Anthropologie und für den der einzelne Mensch außerhalb der Reproduktion seines Lebens Anfang, Mittelpunkt und Ende der Religion war. Das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware ist zum einen ein ökonomisch-theologisches Manuskript, zum anderen ist in ihm das Zentralmotiv der marxistischen Theorie konkretisiert, die Aufhebung des Proletariats als Ware, die Erlösung der Menschheit von der Lohnarbeit, ihre Befreiung vom Joch des Kapitals. Das Quidproquo-Motiv findet sich durchgängig im „Kapital“. Plastisch formuliert: es geht um die Wiederherstellung einer pervertierten Subjekt-Objekt-Relation in eine natürliche, was letztendlich einen geldlosen gesellschaftlichen Verkehr der Produzenten untereinander beinhaltet. Dass das Wesen des Kapitalismus zutiefst inhuman ist, ist nicht erst heute eine Binsenweisheit, schon Destutt de Tracy gab dessen Charakter ganz treffend wieder: „Die armen Nationen sind die, wo das Volk gut dran ist, und die reichen Nationen sind die, wo es gewöhnlich arm ist“. 26.) Angesichts dieser Perversionen tat sich für das dialektische Denken ein unermessliches Feld auf, Fourier und Hegel sind vor Marx und Engels die Denker, denen eine tiefe Ergründung des widersprüchlichen Charakters der aus der Revolution von 1789 geborenen bürgerlichen Gesellschaft gelingt, für Fourier gab es keine, die so sehr auf den Kopf gestellt war wie diese. Eine auf den Kopf gestellte Welt, dieses Motiv findet man auch in der Phänomenologie des Geistes und in der Philosophie der Weltgeschichte: In der französischen Revolution habe sich der Mensch auf den Kopf gestellt und erbaue die Welt nach seinen Gedanken. Und doch wurde Hegel, um den in seinen Worten liegenden Gedanken der Planwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen, selbst vom Kopf auf die Füße gestellt (schon in der „Heiligen Familie“). Im „Elend der Philosophie“ wird von echten Philosophen generell gesagt, dass sie die Dinge auf den Kopf stellen. Für Proudhon scheint der Blutkreislauf eine Konsequenz der Theorie Harveys zu sein. Nicht zufällig taucht dieses Motiv im Kapitel über den Fetischcharakter der Ware wieder auf. Die Ware stellt sich anderen Waren gegenüber auf den Kopf. Und in den dem Kapitalismus unvermeidbar anhaftenden Krisen werden alle Gesetze der Warenproduktion und der Warenzirkulation auf den Kopf gestellt. Dieses auf den Kopfstellen ist eine Folge der Philosophie Hegels, den Schopenhauer als „Kopfverdreher“ nicht ganz unbegründet denunzierte.

PRODUKTION UND ERKENNTNIS

Identität ist Kampf: Sein ist, wird Nichts, Nichts ist, wird Sein und ihre Durchdringung ineinander ist Werden. Sein ist immer schon Werden und dieses ist das erste Wahre. Was bei Heraklit, der kein Idealist war, bloß floß, fließt bei Hegel wechselseitig ineinander über. (Allerdings nur als Explikation einer Universalmetaphysik). Der Revolutionär muss historisch unter Milieu- und Tabubrüchen das Werden durchsetzen, was sich wie bei Proudhon zu einer Manie nach Widerspruchsdialektik steigern konnte; der Konterrevolutionär das Sein, um das Bestehende zu erhalten. 27.) Reaktionäres kreist verfaulend in sich, Revolutionäres entwickelt sich zum Sprung in einen neuen Zustand (Darwins Evolutionstheorie und Marxens Gesellschaftswissenschaft als Naturwissenschaft). Und vielmehr: in diesem reziproken Sein-Nichts-Übergang in sein Gegenteil als Einheit und Kampf der Gegensätze , wobei die Einheit relativ, der Kampf absolut ist, findet zugleich der Umschlag von Quantität in Qualität (das Beispiel von Engels mit den Mameluken) und die Negation der Negation statt. 28.) Das menschliche Denken spiegelt diese Dialektik wider. Der menschliche Erkentnisprozess ist selbst dialektisch, er geht vom Einzelnen über das Besondere zum Allgemeinen und von diesem wieder zurück. Eins teilt sich in zwei zu einem, zur Spirale, die eine innere Notwendigkeit hat. Dieser komplexe, spiralförmige (jeder Punkt auf der Spirale ist widersprüchlich), sich gegenseitig durchdringende Weltprozess bewegt sich nicht selbstläuferisch und nur rein denkerisch im Sinne einer zeitlosen Vernunft, die Proudhon vertrat, in eine geistige utopische Unendlichkeit hinein, sondern die Aufhebung alles Partiellen (Kommunen, Länder, Nationen, politische Parteien, Staaten...usw.) ist bedingt durch eine weltweite, immer mehr egalistisch werdende Industrialisierung, die es zum ersten Mal in der Weltgeschichte unter ungeheurer Zerstörung von Naturwüchsigkeit, auch der der Volkscharaktere, und Flüssigmachung von Arbeit in einer Polarisation des Warenmarktes (Kapital kauft Arbeitskraft an – das aus den Kleinbauern stammende Proletariat verkauft diese - ihr einziges leibbezogenes Produktionsmittel) über den inneren Markt ermöglicht, die Produktion ins Unendliche zu vermehren 29.) - um Malthus, jeglichen Asketismus, jeglichen Utopismus zu widerlegen. Dieser industrielle Kommunismus war also früher nicht möglich, während die utopischen Modelle zeitungebunden baubar waren. Weitling konnte sich den Sprung in die erlöste Klassenkampfgeschichte jederzeit vorstellen. Absolute Wahrheit, Absolute Vernunft, Absolute Identität in philosophischer – Absolute Freiheit, Absolute Gleichheit, Absolute Gerechtigkeit in politischer Hinsicht, und wie die idealistischen Schlagwörter alle heißen, ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht vom Raum, von der Zeit und den gesellschaftlichen Bedingungen abhängen, dass sie eben metaphysisch sind. Und hiergegen hat gerade die Dialektik ihre Früchte getrieben, dass eben alles in weltlicher Immanenz abhängt vom Raum, von der Zeit und von den gesellschaftlichen Bedingungen. Die französische Revolution scheiterte an einer unzureichenden Höhe der Produktivkräfte, die Herrschaft der Plebejer konnte nur eine momentane sein. Aber aus der durch die industriellen Revolution gegebenen Möglichkeit, die Produktion ins Unendliche zu vermehren, resultieren nicht nur die Überproduktionskrisen, sondern die die Produktion leitende Bourgeoisie, eine Minderheit der Gesellschaft, gleicht einem Hexenmeister, der die Kräfte nicht mehr beherrschen kann. Die Produktivkräfte erreichen eine Höhe, dass nur noch ihre gesamtgesellschaftliche Leitung möglich ist. „Der sozialen Tierwelt wird bald die letzte Stunde schlagen“. (Moses Hess).

Es ist nicht die Manufaktur, die immer wieder ländliche Hausarbeit bedarf, sondern die Große Industrie, die die Feudalherren entmachtet und das Landvolk radikal proletarisiert. In einem Brief an Annenkow vom 28. Dezember 1846 schreibt Marx, dass eine Handmühle eine Gesellschaft von Feudalherren ergäbe, eine Dampfmühle eine von Kapitalisten. Und diese Mühle bringt den Grundwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft hervor: einzelne Kapitalisten eignen sich in der Warenwirtschaft das Gesamtprodukt an, aus diesem Grundwiderspruch resultieren alle Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft. Der Marxsche Internationalismus ist primär nicht humanistisch motiviert, etwa im weltbrüderlichen Sinne von Anacharsis Cloots oder im Sinne der Geschichtsauffassung von Louis Blanc, dass sich das Gute durchsetze, sondern eine sich durch die industrielle Produktion ergebende objektive Notwendigkeit: „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse“. 30.) In dem allseitigen ökonomischen Verkehr der Völker untereinander wurzeln der Weltmarkt, die Verwandlung von Geschichte in ihr Resultat Weltgeschichte, die Weltliteratur, der Weltgeist. Das, was Hegel am 22. Oktober 1818 in seiner Antrittsvorlesung in Berlin programmatisch ankündigte: „Das zunächst verborgene und verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft, die dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte, es muß sich ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse geben“, wird marxistisch transformiert von der philosophischen Spekulation in die Große Industrie, vom Weltgeist in die Theorie der Produktionsmittel. Es ist folgerichtig, das Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ die Philosophen in Deutschland als „philosophische Industrielle“ bezeichnen. Ein Grundzug der Dialektik ist die allseitige Durchdringung der Objektivität, sowohl die philosophische Entschlüsselung des Universums durch Hegel als auch die tendenziell von Watt initiierte globale Industrialisierung entwerten die kantische Problematisierung des Dings an sich zur philosophischen Nullität. In einem Brief vom 7. Juli 1866 schrieb Marx an Engels: „Unsere Theorie von der Bestimmung der Arbeitsorganisation durch das Produktionsmittel“. Wie Knochenreliquien uns Aufschluß geben über untergegangene Tierarten, so Reliquien von Arbeitsmitteln über untergegangene öconomische Gesellschaftsformationen. Die kommunistische Arbeitsorganisation ergibt sich autodynamisch aus dieser Weltgeschichte der Produktionsmittel, ohne politisch-revolutionäre Tätigkeit aber wären ihre Geburtswehen zum einen viel schmerzhafter, zum anderen muss die Partei der Arbeit Klassenkrieg und Klassenkollektivität bewußtseinsmäßig vereinigend gestalten und sozialistisches Bewußtsein in die Arbeiterbewegung hineintragen, um dadurch die proletarische Aktion zum Bewußtsein zu bringen. Mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel durch das Proletariat findet zum ersten Mal geschichtlich keine Anwendungsvergesellschaftung statt, sondern es wird, wie der späte Engels es formulierte, Herr seiner „eignen Art von Vergesellschaftung“. Die Dialektik der maschinellen Großindustrie ist im Marxismus erstrangig, denn aus dieser eruiert sich eine sich überkreuzende Entwicklungsparallelität zwischen Kapitalismusentwicklung einerseits und die sich aus ihr ergebenden Vergesellschaftung der Arbeit und Nivellierung der Produktion bei gleichzeitiger Verproletarisierung der Gesellschaft und proletarischer Interessen und andererseits ermöglicht sie erst die Erkenntnis der Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft bei gleichzeitiger Hervorbringung der materiellen Bedingungen des Sozialismus. In der Industrie gründet der Doppelkonflikt zwischen den beiden Hauptklassen und zwischen den Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und die Hervorbringung der Konfliktlösungsmittel für beide Widersprüche. In Lenins „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ klingt das nach; für den westlichen Kulturkreis hat Thomas P. Hughes 1983 eine umfassende Studie mit dem Titel „Networks of Power: Electrification in Western Society 1880 – 1930“ publiziert. Erst auf der Stufenleiter der maschinellen Großindustrie wird die Gesellschaft als ein lebendiger, sich in steter Entwicklung befindlicher Organismus, als eine sich in einem naturgeschichtlichen Entwicklungsprozess befindliche ökonomische Gesellschaftsformation durchdringend gedeutet, und zwar als eine zutiefst antagonistische, ständig Kapitalisten auf diesem, doppelt produktionsmittelunabhängige „freie“ Proletarier – sie gehören nicht mehr zu den Produktionsmitteln wie der Sklave und Leibeigene und haben auch keine (außer ihre Arbeitskraft) - auf jenem Pol hervorbringend. Die Produktionsmittel organisieren die gesellschaftliche Arbeit und haben eine Höhe erreicht, dass Marx und Engels bereits 1848 im Kommunistischen Manifest den gleichen Arbeitszwang für alle, den schon Campanellas im „Sonnenstaat“ verlangte, fordern konnten. Der kommunistische Sonnenstaat auf der Grundlage der Großraumproduktion, die Diktatur des Proletariats, ist zentralistisch, nicht föderativ ausgerichtet. Der Zentralismus macht freier als der Föderalismus. Das Ehepaar Webb schwärmte hingegen in seinem „A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain“, erschienen 1920, von kleinen überschaubaren Sprengeln, so dass die politische Landkarte wie ein bunter Flickenteppich aussähe. Schon Rousseau ist in seinem Gesellschaftsvertrag diese spezifische englische Zersplitterung sauer aufgestoßen.

Zugleich erklären sich sowohl Entstehung, Entwicklung und Sterbeprozess des Marxismus, ihn theoretisch als Entwicklungstheorie und praktisch-politisch als Anleitung zum klassenkämpferischen Handeln aufgefasst. Im einer kommunistischen Gesellschaft erübrigt sich dieses Handeln, folglich ist der Kommunismus eine Gesellschaft ohne Marxisten, eine der befreiten Arbeit, in ihrem genuinen Kern ist die Unmöglichkeit von Weltherrschaft überhaupt impliziert. Der Kommunismus kann keine Weltherrschaft beanspruchen, er ist die Welt ohne Herrschaft. Der Marxismus ergibt sich aus dem die bürgerliche Gesellschaft bestimmenden Antagonismus „Akkumulation des Kapitals und Elends“, bedingt durch die absolute Trennung von Eigentum und Arbeit, und hebt mit diesem sich selbst auf. Denn der Entwicklungsgang der Großen Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger der Kapitalist ist, bereitet den Sozialismus in doppelter Weise vor: einmal schafft sie kollektive Produktionsweisen, zum anderen produziert der Arbeiter sich nur in der auf Kapital gegründeten Produktionsweise selbst zum Pauper. (Sismondi vertrat, dass das Einkommen mit steigender Produktion abnimmt). Gerade der letzte Punkt wird im Kontext marxistischer Sekundärliteratur nicht genügend gewürdigt, dabei gehört er doch zum Schlußakkord des ersten Teils des Kommunistischen Manifestes (Bourgeois und Proletarier). Der Pauperismus ist das Resultat der Arbeit selbst. Im Gegensatz zu Hegel hat die Arbeit nicht nur eine positive Seite, die Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ an Hegel gewürdigt hat. Ein ebenso tiefer Dialektiker wie Hegel, Charles Fourier, sah, dass in der Zivilisation der Pauperismus aus dem Überfluß geboren wird. Auch Proudhon hatte aufgezeigt, wie die Bewegung des Kapitals das Elend erzeugt. An dieser Perversion wird die Welt des Kapitals, die das Heilmittel der Kollektivproduktion ungewollt mitentwickelt, unweigerlich zerbrechen. (Wurde Proudhon in der „Heiligen Familie“ gegen den „kritischen Kritiker“ Edgar Bauer noch Recht gegeben, so fiel die Kritik an seinen dialektischen Defiziten in das „Elend der Philosophie“). Schon Babeuf hielt es für ungerecht, dass die von Natur aus weniger Begabten, also schon einmal Benachteiligten, durch ihre schwere und eintönige Arbeit noch einmal benachteiligt werden, Fourier hatte in seinen Phalansterien jede Arbeit auf 1 ½ Stunden begrenzt, danach würde sie ermüden. Im Manifest wiesen Marx und Engels daraufhin, dass mit der Widerwärtigkeit der Arbeit der Lohn falle. Der Arbeitsbegriff des Marxismus ist als Gegenentwurf kein reflexiver, ein durch Herrschaft destruktiv Gewordener, also das jus abutendi enthaltend, sondern ein objektiver – in präkommunistischen Gesellschaften kann der Eigentümer sein Eigentum destruktiv entfunktionalisieren, was beim sozialistischen Volkseigentum noch unter Strafe steht. In der sowjetischen Verfassung von 1936 wird im Artikel 131 als Volksfeind bezeichnet, wer sich am gesellschaftlichen Eigentum vergeht. Dass die unter dem Zwang der Vervollkommnung stehende Große Industrie also die arbeitende Klasse ins Elend treibt, denn diese Vervollkommnung bedeutet, dass arbeitende Hände zur Ruhe verdammt werden, dass die Produktionsmittel die Lebensmittel aus der Hand schlagen, zugleich aber die Mittel mitentwickelt, dieses aufzuheben, weist zurück auf die Geschichtsphilosophie von Moses Hess (1812 bis 1875), in der dieser versuchte, das altreligiöse Motiv, dass die Not in sich die Mittel ihrer Überwindung berge, zu säkularisieren. In diesem altreligiösen Motiv liegt aber zugleich begründet, dass utopistische Erfindungen verworfen werden können und dass der Berufsrevolutionär in der Not die Mittel seiner Überwindung entdecken muss. Für den marxistischen Berufsrevolutionär liegen diese in den materiellen Tatsachen der Produktion.

Es ist insbesondere Mao Tse Tung, der in seiner Schrift „Über die Praxis“ aus dem Jahr 1937 den Grad der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft an den Entwicklungsstand der Produktion bindet, wobei wiederum die westeuropäischen technisch-industriellen Revolutionen in der Heimatregion der politischen Ökonomie ausschlaggebend sind. 31.) Nach Mao ist Erkenntnistiefe bzw. wissenschaftliches Niveau an effektive Produktion gebunden; Ergiebigkeit der dynamischen Produktion und Ergiebigkeit wissenschaftlichen Denkens bedingen sich, eine an den Jahreszyklus gebundene in sich immer wiederholende rurale Produktion erzeugt ein Milieu, das von Marx und Engels im Manifest auf den Namen „Idiotismus des Landlebens“ 32.) getauft wurde. Klerus und Adel, Aberglaube, Rückständigkeit und Langsamkeit bauen ihre Behausungen auf dem Land. Noch 1848 bildete sich die französische Nation zu 75 Prozent aus Bauern. Die Geschichte zeigt deutlich, dass die Herrschaft des Feudaladels im Mittelalter von einer Konstanz war, die die Bourgeoisie nie erreichen kann. Die Zeiten sind stürmischer geworden. Die These der Narodniki in Rußland war irrig, der Sozialismus könne sich an kollektiven Dorfstrukturen entzünden, der russische Theoretiker Plechanow wandte sich von dieser These ab, als er erkannte, dass die Bauern für revolutionäres Gedankengut weniger aufnahmebereit seien als die urbanen Proletarier. Wissenschaft konzentriert sich auf die Metropole und diese sind bürgerlich. Der Aufstieg der bürgerlichen Wissenschaft ging einher mit Unterwerfung des Dorfes unter die Metropole. Mit dieser urbanen Großproduktion sei eine Höhe erreicht worden, von der aus Bourgeoisideologen wie Marx und Engels zum allseitigen geschichtlichen Verständnis der historischen Entwicklung der Gesellschaft gelangten und ihre Erkenntnis der Gesellschaft zu einer Wissenschaft machen konnten. „Diese Wissenschaft ist der Marxismus“. 33.) Wie sich durch die Industrialisierung die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft explizieren, so gibt sie uns auch genügend Kenntnisse, um dem Kantschen Agnostizismus, dem die Lichter der Industrie noch nicht alles durchleuchteten, auch den letzten Argumentationsrest zu nehmen. Was für Kant am Ding noch geheimnisvoll bleiben musste, das ist Geschichte, weil wir dank der Industrie dieses Ding selbst reproduzieren können. So bedingen sich technische Höherentwicklung und menschliche Erkenntnistiefe, beide sich wechselseitig steigernd. Je mehr mit Hilfe der Großindustrie die Naturbeherrschung gelingt, desto mehr wird metaphysischem Denken der Boden entzogen. Schon Holbach sah den engen Zusammenhang zwischen Metaphysik und Naturbeherrschung, dass philosophiegeschichtlich deren Substanz schwindet, je mehr diese zunimmt. Die metaphysische Denkweise erwiese sich als Antithese der dialektischen, die historisch durchaus notwendig war zu ihrer Kulmination, für Hegel die ganze Erkenntnis abschließend, für eine materialistische Erkenntnistheorie bleibt dialektische Widersprüchlichkeit offen, ohne Ende. In der Praxis des gesellschaftlichen Klassenkampfes hatte sich herausgestellt, dass die Konstruktion idealer, die ganze Entwicklung der Gesellschaft abschließender Gesellschaftssysteme durch die Utopisten bedingt war durch eine niedrige Entwicklungsstufe des Proletariats. Das Hegelschen Denken ist zwittrig in jeder Faser: dialektisch - im Bannkreis der Metaphysik, die Spaltung und Vollendungsversuche der Hegelschen Philosophie zwingend. Bruno Bauer und Ferdinand Lassalle gaben sich als Vollender aus, Feuerbach gelang der Durchbruch, indem er gegen diese Schule die Philosophie auf eine materialistische Grundlage stellte, fiel aber in der Religionsphilosophie und in seiner Ethik auf den Idealismus zurück, während Marx eine philosophische Methode entwickelte, die der Hegelschen direkt entgegengesetzt war, die die idealistische Spaltung Geschichte : Natur aufhob. Für Hegel gab es in der Natur nur Bewegung im Kreis, in der Geschichte käme Neues hervor.

Die materialistische Erkenntnistheorie steht, was die Erkenntnis der objektiven Realität betrifft, in einer von Hegel durch seine „Phänomenologie des Geistes“ stark geschwängerten Traditionslinie, in der Erkenntnisprozesse nicht mehr steril-analytisch aus einer laborartigen Subjekt-Objekt-Konstellation (die es nicht geben kann, Descartes versucht sie durch einen radikalen Zweifel) zur Entfaltung gebracht werden, deren puristischste Fassung Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hyperformal ausreizte, sondern im synthetisch-globalen Kontext philosophie-geschichtlich-gesellschaftlicher Prozesse. Die subjektiv-relative Erkenntnis, nunmehr immer auch schon eine historisch-prozesshafte, wird end-lich eins ineinander, während sie sich in der materialistischen Erkenntnistheorie marxistischer Prägung nur dem geschichtlichen Prozess der Objektivität annähern kann. 34.) Dieser ist absolute Identität versperrt, weil sie Geschichte nicht als Geistprodukt und damit als idealistisches Manipulierungsmaterial ablaufen, sondern umgekehrt Geschichte sich als durch Bedürfnis und Arbeit humangemachte ergeben läßt, die sich gerade wegen dieser Konstellation nicht primär um Erkenntnis, gar Erkenntnis einer absoluten Wahrheit, sondern um Aufhebung einer entfremdeten, den Menschen entmenscht machenden Arbeit zentriert. Im Kontext einer prozesshaften sich gegenseitig beeinflussenden und damit verändernden Subjekt-Objekt-Relation im Arbeitsprozess – mit der Bearbeitung des Objekts erweitern sich die Erkenntnisse des Arbeiters über das Objekt und über sich selbst, während in einer Objektempfindung nur die Form zu uns kommt – aus dieser gegenseitigen Hervorbringung immer neuer Subjekt-Objekt-Konstellationen, wobei die Arbeit von Geschlecht zu Geschlecht immer vielseitiger wird, steigern sich die erkenntnistheoretischen und arbeitsmäßigen Subjekt-Objekt-Situationen in objektiv-historische: das Proletariat als Werkzeug gebrauchende, das ihr nicht gehört, und als Werkzeug gebrauchte Klasse, hat 10, 15, 20 Jahre Bürgerkrieg durchzumachen, um sich dieses anzueignen und um die es erdrückenden Verhältnisse und sich selbst zu verändern.

Sowohl der kantische Agnostizismus als auch der historische Materialismus stehen auf je eigene Art einem Weltgeist fern. Wird die großindustrielle Maschinerie zum Kriterium schlechthin, so höhlt diese weltimmanente Konzentration das Grab der ruralen Metaphysik. Wie der Mensch produziert, so denkt er. 35.) Liegen zersplitterte, primitive und stagnierende Produktionsverhältnisse vor, wird metaphysisch gedacht, das heißt unter anderem werden die Zusammenhänge nicht als Komplex begriffen. Die Befangenheit im Gegebenen hängt ab von der Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und eine kommunistische Revolution richtet sich nach diesen. Von ihnen hängt das Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur ab. Ist dieser Komplex doppelter Beziehungen nicht wissenschaftlich-transparent gegenwärtig, ist der materielle Produktionsprozeß mit einem mystischen Nebelschleier überzogen. 36.) In der Landwirtschaft ist zum Beispiel die Warenproduktion schwächer entwickelt. Der 1740 geborene Landwirt und Arzt Charles Hall analysierte in seiner einzigen Publikation „The Effects of Civilisation on the People in European States“ aus dem Jahr 1805 zwar die verheerende Wirkung der Industrialisierung auf die frühproletarische Masse, als Arzt war er oft in den Elendsquartieren, kehrte aber zur Lösung der sozialen Frage zur Anschauung der Physiokraten zurück, der Ackerbau sei die natürliche Tätigkeit des Menschen. Hall starb 1820 verschuldet im Gefängnis. 37.) Bei großen, Flexibilität erfordernden maschinell-dynamischen Produktionsverhältnissen wird dialektisches Denken immer erforderlicher. In den präindustriellen Epochen wurde die alte Produktionsweise dagegen unverändert beibehalten, gerade auf die Landwirtschaft wirkt die Große Industrie am revolutionärsten und gleicht das Stadt-Land-Gefälle mehr und mehr aus. Die Babouvisten, die nicht den weltgeschichtlichen Zug der Großen Industrie erfassten, wollten noch die Stadt im Land aufgehen lassen. Noch Anfang der 1830er Jahre spricht sich Buonarroti für eine „rustique simpilicité“ aus. Sowohl in Robert Owens Genossenschaftskonzeptionen, die er ab 1817 präsentiert, als auch in Fouriers Phalansterien, die nach sechs Jahren die weltweite Lebensform sein sollten, dominiert noch die Landwirtschaft, der industrielle Sektor bleibt peripher. Aufschlußreich ist, was die russische Revolution von 1905 zutage förderte: Nach der amtlichen Statistik von 1905 besaßen im Europäischen Rußland zehn Millionen arme Bauern 75 Millionen Desjatinen Land, während 30 000 Großgrundbesitzer (darunter die Sippe von Nikolaus Romanow mit ihren Apanageländereien) 70 Millionen Desjatinen Land besaßen. Während aber bei den Industriearbeiterstreiks bis zu drei Fünftel der Arbeiter teilnahm, war von den Bauern nur eine Minderheit politisch aktiv, nicht mehr als ein Viertel. Die Bauern kämpften weniger hartnäckig, zersplitterter, weniger bewußt. Diese Konjunction zwischen Stadt und Land, Stadt- und Landproletariat, aber ist entscheidend für den Ausgang einer proletarischen Revolution. In der Tat achtete Lenin wie ein Augapfel auf das Bündnis mit den armen Bauern bei Neutralisierung des Mittelbauern. Die Hegemonie des Proletariats stellte er nie in Frage. Trotzki sah in den Bauern, die er in seiner Theorie weitestgehend ignorierte, eine abzuweisende Tendenz zum kleinbürgerlichen Partisanentum. Der Trotzkismus stand vor einem Dilemma: Im Westen wurde die proletarische Revolution von einer unter imperialistischen Bedingungen herangezüchteten Arbeiteraristokratie vereitelt, im Osten war das Proletariat quantitativ gering, seine Partei ein Tropfen im Ozean kleinbäuerlicher Massen. Marx hielt die russische Bauerngemeinde nur dann für einen Ausgangspunkt einer russischen Sozialrevolution, wenn sie zum Signal einer Arbeiterrevolution im Westen wurde. Eine Revolution mit sozialrevolutionären, ja marxistischen Anspruch hatte es gegeben, eine im Westen nicht, man entschied sich in Moskau, den Sozialismus autonom mit industriellem Schwerpunkt aufzubauen und Stalin musste diesen Weg als alternativlos darstellen. Dieser Schwerpunkt war umso gegebener, als es das dörfliche Gemeineigentum 1917 nicht mehr gab. Die Hegemonie des Proletariats wurde im globalen Rahmen nach dem Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit nationalrevolutionären Emanzipationsbewegungen schwerpunktmäßig auf der südlichen Halbkugel in Frage gestellt. Für Franz Fanon waren die Bauern die revolutionären Kräfte schlechthin und der Maoist Lin Biao sprach von der Einkreisung der Weltstädte durch die Weltdörfer.

Wie Menschen kollektiv gezwungen sind zu produzieren, so korrespondiert die Produktion mit der Wissenschaft, deren innerer Kern kollektivistisch und immer Wissenschaft der Produktion ist.

[...]

Excerpt out of 128 pages

Details

Title
Über den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus
Author
Year
2014
Pages
128
Catalog Number
V272102
ISBN (eBook)
9783656642978
ISBN (Book)
9783656642961
File size
1148 KB
Language
German
Keywords
über, charakter, marxismus
Quote paper
Heinz Ahlreip (Author), 2014, Über den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272102

Comments

  • No comments yet.
Look inside the ebook
Title: Über den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus



Upload papers

Your term paper / thesis:

- Publication as eBook and book
- High royalties for the sales
- Completely free - with ISBN
- It only takes five minutes
- Every paper finds readers

Publish now - it's free