Der Ausbau der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa

Ein geostrategischer Imperativ?


Estudio Científico, 2011

92 Páginas, Calificación: 1.00


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Ziel und Methodik der Studie
2.1 Hypothese
2.2 Methodik

3 Theoretische Grundlage
3.1 Darlegung der Begriffe
3.1.1 Macht und Einfluss
3.1.2 Geopolitik und Geostrategie
3.2 Theorie des regionalen Sicherheitskomplexes

4 Die Einflussfaktoren der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa
4.1 Die Wahrnehmung geopolitischer Interessen in Osteuropa
4.2 Aufgaben und Funktionen der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa
4.3 EU-Konfliktmanagement in Osteuropa

5 Einflussnahme externer Akteure auf die sicherheitspolitische Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa
5.1 Weimarer Dreieck zwischen Frankreich, Deutschland und Polen
5.2 Russland
5.3 USA (NATO)
5.4 Türkei
5.5 Schlussfolgerungen über die Rolle externer Akteure in Osteuropa

6 Überprüfung der aufgestellten Hypothese und Bewertung der Ergebnisse
6.1 Überprüfung der Hypothese
6.2 Bewertung der Ergebnisse
6.3 Zukünftige Handlungsoptionen bezüglich der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa

7 Resümee

Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Anhang

Es geht nicht darum, die Zukunft vorauszusehen, sondern sie möglich zu machen.

Antoine de Saint-Exupéry

1. Einleitung

Das 21. Jahrhundert wird als das Zeitalter rückkehrender geopolitischer Machtpolitik in den internationalen Beziehungen bezeichnet. Das internationale System befindet sich gegenwärtig in einer Phase der Umwandlung von einer unilateralen amerikanischen Vorherrschaft zu einer multilateralen Ordnung.[1] Das bedeutet, dass mehrere internationale Machtzentren[2] miteinander konkurrieren, um an mehr Einfluss und Präsenz in der internationalen Politik zu gewinnen. Die Rolle von Macht, Einfluss und Präsenz in den internationalen Beziehungen wird zunehmend durch geografische Faktoren wie Lage, Meereszugang, Größe des Landesterritoriums, Bevölkerungsanzahl und -zuwachs sowie vorhandene natürliche Ressourcen beeinflusst. Die Folge daraus ist eine „internationale Konkurrenz der Weltregionen“[3].

Die letzten Erweiterungswellen 2004 und 2007 haben die geografischen Grenzen der EU nach Osten stark ausgedehnt und der Union eine gemeinsame Grenze mit Russland verschafft. Die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Georgien, Armenien, Moldau, Aserbaidschan und Belarus bilden in Osteuropa eine Pufferzone[4] zwischen der EU und Russland. Durch die Ausdehnung der östlichen Grenze sieht sich die EU-Osteuropapolitik mit neuen Sicherheitsherausforderungen konfrontiert.[5]

Gegenwärtig wird die Europäische Union als eines der wirtschaftlichen Machtzentren in der Welt mit noch fehlenden globalen Machtaspirationen in den internationalen Beziehungen wahrgenommen. Aktuell durchläuft sie eine tief gehende Phase institutioneller Konsolidierung, die auch Reformprozesse im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) mit einschließt.[6] Bis jetzt hat sich die Vorgehensweise der EU zur Bewältigung sicherheitspolitischer Probleme in der Welt allgemein als wenig effizient gezeigt.[7] Auch handelt es sich dabei um einen reaktiven sicherheitspolitischen Ansatz der Entscheidungsfindung auf EU-Ebene.[8] Insgesamt ist die EU am Scheideweg, wenn es um ihre zukünftige globale Rolle in den internationalen Beziehungen geht.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber ihrer unmittelbaren geografischen Nachbarschaft in Osteuropa. Wodurch ist die sicherheitspolitische Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa geprägt und wie kommen ihre sicherheitspolitischen Aspekte zum Vorschein? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen scheint umso dringender zu sein, weil die sicherheitspolitische Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa durch die komplizierten Beziehung der EU zu Russland mit vielen Höhen und Tiefen geprägt ist.

2. Ziel und Methodik der Studie

Ziel der vorliegenden Studie ist es, die sicherheitspolitische Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa darzustellen, den wesentlichen Aspekten und Funktionen nachzugehen und mögliche zukünftige Entwicklungen mit Blick auf ihren Ausbau aufzuzeigen. Die theoretische Grundlage, auf der die Studie aufgebaut ist, leitet sich von der Theorie des regionalen Sicherheitskomplexes (Regional Security Complex Theory, RSCT) ab.[9] In Anlehnung daran liefert der geopolitische Ansatz Erklärung für die zukünftigen Entwicklungsszenarien zur sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa.

In dieser Studie wird nicht auf die Vorgeschichte und die historische Entwicklung der EU-Initiativen der europäischen Nachbarschaftspolitik gegenüber Osteuropa eingegangen, weil dies bereits in zahlreichen Beiträgen und Studien sehr umfangreich erörtert worden ist.[10] Ebenso wird sich diese Studie nicht mit der Geschichte und deskriptiver Erläuterung der eingefrorenen Konflikte in Osteuropa und der einzelnen EU-Missionen in dieser Region befassen.[11] Der Fokus der Studie liegt hauptsächlich auf den Aufgaben und Funktionen der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa und den daraus folgenden zukünftigen Entwicklungsperspektiven.

Zu Beginn wird die Hypothese dargelegt und die zur Untersuchung und Testung der Hypothese geeignete Methodik vorgestellt. Im ersten Teil der Studie werden die Begriffe und die theoretischen Prämissen, auf denen die Studie aufgebaut ist, erläutert. Die Theorie des regionalen Sicherheitskomplexes, verknüpft mit dem geopolitischen Ansatz, bildet den theoretischen Rahmen der Studie.

Im zweiten Teil werden die Einflussfaktoren (unabhängige Variablen, UV) zur Untersuchung der Hypothese nahegelegt. Zuerst wird die Wahrnehmung geopolitischer Interessen der EU gegenüber Osteuropa untersucht. Des Weiteren wird der aktuelle Stand der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa aufgezeigt. Darauf folgend wird das EU-Krisenmanagement gegenüber den eingefrorenen Konflikten unter die Lupe genommen. Dabei werden die wesentlichen sicherheitspolitischen Aspekte und Probleme der EU-Politik gegenüber Osteuropa erörtert. Im Anschluss daran wird die sicherheitspolitische Dimension nach ihrer aktuellen Lage bewertet und ihre Defizite und Mängel werden hervorgehoben.

Im dritten Teil wird die Einflussnahme externer Akteure auf die sicherheitspolitische Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa untersucht. Hierbei wird die Rolle aller an der sicherheitspolitischen Konstellation beteiligten Staaten mit Machtpotential berücksichtigt. Zuerst wird auf das Weimarer Dreieck eingegangen und die trilateralen Beziehungen zwischen Frankreich, Deutschland und Polen mit Blick auf die sicherheitspolitische Dimension der Osteuropapolitik der EU aufgezeigt. Des Weiteren wird die Rolle Russlands, der USA (NATO) und der Türkei in Osteuropa analysiert. Daraus resultierend wird das zukünftige geopolitische Bild bezüglich der Chancen und Potentiale für die EU-Politik gegenüber Osteuropa vorgestellt. Abschließend wird erörtert, welche gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen und welche Gegensätze sich in der Region herauskristallisieren lassen.

Im letzten Teil der Studie wird die Hypothese überprüft und anschließend werden die Ergebnisse bewertet. Danach werden anhand der Szenariobildung die zukünftigen Entwicklungsszenarien mit Blick auf den Ausbau der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa aufgezeigt. Sie zielen auf die Überwindung der geopolitischen Veränderungen im internationalen System und der Mängel der bisherigen sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa. Die Erörterung der aufgezeigten Handlungsoptionen rundet die vorliegende Studie ab. Abschließend werden die wesentlichen Schlussfolgerungen zusammengefasst.

2.1 Hypothese

In der vorliegenden Studie zur Untersuchung der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa wird von der neorealistischen Grundprämisse ausgegangen, dass die EU an mehr Macht gewinnen bzw. ihre geopolitische Einflusssphäre ausweiten soll, wenn sie als strategisch handelnder Akteur in einer globalisierten Welt agieren will. Die Ausgangsthese lautet folglich, dass die EU ihre Macht und den damit einhergehenden Einfluss in der unmittelbaren geografischen Nähe in Osteuropa ausbauen und vertiefen muss, um in der internationalen „Konkurrenz der Weltregionen“ ausreichend Präsenz zu haben. In dieser geografischen Nähe sind die geopolitischen Interessen der EU als strategisch handelnder Akteur noch zu schwach vertreten.

Die sich daraus ableitende Hypothese setzt einen kausal bedingten Zusammenhang voraus, der folgendermaßen lautet: Je intensiver die EU sich mit der Zielsetzung von geopolitischen Interessen gegenüber Osteuropa auseinandersetzt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die sicherheitspolitische Dimension (abhängige Variable, AV) der EU-Politik gegenüber Osteuropa wirksamer und effizienter ausgebaut und vertieft wird.

Die Wahrnehmung geopolitischer Interessen der EU gegenüber Osteuropa gilt als die notwendige Bedingung für die Erfüllung der Hypothese.[12] Der Ausbau und die Vertiefung geopolitischer Präsenz wie auch geopolitischen Einflusses der EU in Osteuropa gelten entsprechend als die hinreichende Bedingung für die Bestätigung der Hypothese.

2.2 Methodik

Zur Überprüfung der Hypothese werden mehrere unabhängige Variablen herangezogen. Zuerst wird die Wahrnehmung geopolitischer Interessen (UV1) der EU gegenüber Osteuropa untersucht und mit Blick auf die aufgestellte Hypothese analysiert. Im Anschluss daran wird der aktuelle Stand der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa aufgezeigt und die wesentlichen Probleme werden diesbezüglich erläutert. Als weitere unabhängige Variable wird dann das Konfliktmanagement (UV2) der EU in Osteuropa herangezogen.[13] Darauf folgend wird die Einflussnahme der wesentlichen Akteure in Osteuropa (UV3) untersucht und überprüft.

Nach einer umfassenden Untersuchung der unabhängigen Variablen wird die Hypothese getestet und die daraus folgenden Ergebnisse werden bewertet. Es wird bei der Hypothesentestung deduktiv vorgegangen, wobei der kausale Zusammenhang von Ursache und Wirkung nach dem Prinzip seines wahrscheinlichen Auftretens überprüft wird. Mit Hilfe der Methode der Erklärung wird die Hypothese durch Ursache-Wirkungs-Relationen getestet. Die Testung der aufgestellten Hypothese lehnt sich sowohl an qualitative als auch quantitative Methoden an. Die methodologische Vorgehensweise in der vorliegenden Studie wird normativ-ontologisch begründet. Hierbei werden szenariobasierte, prognostische Aussagen von der Testung der Hypothese und der Bewertung der Ergebnisse abgeleitet, welche die Verifizierung der Hypothese unterstützen.

3. Theoretische Grundlage

3.1 Darlegung der Begriffe

3.1.1 Macht und Einfluss

Die in der vorliegenden Studie verwendete Begrifflichkeit leitet sich aus dem neorealistischen Ansatz ab.[14] Der theoretische Ansatz des Neorealismus[15] besagt, dass die Staaten als Hauptakteure in einer anarchischen Struktur des internationalen Systems agieren und als rationale Nutzenmaximierer sich daran anpassen wollen. Dabei handelt es sich um den relativen Machtgewinn, den sie durch ihr Handeln und ihre Zielsetzungen anstreben, und nicht um die absolute Machterhaltung. Sie handeln nach dem Selbsthilfeprinzip und versuchen gegenüber den anderen Akteuren ihre Macht aufrechtzuerhalten. Durch diese Verhaltensstrategie wird immer eine Balance-of-power-Konstellation von allen Akteuren erzielt. Das Streben nach militärischer Macht, d.h. militärischer Überlegenheit, bzw. nach militärischem Gleichgewicht lässt sich als „Strukturmerkmal der internationalen Beziehungen“ kennzeichnen.[16] Als erwünschtes Endergebnis (Output) dieser sicherheitsorientierten Handlungsstrategie gilt die Gewährleistung der strategischen Stabilität in den Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren.

Das Konzept der Macht kann auf unterschiedliche Art und Weise angewendet werden.[17] Macht umfasst zum einen die Handlungsfähigkeiten eines Staates im internationalen Umfeld und zum anderen den Prozess der Einflussnahme auf andere Akteure.[18] Berücksichtigt man Macht als die Handlungsmöglichkeiten eines Akteurs, so kann man feststellen, dass die EU über eine breite Machtpotential-Palette in allen möglichen Politikbereichen verfügt. Russland hat ebenso vielfältige Handlungsmöglichkeiten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, wo die Ex-Sowjetrepubliken geografisch situiert sind.[19]

Des Weiteren definiert Nye die Macht als „[…] die Fähigkeit, andere in ihrem Verhalten so zu beeinflussen, dass man am Ende jenes Ergebnis erhält, welches man bevorzugt.“[20] Dabei unterscheidet er zwischen der harten und der weichen Macht (hard vs. soft power) je nach den Ressourcen, die erforderlich sind.[21] Daraus folgend ist die Macht ein mehrdimensionaler Begriff und die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten sind immer kontextbezogen.[22]

Durch die Globalisierung ist es für die Staaten „vergleichsweise leicht, andere Akteure in ihren Bestrebungen zu behindern oder zu blockieren, aber schwierig, ihre Verhaltensweisen und damit auch zukünftige Entwicklungen insgesamt in spezifische Richtungen [zu] lenken.“[23] Der Einfluss wird durch die Bereitschaft und die Fähigkeit bestimmt, das Verhalten der anderen zu beeinflussen und es in die gewünschte Richtung zu steuern. Die Einflussnahme ist von der Spannbreite, dem Umfang und der Machtstärke wie auch den Kosten und Instrumenten der Machtausübung abhängig.[24] Dabei wird die Macht in Einflussnahme umgewandelt, wenn der notwendige politische Wille da ist.[25] In der vorliegenden Studie sind für die Untersuchung der unabhängigen Variablen die machtbasierte Einflussnahme und die Kontextbezogenheit (Osteuropa) besonders wichtig.[26]

3.1.2 Geopolitik und Geostrategie

In der Zeit der Globalisierung gewinnt die Geopolitik aufgrund der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verflechtung der Regionen der Welt wieder an Bedeutung. Die Geopolitik ist „[…] die Wahrnehmung von geopolitischen Interessen eines Staates bzw. einer Gruppe von Staaten.“[27] Aus der Wahrnehmung spezifischer geopolitischer Interessen resultiert die Formulierung geostrategischer Aufgaben und eng damit verbundener geostrategischer Ziele. Der neorealistische Ansatz der internationalen Beziehungen ordnet die geopolitischen Interessen den „[…] Kategorien der Macht-, Interessen- und Einflusssphärenpolitik“ zu.[28] Die Formulierung geopolitischer Interessen deckt „[…] einen geografischen Raum mit seinen spezifischen Eigenschaften (räumlich gebundene, wirtschaftliche und demografische Faktoren) sowie seinen Mächtekonstellationen […]“.[29] Die Zielsetzung geopolitischer Interessen wird als Geostrategie eines Staates bzw. einer Gruppe von Staaten bezeichnet.[30] Die Geostrategie ist somit die „Konzeption für die planmäßige Realisierung strategischer und sicherheitspolitischer Ziele unter Berücksichtigung geografisch und geopolitisch bestimmter regionaler und weltweiter Bedingungen.“[31]

Die gegenwärtige Ordnungsstruktur der internationalen Beziehungen wird in der Zeit der Globalisierung durch „die stark gestiegene Zahl der relevanten Akteure und die exponentielle Zunahme der Dichte, der Häufigkeit und der Reichweite der Interaktionsprozesse“ geprägt und ist demzufolge „immer schwerer zu steuern.“[32] Die geografische Lage der Staaten ist aufgrund der Geostrategie „[…] weiterhin bestimmend für ihre sicherheitspolitische und strategische Bedeutung.“[33] Die geopolitische Perspektive in der vorliegenden Studie bezieht sich auf die geografische Lage von Osteuropa und erweitert die sicherheitspolitische Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa. Dabei erweist sich die Frage als besonders wichtig: Ist die EU ein geostrategischer Akteur in Osteuropa? Brzezinski definiert jene Staaten als geostrategische Akteure, „die die Kapazität und den nationalen Willen besitzen, über ihre Grenzen hinaus Macht und Einfluss auszuüben, um den geopolitischen S tatus quo in einem [die eigenen] Interessen berührenden Ausmaß zu verändern […].“[34] Diese Frage wird in der vorliegenden Studie näher analysiert.

Wenn von externer Sicherheitspolitik die Rede ist, muss man in Betracht ziehen, unter welchen Bedingungen die Sicherheit wirksam ist.[35] Die Wirksamkeit der externen Sicherheitspolitik ist heutzutage auf das erfolgreiche Agieren einer internationalen Ordnungsmacht zurückzuführen.[36] Die Rolle der Ordnungsmacht in den internationalen Beziehungen haben die USA im neuen Jahrhundert nach dem Wegfall der anderen Ordnungsmacht – der Sowjetunion, übernommen. Die Erfüllung dieser Rolle wird gegenwärtig erschwert, denn ein multipolares System von mehreren regionalen Großmächten ist langsam im Entstehen. Infolge der Globalisierung befinden sich die militärische Sicherheitspolitik wie auch andere Politiksektoren im Umbruch.[37] Die neuen Gegebenheiten im Bereich der Sicherheitspolitik erfordern eine breite Palette von militärischen und nicht-militärischen Mitteln. Der komplexe Prozess der objektiven bzw. subjektiven sicherheitspolitischen Wahrnehmungsbildung ergänzt auch den komplexen Begriff der wirksamen Sicherheit und besteht „[…] in den Kalkulationen zum Sicherheitsbegriff und zu den Möglichkeiten, Sicherheit zu erhöhen und Sicherheitsrisiken zu mindern, den realen Gegebenheiten möglichst nahe zu kommen und diese optimal auszuschöpfen.“[38]

3.2 Theorie des regionalen Sicherheitskomplexes

Die Theorie des regionalen Sicherheitskomplexes besagt, dass Akteure, die geografisch beieinander liegen und gemeinsame Sicherheitsagenda teilen, einen regionalen Sicherheitskomplex bilden.[39] Des Weiteren wird laut dieser Theorie behauptet, dass die sicherheitspolitische Interdependenz zwischen benachbarten Akteuren anhand der regionalen Sicherheitskomplexe deutlich besser zum Vorschein kommt. Geopolitisch betrachtet sind die Großmächte damit befasst, in die regionalen Sicherheitsdynamiken einzugreifen, sie negativ oder positiv zu beeinflussen und kontinuierlich zu prägen.[40]

Drei Hauptfaktoren beeinflussen die Sicherheitsdynamiken innerhalb eines regionalen Sicherheitskomplexes. Zum einen sind es die innergesellschaftlichen Entwicklungen, die von Bedeutung sind. Dann spielt auch die „materielle Struktur“, die sich aus der „Machtverteilung zwischen den regionalen Akteuren“ ableitet, eine Rolle. Drittens ist die „soziale Struktur“ wichtig, die als Konstellation zwischen den verschiedenen im regionalen Sicherheitskomplex vorherrschenden Rollen und Mustern – Feind, Rivale, Freund –, zu verstehen ist.[41] Der Dynamik und Interaktion zwischen den drei Hauptfaktoren zufolge ergeben sich drei mögliche Sicherheitsordnungen: kompetitive und kooperative Sicherheitsordnungen und Sicherheitsgemeinschaften.[42]

Die Sicherheitspolitik weist auch eine „strukturpolitische Komponente“ auf, weil die gegenwärtigen Risiken und Bedrohungen nicht nur von den Akteuren ausgehen, sondern auch durch „Strukturmerkmale des jeweiligen Kontextes“ deutlich beeinflusst werden.[43] Anhand dieses theoretischen Ansatzes können die Strukturen regionaler Sicherheitskomplexe erörtert und zukünftige Szenarien für die sicherheitspolitische Interdependenz zwischen den daran beteiligten Akteuren aufgezeigt werden. Des Weiteren bietet er einen theoretischen Rahmen für die Entwicklung zukünftiger politischer Handlungsoptionen innerhalb eines regionalen Sicherheitskomplexes an.[44]

4 Einflussfaktoren der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa

4.1 Die Wahrnehmung geopolitischer Interessen in Osteuropa

Die Sicherheitspolitik eines Akteurs ist dann effizient und wirksam, wenn sie imstande ist „[…] Wahrnehmungen (unmittelbarer) Bedrohungen abzuwenden bzw. ihre Wirkungen einzudämmen und (längerfristiger) Gefährdungen bzw. Risiken in der Sicht der Subjekte der Sicherheitspolitik zu vermeiden oder doch mindestens zu verringern und beherrschbar zu machen“.[45]

Die Wahrnehmung von geopolitischen Interessen eines Staates oder einer Gruppe von Staaten kann man als Geopolitik bezeichnen.[46] So leiten sich die geopolitischen Interessen der EU aus ihrer unmittelbaren geografischen Nachbarschaft ab, welche Osteuropa mit seinen spezifischen Machtkonstellationen mit einschließt.[47] Der strategische Umgang mit diesen geopolitischen Interessen, d.h. der Ausbau der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa, versteht sich dann als Geostrategie. Einen besonders wichtigen Aspekt bei der Formulierung der Geostrategie stellt die Auseinandersetzung eines Akteurs oder einer Gruppe von Akteuren mit der Wahrnehmung geopolitischer Interessen dar.[48] Sie leitet sich immer aus einer spezifischen geografischen Kontextsituation ab. Hierbei muss zwischen zwei Kategorien unterschieden werden. Es handelt sich um objektiv betrachtete neue Risiken und Bedrohungen bzw. subjektiv betrachtete neue Risikoeinschätzungen. Wiederum ergeben sich daraus objektiv neue Möglichkeiten der Risikobeherrschung und subjektiv neue Einschätzungen dieser Möglichkeiten.[49]

Die Bedrohungswahrnehmungen sind nach RSCT als subjektive Einschätzung innerhalb einer politischen Gesellschaftsstruktur zu verstehen und nicht als objektive Gegebenheit.[50] Die gegenwärtigen von der EU wahrgenommenen Sicherheitsbedrohungen als Ergebnis der kollektiven Risikoeinschätzungen von außen und der veränderten gesellschaftlichen Erwartungen bzw. des innerstaatlichen Drucks schließen eine breite Palette von militärischen und nichtmilitärischen Bedrohungen mit ein. Die traditionellen Bedrohungen durch bewaffnete Auseinandersetzungen mit anderen Mächten mit potentiellen oder aktuellen feindseligen Absichten nehmen nach wie vor eine prioritäre Stellung in den strategischen Dokumenten der EU ein.[51] Es sind aber vorwiegend die nichtmilitärischen Bedrohungen, die die Sicherheitswahrnehmungen der EU prägen. Hohes Gefahrenpotential bergen laut der ESS[52] die horizontale und vertikale Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die organisierte internationale Kriminalität, der Menschen-, Drogen- und Waffenhandel, die Schurkenstaaten und internationale terroristische Netzwerke. Auch das unkontrollierte Bevölkerungswachstum, die unkontrollierten Migrationswellen, die Pandemien und Umweltkatastrophen, die Verknappung natürlicher Ressourcen, die Armut und der Hunger sowie die Unterentwicklung werden von der EU als Sicherheitsbedrohungen wahrgenommen. Nicht zuletzt werden auch die Prozesse des Staatszerfalls und die schlechte Regierungsführung als Bedrohungen für die Sicherheitsinteressen der EU eingeschätzt.[53]

Aufgrund der Komplexität der gegenwärtigen Sicherheitsbedrohungen und Risiken gewinnen immer öfter „kooperative Formen der Sicherheitspolitik – wie Ad-hoc-Koalitionen, kollektive Verteidigungsbündnisse und Arrangements kooperativer und kollektiver Sicherheit“[54] an Bedeutung für die Sicherheitspolitik. Daher nehmen immer mehr Akteure und Gruppen von Akteuren an der multilateralen Ausgestaltung und Institutionalisierung der Sicherheitspolitik teil, weil durch die Globalisierung die oben aufgezeigten Sicherheitsbedrohungen von allen Akteuren mehr oder weniger gleichermaßen wahrgenommen werden.

Das traditionelle Konzept der Sicherheitspolitik als Verteidigung nach außen und Abwehr militärischer Bedrohungen genießt laut der öffentlichen Meinung innerhalb der EU-Mitgliedstaaten nach wie vor eine relativ hohe öffentliche Unterstützung. Aus der Abbildung 1 wird ersichtlich, dass die öffentliche Unterstützung für die Entwicklung der GASP (GSVP) in den letzten 20 Jahren innerhalb der EU-Mitgliedstaaten konstant sehr hoch geblieben ist. Sie liegt durchschnittlich bei fast 70 % der Befragten, und mit dem EU-Beitritt der neuen 10 Kandidaten nach 2004 steigt die Zahl sogar durchschnittlich auf 74 %.[55]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Öffentliche Unterstützung für die ESVP (GSVP) in Europa in % zwischen 1992-2006.[56]

Auch die allgemeine öffentliche Unterstützung für die GASP ist in den letzten zwanzig Jahren konstant sehr hoch geblieben. Aus der Abbildung 2 wird ersichtlich, dass zwei Drittel der Befragten eine außenpolitische Entscheidungsfindung auf EU-Ebene unterstützen. Dabei handelt es sich um die Außenpolitik gegenüber EU-Nichtmitgliedern. Insgesamt beläuft sich der Unterschied zwischen der Unterstützung für außenpolitische Entscheidungen durch die EU und solchen durch die nationalen Regierungen prozentuell ausgedrückt auf fast 40 %.[57]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2 Wer sollte die Entscheidungen im Bereich der Außenpolitik treffen?[58]

Wird die Frage konkret nur in Bezug auf die gemeinsame Verteidigung auf EU-Ebene gestellt, so fallen die Ergebnisse anders als oben gezeigt aus. Dieser Trend wird aus der Abbildung 3 ersichtlich. Diesbezüglich spaltet sich die öffentliche Meinung auf, wobei durchschnittlich nur ein wenig mehr als 50% der Befragten eine gemeinsame Entscheidungsfindung im Rahmen der Verteidigungspolitik unterstützen und weniger als 50 % der Befragten sich nach wie vor für die nationale Entscheidungsfindung im Bereich der Verteidigung aussprechen. Insgesamt fallen aber die Ergebnisse der öffentlichen Unterstützung für die Entwicklung der GASP/GSVP seit 1990 sehr zufriedenstellend aus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3 Wer soll die Entscheidungen im Bereich der Verteidigung treffen?[59]

Mit Blick auf die Verteidigungspolitik der EU zeigt sich die Tendenz, dass der Kern der ursprünglichen EU-Gründungsmitglieder deutlich stärker an einer europäischen gemeinsamen Entscheidungsfindung im Bereich der GSVP interessiert ist. Auch die jüngsten EU-Mitgliedstaaten aus Zentral- und Osteuropa unterstützen im Durchschnitt aktiver die Entwicklung der GSVP.[60]

Allerdings bestehen Meinungsverschiedenheiten bei den Mitgliedstaaten bezüglich der einzelnen sicherheitspolitischen Ausrichtungen, Rollen oder Aufgaben der GASP/GSVP. Insbesondere im Bereich der GSVP bleibt die öffentliche Unterstützung für gemeinsame Entscheidungsfindung nach wie vor unzureichend. Abbildung 4 zeigt auf, dass die Mehrheit der befragten EU-Bürger drei nichtmilitärische Gefahren als größte Sicherheitsbedrohungen wahrnehmen und einstufen. Alle drei potentiellen Gefahren, nämlich die organisierte Kriminalität, die Gefahr durch den Unfall eines Kernkraftwerks und der internationale Terrorismus, lassen sich auf die Region Osteuropa übertragen.[61] Ein relativ hoher Anteil der EU-Bürger nimmt auch die potentiellen militärischen Bedrohungen durch einen nuklearen Konflikt in Europa, einen konventionellen Krieg in Europa und den Ausbruch eines neuen Weltkrieges (jeder vierte von zehn Bürgern) wahr. Darüber hinaus nimmt ein relativ hoher Anteil der Bevölkerung die geostrategische Bedeutung einer potentiellen Bedrohung durch ethnische Konflikte in Europa wahr (ca. 65 %). Die ethnischen Konflikte in Osteuropa bergen beispielsweise solches Bedrohungspotential, was sicherlich die Bedrohungswahrnehmungen der EU-Bürger mit prägt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4 Potentielle Gefahren laut der befragten EU Bürger pro bestimmter Anzahl von Bedrohungen (%)[62]

Des Weiteren wird aufgezeigt, welche potentiellen Rollen eine gemeinsame europäische Armee laut der öffentlichen Meinung in den EU-Ländern spielen kann. Das zeigen die öffentlichen Wahrnehmungen (Etiketten) von den Aufgaben einer gemeinsamen europäischen Armee. Die Abbildung 5 zeigt die Auseinandersetzung der europäischen Bürger mit verschiedenen geostrategischen Aufgaben, die die EU im Bereich der Verteidigung erfüllen sollte. Die Ergebnisse sind 2001 erhoben worden und reflektieren die Vorstellungen der EU-Bürger aus 15 Mitgliedstaaten. Es wird aus der Abbildung ersichtlich, dass sieben von zehn Bürgern die Verteidigung des Territoriums der EU-Mitgliedstaaten als erstrangig wahrnehmen. Dieses Ergebnis zeigt die in der Gesellschaft bereits vorhandene Vorstellung von der EU als strategisch handelnder Akteur, der die EU-Bürger über das eigene Territorium hinaus von externen Bedrohungen und Gefahren verteidigen soll.[63] Weiterhin wird aus der Abbildung ersichtlich, dass jeder vierte von zehn EU-Bürgern die Intervention bei Konflikten an den EU-Grenzen unterstützt. Das bedeutet zwar eine geringere aber noch relativ stabile Unterstützung für die geopolitischen Interessen der EU in ihrer geografischen Peripherie. Allerdings fällt auf, dass die allgemeine Unterstützung für die Petersberger Aufgaben der EU im Sinne von humanitären Einsätzen, militärischen Interventionen in anderen Teilen der Welt und der Teilnahme an UNO-Operationen relativ gering ist. Auch die sehr geringe Unterstützung für die Symbolisierung einer europäischen Identität fällt auf. Daraus folgt, dass die EU-Mitgliedstaaten noch viel Überzeugungsarbeit in den eigenen Ländern leisten müssen, um die Bürger von der geostrategischen Bedeutung der Entwicklung der GSVP (Petersberger Aufgaben) und der Entwicklung der europäischen Sicherheitsidentität zu überzeugen. Die Wahrnehmung der geopolitischen Bedeutung der europäischen Peripherie ist allerdings in der Bevölkerung bereits vorhanden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5 Die Rolle der Europäischen Armee laut der befragten EU-Bürger (% der Ja-Antworten pro Land)[64]

Im Weiteren wird die Wahrnehmung geopolitischer Interessen in Osteuropa aufgezeigt. Die geostrategische Priorisierung der Region hat in der russischen und türkischen Sicherheitspolitik bereits stattgefunden. Auch die USA sind trotz der Verlagerung ihrer Sicherheitsinteressen auf Asien nach wie vor stark an der Region interessiert. Im Gegenteil dazu hat die EU ihre geostrategischen Interessen in dieser Region noch nicht intensiv wahrgenommen bzw. festgelegt. Die geopolitischen Sicherheitsinteressen der EU gegenüber Osteuropa wurden zwar als Ergebnis der kollektiven Risikoeinschätzungen auf EU-Ebene in mehreren strategischen Dokumenten festgelegt.[65] Allerdings misst die EU Osteuropa noch nicht die Bedeutung bei, die diese Region mit Blick auf ihre geopolitische Lage zwischen Europa und Asien in der veränderten, globalisierten Konkurrenz der Regionen eingenommen hat. Die EU-Mitgliedstaaten nehmen den „[…] immensen geopolitischen Vorteil“[66] der geografischen Lage von Osteuropa nicht gleichermaßen wahr, deshalb hat die EU bis jetzt keine einheitliche geopolitische Vision bzw. geostrategische Vorgehensweise gegenüber Osteuropa entwickeln können. Es bestehen mehrere Osteuropa-Perzeptionen (Etiketten) innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, welche die Wahrnehmung geopolitischer Interessen der EU in Osteuropa prägen. Aus der Abbildung 6 wird ersichtlich, wie die Wahrnehmung geopolitischer Interessen in Osteuropa in den strategischen Dokumenten der EU[67] verankert worden ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6 Wahrnehmung geopolitischer Interessen der EU gegenüber Osteuropa[68] (eigene Darstellung)

Die EU sieht sich mit der Übertragung von Sicherheitsproblemen aus Osteuropa auf die EU-Mitgliedstaaten konfrontiert. Zwar ist die EU ihrerseits willig, den osteuropäischen Ländern gewisse Konditionen gegen die wirtschaftliche und technische Annäherung aufzustellen, aber gleichzeitig ist sie abgeneigt, jegliche sicherheitspolitische Verantwortung in der Form von Sicherheitsgarantien für diese Länder zu übernehmen. Die Einführung und Durchsetzung des klassischen Schuman-Modells der technischen und wirtschaftlichen gefolgt von der politischen (und eventuell auch sicherheitspolitischen, a.A.) Annäherung der osteuropäischen Länder an die EU gestaltet sich aufgrund der fragilen und sehr stark personalisierten bzw. zentralisierten Machteliten in Osteuropa als schwierig.[69] Das stellt ein immenses Problem für die strategische Vorgehensweise und sicherheitspolitische Agenda der EU gegenüber Osteuropa dar.

Aus der Analyse der Wahrnehmung geostrategischer Interessen der EU gegenüber Osteuropa ergibt sich eine klare positive Tendenz, die für den geostrategischen Ausbau der EU-Politik gegenüber Osteuropa deutlich spricht. Im Einklang mit der konstant hohen Unterstützung für die GASP/GSVP durch die öffentliche Meinung sind zahlreiche„[…] außenpolitische Strategien für das regionale Umfeld […]“[70] in Osteuropa ins Leben gerufen worden, die die Wahrnehmung der geopolitischen Interessen der EU widerspiegeln.[71] Im Folgenden soll die aktuelle Lage der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa untersucht werden.

4.2 Aufgaben und Funktionen der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa

Hier werden die wesentlichen Probleme aufgezeigt, die die sicherheitspolitische Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa gegenwärtig prägen. Sie sind bereits von vielen Autoren in zahlreichen Studien nahegelegt und analysiert worden.[72] Diese Probleme weisen auf die Notwendigkeit eines wirksameren und effizienteren sicherheitspolitischen Ansatzes der EU gegenüber Osteuropa hin.

Die Sicherheitspolitik der EU kann dann wirksam und effizient sein, wenn sie imstande ist, „[…] Bedrohungen schon im Vorfeld zu entschärfen bzw. (etwa durch wirksame Abschreckung oder Verteidigungsfähigkeit) abzuhalten.“[73] Die Hauptaufgabe der Sicherheitspolitik besteht darin, „den Schutz und die Integrität eines Staatsgebietes und seiner Bevölkerung von außen zu gewährleisten und […] zu ermöglichen, ihre Wünsche und Ziele selbstbestimmt zu verwirklichen.“[74] Die Subjekte der Sicherheitspolitik sind demzufolge der Staat und die Bürger. Im Fall der EU sind die Subjekte dementsprechend der Staatenbund, die EU-Mitgliedstaaten und die Bürger. Die sicherheitspolitische Entscheidungsfindung wird sowohl durch „objektive Gegebenheiten“ als auch durch „veränderte kollektive Einstellungen und Erwartungen der Gesellschaft mit Blick auf die Sicherheitspolitik“[75] beeinflusst.

Die GSVP ist ein relativ junger Politikbereich der EU, der sich seit dem Beschluss zum Aufbau von ESVP auf dem Kölner Gipfeltreffen 1999 rasch entwickelt hat.[76] Die Aufgaben der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik leiten sich aus der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) 2003[77] ab, die drei strategische Ziele festgelegt hat: Abwehr von Bedrohungen[78] ; Stärkung der Sicherheit in der europäischen Nachbarschaft; Errichtung einer Weltordnung auf der Grundlage eines wirksamen Multilateralismus.[79]

Die Aufgabe der Sicherheitspolitik ist es, „Bedrohungen in der Einschätzung der Subjekte der Sicherheitspolitik wirksam abzuwenden bzw. zu entschärfen“.[80] Dabei sind für die Formulierung von Interessen, als Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Prozesse, die subjektiven Bedrohungsperzeptionen von besonderer Bedeutung. Die Bedrohungen sind wie oben nahegelegt militärischer und nichtmilitärischer Art. Der sicherheitspolitische „Aufwand zum Erhalt von (nationalen und internationalen) Ordnungsstrukturen“ wird immer größer und kostspieliger, und zugleich wird der „Aufwand, mit dem nachhaltige Zerstörungen erreicht werden können“ viel eingeschränkter. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit „vielfältiger und vieldimensionaler Machtmittel“ anzuwenden.[81] Dabei besteht kein direkter Zusammenhang zwischen der Art der Bedrohung und den Gegenmaßnahmen in Bezug auf diese Bedrohung.[82] In der Zeit der Globalisierung hat sich gezeigt, dass „militärische Mittel durchaus ambivalent“ zur Erhaltung und Erweiterung von Ordnungsstrukturen des internationalen Systems sein können.[83] Die Staaten können sich heutzutage nicht nur auf die militärischen Mittel zum Ausbau ihrer politischen Macht und zur Vergrößerung des Wohlstandsniveaus verlassen. Diese Kategorien sind nicht mehr nur an „Territorium und Bevölkerung“ gebunden und gleichzeitig „immer weniger ausschließlich innerhalb nationalistischer Grenzen mobilisierbar.“[84]

Der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa stehen vier Aufgaben zu. Die EU soll im sicherheitspolitischen Bereich der Beziehungen zu Osteuropa aktiver und handlungsfähiger sein, kohärenter nach außen auftreten und mit ihren Partnern intensiver kooperieren.[85] Von der ESS 2003 lassen sich die Hauptfunktionen der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa definieren. Zum einen soll die EU adäquate Fähigkeiten angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen in Osteuropa ausbauen, zum anderen soll die EU die Sicherheit und Stabilisierung in den Krisengebieten in Osteuropa anhand ihres zivil-militärischen Instrumentariums gewährleisten. Schließlich soll die EU eine vernetzte Sicherheitspolitik zur strukturellen Konfliktprävention als wirkungsvolle Voraussetzung für Frieden und Stabilität entwickeln und sie in Osteuropa anwenden.[86]

Die sicherheitspolitische Funktion der europäischen Nachbarschaftspolitik in Osteuropa leitet sich von den drei strategischen Zielsetzungen in der ESS 2003 ab.[87] Im Mittelpunkt steht die Gewährleistung der Sicherheit und Stabilität in der unmittelbaren Nachbarschaft in Osteuropa. Die Erfüllung der sicherheitspolitischen Funktion der EU-Politik in Osteuropa wird mit Hilfe von kurz-, mittel- und längerfristigen sicherheitspolitischen Instrumenten vollzogen. Zu den wirksamen nicht-militärischen Hauptinstrumenten der EU gehören Druck, wirtschaftliche Anreize, Konditionalität im Rahmen der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik, Sanktionen, Embargo und Veränderung der Vertragsbeziehungen.[88] Dabei handelt es sich um eine Aufteilung zwischen den Instrumenten einer supranational bedingten Nachbarschaftspolitik der EU und dem intergouvernemental bedingten Einsatz sicherheitspolitischer Instrumente im Rahmen der GSVP-Missionen in Osteuropa.[89] Zu den wichtigsten militärischen Gegenmaßnahmen gehören die Drohung mit Gewalt und die Gewaltanwendung. Auch die sog. präventiven humanitären Einsätze und die militärischen Operationen gehören zum militärischen Instrumentarium der Sicherheitspolitik.

Aus der Tabelle 1 wird ersichtlich, welche militärischen und nichtmilitärischen Bedrohungen die Anwendung von welchen militärischen bzw. nichtmilitärischen Gegenmaßnahmen am Beispiel der EU-Sicherheitspolitik gegenüber Osteuropa voraussetzen würden.

[...]


[1] Vgl. dazu das AGIL-Schema der Funktionen eines Systems nach Parsons 1951a und 1951b.

[2] Es sind die aufsteigenden Mächte China, Japan, Russland, Indien, Brasilien und Südafrika gemeint.

[3] Vgl. dazu Schröder 2011. Neuestes Beispiel dafür ist die von Putin vorgeschlagene Gründung einer „Eurasischen Union“ (vgl. dazu Focus Online 20.10.2011), die Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken mit einschließt. Der erste Schritt in diese Richtung ist durch die Errichtung einer Zollunion zwischen Russland, Belarus, Kasachstan und neulich Kirgistan (vgl. dazu EAWG 2011; GUS-Freihandelsraum 2011) getan worden.

[4] Die sechs osteuropäischen Länder werden als geografische Pufferzone angesehen, weil sie an Russland und die EU grenzen und für beide Akteure eine gemeinsame europäische Nachbarschaft darstellen.

[5] Vgl. dazu Açikmeşe 2005: 1. Er nennt die wesentlichen sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen sich die EU nach den letzten Erweiterungswellen 2004 und 2007 konfrontiert sieht, und zwar meint er die eingefrorenen Konflikte, die grenzüberschreitende Kriminalität, die wirtschaftliche Instabilität, die terroristischen (und separatistischen) Bewegungen, die unkontrollierte Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die ethnischen Probleme und die Probleme mit den Minderheiten.

[6] Gemeint ist die institutionelle Konsolidierung nach dem Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft getreten ist. Vgl. dazu GASP und GSVP 2011.

[7] Vgl. dazu Simon 2010.

[8] Aktuelle Beispiele dafür sind die Kontroverse zur Findung einer gemeinsamen Position gegenüber den politischen Umwälzungen in der südlichen Peripherie der EU (Nordafrika) und der NATO-Einsatz in Libyen.

[9] Vgl. Buzan/Waever 2003, zitiert von Merlingen et al. 2008: 97.

[10] Vgl. zur Geschichte und allen Initiativen der EU-Nachbarschaftspolitik (ENP), in ENP 2011. Vgl. zur Nachbarschaftspolitik der EU Lippert 2006, 2008; Schmidt/Tsantoulis 2009.

[11] Auf die eingefrorenen Konflikte in Osteuropa wird im Abschnitt 4.3, Seite 26 eingegangen.

[12] Vgl. dazu Skiba 2003: 4. Er erläutert die sicherheitspolitische Dimension der EU-Politik gegenüber der Türkei und die geopolitische Rolle der Türkei.

[13] Auch die Energieversorgungssicherheit ist unentbehrlich für die Untersuchung der aufgestellten Hypothese. Allerdings haben zahlreiche Autoren sich bereits umfassend mit den geopolitischen Implikationen der Region Osteuropa für die Energiesicherheitspolitik der EU befasst und sie auf die aufgestellte Hypothese der vorliegenden Studie untersucht. Aus diesem Grund wird diese Variable in der vorliegenden Studie nicht untersucht. Vgl. zu einer umfassenden Analyse diesbezüglich Pepe 2011. Vgl. zu den neuesten Verhandlungen der EU mit Aserbaidschan und Turkmenistan über den Bau eines „Trans Caspian Pipeline System“ European Neighborhood Watch 2011: 18-19.

[14] Vgl. dazu Pepe 2011: 23.

[15] Vgl. zu Neorealismus Waltz 1979, 2000; Gilpin 1981; Grieco 1988.

[16] Forndran 1981: 8, zitiert nach Zielinski 1985: 41.

[17] Vgl. dazu Nolte 2006: 9-16.

[18] Vgl. dazu Russett et al. 2004: 98, zitiert von Schär et al. 2006: 8.

[19] Vgl. dazu Schär 2006: 8.

[20] Nye 2004: 2, zitiert von Schär et al. 2006: 8.

[21] Ebenda, 5-10. Zur Erläuterung des Unterschieds zwischen harten und weichen Machtmitteln vgl. Nye 2004: 10-13.

[22] Vgl. dazu Nolte 2006: 11.

[23] Maull 2003: 14.

[24] Vgl. dazu Baldwin 2002: 178-179, zitiert von Nolte 2006: 11.

[25] Vgl. dazu Russett et al. 2004: 19-22, zitiert von Schär et al. 2006: 9.

[26] Vgl. dazu Schär et al. 2006: 9.

[27] Skiba 2003: 6. Vgl. zu einer ausführlichen Zusammenfassung des Begriffs Geopolitik Skiba 2003: 6-7.

[28] Skiba 2003: 7.

[29] Brill 1994: 20-21, zitiert von Skiba 2003: 7.

[30] Ebenda.

[31] Buchbender et al. 2000, zitiert von Skiba 2003: 25.

[32] Skiba 2003: 12.

[33] Skiba 2003: 9.

[34] Vgl. dazu Brzezinski 1999: 66f., zitiert von Skiba 2003: 25.

[35] In der vorliegenden Studie wird nur die externe Sicherheit, d.h. die Sicherheit nach außen, berücksichtigt.

[36] Vgl. dazu Maull 2003: 1.

[37] Ebenda.

[38] Maull 2003: 3.

[39] Vgl. dazu Buzan/Weaver 2003: 44, zitiert von Merlingen et al. 2008: 97.

[40] Ebenda.

[41] Ebenda, 98.

[42] Ebenda.

[43] Vgl. dazu Maull 2003: 14-15.

[44] Vgl. dazu Buzan/Weaver 2003: 50 und 54, zitiert von Merlingen et al. 2008: 98

[45] Maull 2003: 14.

[46] Vgl. dazu Skiba 2003: 7.

[47] Vgl. dazu Brill 1994: 20-21, zitiert von Skiba 2003: 7.

[48] Vgl. dazu Skiba 2003: 7.

[49] Vgl. dazu Maull 2003: 14.

[50] Vgl. dazu Buzan/Weaver 2003: 491, zitiert von Merlingen et al. 2008: 97-87.

[51] Vgl. dazu Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) 2003 und der Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie 2008.

[52] Ebenda..

[53] Vgl. dazu Skiba 2003: 22.

[54] Maull 2003: 15.

[55] Vgl. dazu Foucault/Irondelle 2008: 3.

[56] Foucault/Irondelle 2008: 2.

[57] Vgl. dazu Peters 2011: 8.

[58] Ebenda.

[59] Peters 2011: 9.

[60] Vgl. dazu Peters 2011: 22-23.

[61] Vgl. dazu Abbildung 6 Die Wahrnehmung geopolitischer Interessen der EU gegenüber Osteuropa, S.20.

[62] Manigart 2001: 4.

[63] Vgl. dazu Manigart 2001: 18-19.

[64] Manigart 2001: 7.

[65] Vgl. zur ESS 2003, in: Fußnote 51, S. 14. Vgl. zu Schwarzmeer-Synergie 2007, zur Östlichen Partnerschaft 2009. Vgl. zu EU-Nachbarschaftspolitik, Fußnote 10, S. 6.

[66] Vgl. dazu Frankenberger 1997, zitiert von Skiba 2003: 22.

[67] Vgl. dazu, in: Fußnote 51, S. 14.

[68] Vgl. dazu Skiba 2003: 12.

[69] Vgl. dazu Popescu/Wilson 2011: 5.

[70] Vgl. dazu Skiba 2003: 22.

[71] Vgl. dazu, in: Fußnote 51, S. 14.

[72] Vgl. dazu Lynch 2007, Shupe 2009, Stewart 2009, Huff 2010, Tiede/Schirmer 2010.

[73] Maull 2003: 4.

[74] Ebenda, 12.

[75] Ebenda, 13.

[76] Vgl. dazu Katsioulis 2008: 2.

[77] Vgl. dazu ESS 2003, in: Fußnote 51, S. 14.

[78] Der umfassende Sicherheitsbegriff der EU, welcher eine breite Palette von Sicherheitsbedrohungen mit einschließt, wurde bereits im dritten Teil der Studie über die Wahrnehmungen geopolitischer Interessen der EU gegenüber Osteuropa erörtert.

[79] Vgl. dazu ESS 2003, in: Fußnote 51, S. 14.

[80] Maull 2003: 13.

[81] Ebenda, 9.

[82] Ebenda, 13-14.

[83] Ebenda, 11.

[84] Ebenda, 10-11.

[85] Vgl. dazu ESS 2003, in: Fußnote 51, S. 14.

[86] Vgl. zur vernetzten Sicherheit Borchert/Rummel 2004.

[87] Vgl. dazu ESS 2003, in: Fußnote 51, S. 14.

[88] Ebenda.

[89] Darauf wird im Kapitel 4.3 EU-Konfliktmanagement, S. 26 eingegangen.

Final del extracto de 92 páginas

Detalles

Título
Der Ausbau der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa
Subtítulo
Ein geostrategischer Imperativ?
Calificación
1.00
Autor
Año
2011
Páginas
92
No. de catálogo
V272244
ISBN (Ebook)
9783656643326
ISBN (Libro)
9783656643340
Tamaño de fichero
4802 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
ausbau, dimension, eu-politik, osteuropa, imperativ
Citar trabajo
Velina Tchakarova (Autor), 2011, Der Ausbau der sicherheitspolitischen Dimension der EU-Politik gegenüber Osteuropa, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272244

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