Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Bild der Weiblichkeit
3. Autonomiestreben versus Determination
3.1. Lenz' Genieästhetik
3.2. Marie als Repräsentantin der Genieästhetik
3.3 Verobjektivierung Maries - Das bürgerliche Mädchen als Objekt der Triebbefriedigung
4. Maries Schuld oder Unschuld – „Marie als Engel oder Hure“
5. Schluss
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Jakob Michael Reinhold Lenz, ein bedeutender Repräsentant des Sturm und Drang thematisiert in seinem Werk „Die Soldaten“ die soziale Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft zu seiner Gegenwart sowie die sexuellen Machtverhältnisse, denen bürgerliche Mädchen ausgesetzt waren.
In meiner Hausarbeit werde ich zunächst einen kurzen Einblick zum Topos der Verführung im bürgerlichen Trauerspiel geben, da das Thema der Verführung das zentrale Thema zur Zeit des 18. Jahrhunderts darstellt.[1] Als nächstes werde ich herausarbeiten, inwiefern Marie Wesener, ein Mädchen von bürgerlicher Herkunft, die nach Autonomie strebt, ihre ersehnte Freiheit nach Autonomie verwirklichen kann und welche Grenzen aufgrund der gesellschaftlichen Umstände bestehen bleiben. Darauf folgt ein Einblick in die Genieästhetik von Lenz, der als Sturm und Dränger in seiner Tragikomödie die handelnden, schöpferischen und individualisierten Charaktere im Zentrum stehen lässt.[2] Marie Wesener repräsentiert die Strömung des Sturm und Drang. An dieser Stelle werde ich auf die Merkmale, die Marie als Vertreterin der Genieästhetik kennzeichnet, eingehen. Aufgrund der Verobjektivierung Maries', zu der ich in dieser Hausarbeit Stellung nehmen werde, kann ihr Drang zur Individualisierung nicht erfolgen. Hier werde ich Bezug auf das Verhältnis zwischen Marie und den Soldaten sowie auf das Verhältnis zwischen Marie und ihrem Vater nehmen, das ausschlaggebend dafür ist, dass Marie keine Chance hat, eigenständig als Subjekt zu agieren. Danach werde ich erörtern, inwiefern Marie als schuldig oder unschuldig zu betrachten ist. Es soll geklärt werden, inwiefern sie ein selbstverschuldetes Opfer der Verführungskünste von den Soldaten ist und wie Lenz als Sturm und Dränger auf diese Position Bezug nimmt. Inwieweit entspricht Marie tatsächlich dem Motiv der „verführten Unschuld“?[3] Am Ende der Hausarbeit wird eine abschließende Zusammenfassung der Analyseergebnisse folgen.
2. Bild der Weiblichkeit
„Die Verführung eines unbescholtenen bürgerlichen Mädchens durch einen Bösewicht aus den oberen Klassen mit ihrem Tod als letzter Konsequenz“[4] stellt seit der Aufklärung das beliebteste Thema in bürgerlichen Dramen dar. Der weibliche Körper als Objekt und Projektion der männlichen Begierde und die Frage nach der weiblichen Tugend stehen im Zentrum bürgerlicher Dramen.[5] Die Frauen, deren sexuelle Bedürfnisse im 18. Jahrhundert ausgeschlossen wurden, waren einem gewaltsamen Zwang zur Tugendhaftigkeit ausgesetzt. Ihre Weiblichkeit war begrenzt auf die beiden Extreme Heilige/ Hure[6]. Durch die Zuordnung zu einer dieser beiden Stereotypen war es für die bürgerlichen Mädchen unmöglich, sich selbst als Individuum zu verwirklichen. Der Fokus der Begierde seitens der Männer richtete sich auf die unschuldigen bürgerlichen Frauen. Je unschuldiger eine Frau war, desto größer war die Begierde des Mannes[7]. Ließ ein bürgerliches Mädchen sich auf einen der skrupellosen Männer ein, so konnte ihre Reinheit nur durch den Tod hergestellt werden.[8]
Lenz' Protagonistin in den „Soldaten“ umgeht den Tod, sie stirbt nicht für ihre „Sünden“, im Gegensatz zu Lessings Emilia Galotti oder Sara Sampson.[9] Dadurch, dass Marie überlebt, wird sie zur Hure.[10] Das Bild der Frau als Hure, die Kehrseite des Begriffs der weiblichen Tugend, war von großer Bedeutung im 18. Jahrhundert.[11] In Lenz' „Soldaten“ trifft der Offizier Haudy die Aussage, dass eine Hure immer eine Hure werde, unter welche Hände sie auch gerate (I,4)[12]. Dieses Frauen verachtende Urteil des Offiziers bringt genau das auf den Punkt, was Lenz in den „Soldaten“ thematisiert und gleichzeitig kritisiert. Die ungleich herrschenden Machtverhältnisse der Geschlechter und Stände. Lenz stellt in den Soldaten dar, wie die Protagonistin, das bürgerliche Mädchen Marie Wesener, skrupellos von der heuchlerischen und egoistischen Zuwendung der Soldaten verführt wird, in die Position der Hure gebracht wird und sich nicht selber verwirklichen kann. Er stellt dar, wie die sozial schwächeren Mädchen des Bürgertums zu Opfern der adligen Offiziere gemacht wurden. Hiermit verbindet Lenz seine Kritik an der bestehenden Ständegesellschaft, durch die ein glückliches Zusammenleben in einer Gesellschaft nicht möglich ist.
3. Autonomiestreben versus Determination
3.1. Lenz' Genieästhetik
Lenz als Repräsentant der Strömung des Sturm und Drang verneint die überlieferten Gattungskonventionen und normativen Poetiken.[13] Er fordert als Stürmer und Dränger, als Genie, die Autonomie des Künstlers, die er als eine notwendige Voraussetzung betrachtet, um als Genie agieren zu können. Im folgenden Zitat von Lenz wird die Forderung nach Autonomie und Individualität deutlich hervorgehoben:
„Zwar kenne man „Gesetze der menschlichen Seele […], aber wo bleibt die individuelle? Wo die uneckle, immer gleich glänzende, rückspiegelnde, sie mag im Todtengräberbusen forschen oder unterm Reifrock der Königin?“ (Lenz 5 2001, 23)[14]
Aus dieser Forderung nach Individualität leitet er die Kritik an der herrschenden Ständegesellschaft ab, da die sozialen Umstände in einer solchen Gesellschaft keinen Raum zur individuellen Verwirklichung gewährleisten. Er plädiert dafür, den „großen Charakter“ ins Zentrum seiner Tragödie zu stellen.[15] Die literarischen Figuren sollen nicht nur als Medium fungieren und sich der Handlung unterordnen. Im Zentrum soll der aktiv handelnde Mensch, der einen individuellen und schöpferischen Charakter aufweist, stehen.[16] Doch Lenz, der das Geschehen wahrheitsgetreu wiedergibt, seine konkreten Erfahrungen, die er in Straßburg machte[17], miteinbezieht und die Stände so darstellt, wie sie sind[18], zeigt in den „Soldaten“, dass die Figuren den Begebenheiten untergeordnet werden und sie nicht als autonome, sondern als determinierte Figuren agieren.[19] Die Figuren erscheinen als „Spielbälle“ der gesellschaftlichen Umstände, „ein Umstand, der zu einer offenen, episierenden Dramenform führt.“[20] Lenz, der die normative Regelpoetik ablehnt, ist der Überzeugung, dass das dichterische Genie allein die Einheit des Dramas darstelle und der Dichter solle, so fordert er, Eins mit all seinen Werken sein, genauso, wie Gott es ist. Um dieses Ziel zu erreichen, stellt die Autonomie des Künstlers eine unumgängliche Voraussetzung dar. Die Regeln seien im gleichgültig.[21]
Das dichterische Genie ist dasjenige, das die Einheit des Dramas präsentiert:
„Was heissen die drey Einheiten? hundert Einheiten will ich euch angeben, die alle immer noch die eine bleiben. Einheit der Nation, Einheit der Sprache, Einheit der Religion, Einheit der Sitten- ja was wird’s denn nun? Immer dasselbe, immer und ewig dasselbe. Der Dichter und das Publikum müssen die eine Einheit fühlen aber nicht klassifizieren. Gott ist nur Eins in allen seinen Werken, und der Dichter muß es auch seyn“ (Lenz 5 2001, 29)[22]
Neben der Forderung nach Autonomie fordert Lenz den Menschen dazu auf, den eigenen Geist bis hin zur Perfektion zu bilden und sich an dem eigenen Körper, den sinnlichen Empfinden zu erfreuen. Lenz betrachtet den Körper als einen „Vermittler der Glückseligkeit“.[23] Er bezeichnet den ihn als „Meßinstrument der Qualität der anderen und sich selbst vermittelten Wohltaten.“[24] Der Begriff der Leidenschaft besitzt bei Lenz einen hohen Stellenwert, da Lenz der Auffassung war, dass Leidenschaft zur Entwicklung der Perfektion beitrage.[25] An dieser Stelle erwähnt der Stürmer und Dränger, dass man nur durch „nicht zur Sucht pervertierten Genuß“ die Richtigkeit seines Handelns erkenne.[26]
In den „Soldaten“ zeigt Lenz anhand der skrupellosen Soldaten, die das bürgerliche Mädchen als Objekt ihrer Triebe benutzen, zu welchem Unheil ein falsches Verhältnis zur Sexualität führen könne. Lenz war einer von den Vertretern des Sturm und Drang, der die Gefahr und Auswirkungen auf die Disziplinierung des Körpers und der sexuellen Repression erkannte.[27] In seinen „Soldaten“ stellt er die Figuren aus niedrigen Verhältnissen dar, deren sexuelle Bedürfnisse in einer repressiven Alltagswelt nicht befriedigt werden können.[28] So erscheint Maries geliebte Autorität, ihr Vater bereits am Anfang der „Soldaten“ mit der Bemerkung, dass Marie genug Vergnügen mit ihren Freundinnen habe (I,3). Ihre Bedürfnisse werden ihr von dem Vater untersagt und strikt verboten. Lenz richtet seine Kritik einerseits auf den Soldatenstand, die ihren Trieben freien Lauf lassen und bürgerliche Mädchen gewissenlos verletzen, und auf der anderen Seite auf die streng untersagte Sexualität der bürgerlichen Mädchen, deren Triebe „kategorisch ausgeschlossen“ wurden.[29]
[...]
[1] Hallensleben, Silvia: Unaufhörlich Lenz gelesen, S.226.
[2] Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S.34.
[3] Hallensleben, Silvia: Unaufhörlich Lenz gelesen, S.227.
[4] Hallensleben, Silvia: Unaufhörlich Lenz gelesen, S.226.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. ebd.
[7] Marx, Anna: Das Begehren der Unschuld, S.17.
[8] Hallensleben, Silvia: Unaufhörlich Lenz gelesen, S.227.
[9] Vgl. ebd.
[10] Vgl. ebd.
[11] Hallensleben, Silvia: Unaufhörlich Lenz gelesen, S.225f.
[12] Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Die Soldaten. Eine Komödie. Stuttgart: Philipp Reclam 2004 (=Reclams Universal- Bibliothek 5899).
[13] Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama: S.35.
[14] Vgl. ebd. S.34f.
[15] Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama: S.35.
[16] Vgl. ebd. S.34.
[17] Ranke, Wolfgang: Dokumente und Erläuterungen: S.31.
[18] Winter, Hans- Gerd:Wunde Lenz, S.148
[19] Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S. 35.
[20] Vgl. ebd.
[21] Vgl. ebd.
[22] Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S.35.
[23] Zierath, Christof: Moral und Sexualität, S.20.
[24] Vgl. ebd.
[25] Vgl. ebd. S.25.
[26] Vgl. ebd. S.20.
[27] Luserke, Matthias: Lenz Studien, S.13.
[28] Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, S.53.
[29] Hallensleben, Silvia: Unaufhörlich Lenz gelesen, S.226.