Sozialkapital in Kenia nach den politischen Unruhen 2007/2008


Tesis de Máster, 2013

205 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Zusammenfassung

Abstract

1 Aktuelle Eindrücke aus dem gesellschaftlichen Leben Kenias
1.1 Motivation zur Untersuchung des Sozialkapitals in Kenia
1.2 Formulierung der Forschungsfragen und Beschreibung des Vorgehens

2 Sozialkapital: theoretische und empirische Erkenntnisse
2.1 Eine begriffliche Einordnung
2.1.1 Beziehungen in sozialen Netzwerken
2.1.2 Vertrauen
2.1.3 Soziale Kohäsion
2.1.4 Regierungsführung
2.2 Zur Bedeutung von Sozialkapital für Kenia
2.3 Sozialkapital in Post-Konfliktregionen

3 Der Untersuchungsgegenstand Kenia
3.1 Konflikte, Ethnizität und Binnenflucht in Afrika
3.2 Kurzer historischer und politischer Abriss Kenias
3.3 Die politischen Unruhen 2007/
3.4 Die Post-Konfliktära

4 Empirische Untersuchung
4.1 Datenmaterial
4.1.1 Quantitative Daten: Afrobarometer
4.1.2 Qualitative Daten: Interviews
4.2 Ergebnisse
4.2.1 Vertrauen
4.2.2 Soziale Kohäsion
4.2.3 Regierungsführung

5 Konklusion
5.1 Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick
5.2 Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Vertrauen in Gerichte

Abb. 2: Vertrauen in den Polizeiapparat

Abb. 3: Vertrauen in die regierende Partei

Abb. 4: Vertrauen in den Präsidenten

Abb. 5: Vertrauen in die oppositionelle Partei

Abb. 6: Generalisiertes Vertrauen im Jahre 2011

Abb. 7: Vertrauen in Abhängigkeit der ethnischen Zugehörigkeit im Jahre 2006

Abb. 8: Vertrauen in Verwandte

Abb. 9: Identitätsgefühl

Abb. 10: Empfundene Diskriminierung der eignen ethnischen Gruppe

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Analysekategorien der kognitiven Mikroebene sozialen Kapitals.

Tab. 2: Analysekategorien der kognitiven Makroebene sozialen Kapitals

Tab. 3: Analysekategorien der sozialen Kohäsion.

Tab. 4: Analysekategorien der strukturellen Mikroebene sozialen Kapitals

Tab. 5: Vorläufiger Kategorienbaum XXVI

Tab. 6: Soziodemographische Daten der interviewten Personen XXVII

Zusammenfassung

Das Ziel dieser Arbeit bestand darin, das Sozialkapital in Kenia nach den politischen Unruhen 2007/2008 zu erfassen und zu untersuchen, ob sich dieses aufgrund der Geschehnisse gewandelt hat. Eine gesonderte Betrachtung von Personen, die während den politischen Unruhen gewaltsam vertrieben wurden, sollte Aufschluss darüber geben, wie sich ihr Sozialkapitalbestand im Vergleich zur restlichen Bevölkerung verhält.

Für die Analyse des Sozialkapitalbestands in Kenia wurde eine weite Definition des Sozialkapitalkonzepts gewählt. Die zu untersuchenden Komponenten waren Vertrauen, soziale Kohäsion und Regierungsführung. Das Forschungsdesign beinhaltete eine Auswertung quantitativer und qualitativer Daten. Die quantitativen Daten wurden dem Afrobarometer entnommen. Die Einbeziehung der Werte aus den Jahren 2005, 2008 und 2011 in die Analyse sollte darüber Aufschluss geben, ob sich das Sozialkapital durch die politischen Unruhen 2007/2008 verändert hat. Die Erhebung qualitativer Interviews wurde eigens für diese Arbeit durchgeführt. Zum einen ermöglichten diese die Identifikation von Gründen für den Wandel des Sozialkapitals. Zum anderen erlaubte die Zusammensetzung der Stichprobe die differenzierte Betrachtung von direkt und indirekt Betroffenen. Die Ergebnisse sprechen für einen Wandel des Sozialkapitals in Folge der politischen Unruhen. Die meisten Subkomponenten der Variable Vertrauen haben einen Verlust erlitten. Die soziale Kohäsion – gemessen am Identitätsgefühl – hat in der Gesellschaft zugenommen. Binnenvertriebene verzeichnen hier einen Unterschied im Vergleich zur Gesamtgesellschaft. Sie berichten von einer stärkeren Identifikation mit der ethnischen Gruppe aufgrund der Geschehnisse von 2007/2008. Auch die Regierungsführung hat einen Wandel aufgrund der politischen Unruhen erlebt. Formal gesehen hat sie durch die Verabschiedung einer neuen Verfassung und die Einrichtung von Kommissionen zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen den Aufbau sozialen Kapitals angestoßen.

Der Wandel des Sozialkapitalbestands sollte auch zukünftig beobachtet werden, um die Auswirkungen der Regierungsinitiativen zu erfassen. Aktuell sollte vor allem den Rechten der Binnenvertriebenen und ihrer erfolgreichen Reintagration Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sich Angehörige dieser Gruppe aufgrund der traumatischen Erlebnisse zunehmend isolieren.

Abstract

The objectives of this research paper were to analyse the stock of social capital in Kenya after the post-election violence of 2007/2008 and to investigate whether there has been a change in the stock of social capital due to the violence. Furthermore, the data of internally displaced persons was observed separately in order to find out, if their stock of social capital displayed differences compared to the rest of the society.

For the purpose of analysing social capital a broad definition of the concept was chosen. The examined components were trust, social cohesion and governance. The study design included an analysis of quantitative and qualitative data. The quantitative data was derived from the Afrobarometer. The consideration of data from the years 2005, 2008 and 2011 was supposed to allow the identification of a change of social capital based on the post-election violence. The elicitation of qualitative interviews was conducted for this paper specifically. The interviews intended to reveal the reasons for the changes in social capital. Moreover, the composition of the sample allowed a distinction between directly and indirectly affected interviewees. The results suggest that social capital in Kenya has changed because of the post-election violence. The majority of the subcomponents of trust experienced a loss. Social cohesion – as measured by the feeling of identity – has increased. Here the results of internally displaced persons differ from the results of other people. They report a stronger identification with the ethnic group due to the events of 2007/2008. Governance has changed as well. Formally it has initiated the build-up of social capital by adopting a new constitution and by establishing a commission for solving past human rights violations.

The transition of social capital should be observed in future, so as to gather the effects of the government initiatives. Currently special attention should be given to the rights of internally displaced persons and to their reintegration because members of this group withdraw from interethnic life due to the traumatic experience during the post-election violence.

1 Aktuelle Eindrücke aus dem gesellschaftlichen Leben Kenias

O God of all creation

Bless this our land and nation.

Justice be our shield and defender

May we dwell in unity

Peace and liberty

Plenty be found within our borders.

Let one and all arise

With hearts both strong and true

Service be our earnest endeavour

And our Homeland of Kenya,

Heritage of splendour,

Firm may we stand to defend.

Let all with one accord

In common bond united,

And the glory of Kenya

The fruit of our labour

Fill every heart with thanksgiving.

Diese Strophen zitieren die Nationalhymne der Republik Kenia, die im Jahre 1963 – dem Jahr in dem das Land seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft erlangte – verfasst wurden. In den Zeilen fallen die Worte „Eintracht“ und „Frieden“. Nahezu ein halbes Jahrhundert nach dem historischen Moment der Unabhängigkeitserklärung offenbarte sich dem kenianischen Volk ein Szenario des Schreckens. Nach Bekanntgabe der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen im Dezember 2007 brachen gewaltsame Gefechte aus, die ein nie zuvor erlebtes Ausmaß annahmen. Statt Eintracht und Frieden zeigte sich eine Zerrissenheit des kenianischen Volkes entlang ethnischer Grenzen. Dieses Ereignis liegt nun etwa fünf Jahre zurück. Die gewaltsamen Ausschreitungen, die über mehrere Wochen andauerten, haben tiefe Wunden hinterlassen. Bis heute sind viele Fragen – wie die Frage der Verantwortung – und Probleme, die aus den politischen Unruhen resultierten, ungeklärt. Fährt man durch Kenia, so wird einem das Ausmaß nur ansatzweise bewusst. Hier und da sieht man die Flüchtlingslager, in denen die internen Vertriebenen leben. Viele von ihnen mussten ihre Heimat aufgrund der ethnischen Konflikte 2007/2008 unerwartet verlassen und haben alles verloren. Sie sind zweifelsohne die Hauptleidtragenden. Bis zum heutigen Zeitpunkt konnten zahlreiche Menschen noch nicht wieder rückgesiedelt werden. Frust mit den politischen Instanzen ist das Resultat. Immer wieder kommt es zu Protesten der internen Vertriebenen, die auf ihre Reintegration warten. Doch die Folgen der politischen Unruhen erstrecken sich nicht alleine auf die internen Vertriebenen, sondern auf alle Teile der Gesellschaft. Das Land erholt sich allem Anschein nach nur langsam von den erfahrenen Strapazen.

Die ethnische Vielfalt Kenias hat seit der Unabhängigkeitserklärung des Landes immer wieder gewaltsame Konflikte entfacht. Aufgrund der Schwere der Konflikte von 2007/2008 stellt sich die Frage, ob die Ereignisse tendenziell den Rückzug in die eigene ethnische Gruppe ausgelöst haben oder ob sie vielleicht als Weckruf fungierten, der ein Aufeinander-Zugehen ethnischer Gruppen bewirkt hat. Viele Fragen bleiben auf den ersten Blick offen. Hat sich das Miteinander der Bürgerinnen und Bürger Kenias nach diesen schwerwiegenden Erlebnissen überhaupt geändert? Ist das Miteinander in der Post-Konfliktperiode mit dem Miteinander vor den Wahlen 2007 vergleichbar? Gestaltet sich das Miteinander in der kulturell diversen Gesellschaft Kenias im Vorher-Nachher-Vergleich schwieriger oder gar einfacher? Und wie steht es um das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger Kenias zur Politik des Landes? Diese Fragen liefern genug Raum für Spekulationen.

Zieht man die Medien als Informationsquelle heran, so eröffnet sich dem Betrachter auf den ersten Blick ein heterogenes Bild: die Sehnsucht nach Brüderlichkeit einerseits, die Enttäuschung in die Politik und die Mitmenschen andererseits. Viel wurde bereits getan, um die psychischen und physischen Wunden, die die politischen Unruhen hinterließen, zu heilen. Die Politik versucht allem Anschein nach ihren Pflichten nachzukommen: die Einrichtung eines Komitees zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen, die finanzielle Unterstützung der internen Vertriebenen und nicht zuletzt die Verabschiedung einer neuen Verfassung, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Trotzdem ist die Unzufriedenheit mit den politischen Instanzen unübersehbar. Verfolgt man beispielsweise die Cartoons des Karikaturisten Gado, die in der Tageszeitung Daily Nation sowie im Internet erscheinen, so kommen das Misstrauen und die Frustration in die Politik deutlich zum Ausdruck. Nicht selten werden hier konkret die nach den politischen Unruhen ins Leben gerufenen Aktionen der Regierung und der Umgang mit den internen Vertriebenen angeprangert. Auch Konflikte zwischen ethnischen Gruppen sind nach wie vor existent. Ein genanntes Beispiel seien hier die Gefechte im Tana River County, die alleine im Jahr 2012 zahlreiche Opfer forderten. Orientiert man sich an diesen Fakten, so scheint ein friedliches Zusammenleben in weite Ferne gerückt.

Andererseits sind die zahlreichen Anstrengungen ein friedlicheres Kenia zu schaffen unübersehbar. Besonders ergreifend ist die überwältigende Menge an Bürgerinitiativen, die eine Annäherung von Menschen verschiedener ethnischer Herkunft bezwecken sollen und zu einem friedlichen Miteinander aufrufen. Frauengruppen, Jugendgruppen, Friedensmärsche, interethnische Projekte, Studenteninitiativen – in allen möglichen Formen zeigt sich der Wille nach Veränderung. Beim Blick in die kenianischen Printmedien merkt man jedoch auch hier schnell, wie präsent die Angst der Menschen vor einer Wiederholung der Geschehnisse trotz dieser Bemühungen ist. Immer wieder wird für ein friedliches Miteinander geworben, das Thema Diversität aufgegriffen oder der Tribalismus scharf kritisiert und immerfort wird an die traumatischen Ereignisse der Vergangenheit zurückerinnert. Nehme man beispielsweise einen Artikel der Tageszeitung The Standard. Why true nationalists must rise above tribe tituliert eine Schlagzeile in der Ausgabe vom 13. November 2012. Der Artikel liest sich wie ein Appell an das kenianische Volk ethnische Grenzen zu überwinden. Der Autor Bill Kembo ruft seine Landsleute zu einem friedlichen Zusammenleben auf, welches aus der Gesellschaft heraus resultiert und nicht auf das Eingreifen ausländischer Diplomaten angewiesen ist. Er versucht mit dem Artikel den Kenianerinnen und Kenianern ins Gewissen zu reden, die Verantwortung jedes Einzelnen betonend. Immer wieder fallen Begriffe wie „wir“, „uns“ oder „Patriotismus“ und immer wieder betont er ausdrücklich, dass die Menschen in Kenia ein Volk sind und sich solidarisch miteinander zeigen müssen. Beim Lesen werden schnell die Verzweiflung und die Angst vor einer Wiederholung der Ereignisse von 2007/2008 deutlich. Doch inwiefern ist diese Angst gerechtfertigt? Warum ist sie trotz dem spürbaren Willen, ethnische Grenzen zu überbrücken, vorhanden? Ein oberflächlicher Blick auf das gesellschaftliche Leben in Kenia lässt all die hier aufgekommenen Fragen unbeantwortet. Daher ist das Ziel dieser Arbeit mittels empirischer Forschungsmethoden Antworten auf diese ungeklärten Fragen zu finden.

1.1 Motivation zur Untersuchung des Sozialkapitals in Kenia

Es gibt zwei Hauptbewegründe für die Durchführung dieser Forschungsarbeit. Zum einen sollen Erkenntnisse über das Zusammenleben in der ethnisch diversen Gesellschaft Kenias gewonnen werden. Seit dem Ausbruch der politischen Unruhen und deren Schlichtung am 28. Februar 2008 ist eine lange Zeit vergangen. Die danach ins Leben gerufenen Initiativen belaufen sich im Großen und Ganzen auf den Aufbau sozialen Kapitals und die Stärkung sozialer Kohäsion. Trotzdem sind die ethnischen Spannungen im Land noch immer spürbar. Der Countries at Risk Report (2012) von Genocide Watch ordnete Kenia im Jahre 2012 – genau wie im Jahre 2008 unmittelbar nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen – dem sechsten von acht Stadien Preparation / Potential Massacre zu. Als Opfer identifizierte Genocide Watch die Regierungsgegner, als Angreifer die Regierungsanhänger. Im Jahre 2010, in dem Kenia Stadium 5 erreichte, war eine Polarisierung entlang ethnischer Grenzen – konkret zwischen den Volksgruppen der Luo und Kikuyu – zu beobachten. Kurzum, ein gesamtgesellschaftlicher Zusammenhalt scheint nach wie vor nicht existent.

Zum anderen soll sich diese Forschungsarbeit den Binnenvertriebenen annehmen – Menschen, die durch die politischen Unruhen große materielle Verluste erlitten haben, da sie mittels Gewalt zur Migration gezwungen wurden und teils schwer traumatisiert sind. Migration gibt es seit Menschengedenken. Durch die Globalisierung hat die Anzahl an Migranten in den letzten Jahrzehnten jedoch stark an Zuwachs gewonnen. Ein besonders hoher Anstieg lässt sich bei der erzwungenen Migration verzeichnen, sie ist ein Phänomen des globalen sozialen Wandels (Castles, 2003). Die Instabilität vieler afrikanischer Länder sowie die immer beschränkteren Möglichkeiten zur regulären Migration legen die Vermutung nahe, dass sich dieser Trend auch zukünftig fortsetzen wird (Zlotnik, 2003). Flucht- und Migrationsursachen gibt es zu Hauf. Diese im Kern zu ersticken könnte die effektivste Methode zur Eindämmung der Probleme, die durch Migration entstehen, sein (Nuscheler, 2010). Ein Interesse hinsichtlich der Bekämpfung von Migrationsursachen besteht hierbei also nicht alleine für Kenia, sondern auch für die umliegenden Länder, wenn nicht sogar auf globaler Ebene. Eine erfolgreiche Reintegration der Binnenflüchtlinge ist das ultimative Ziel der Politik. Wünschenswert wäre eine rasche Rücksiedlung, da die Lebensbedingungen in den Flüchtlingscamps oft katastrophal und menschenunwürdig sind. Zu einer erfolgreichen Reintegration bedarf es allerdings weit mehr als der einfachen Rücksiedlung. Auch das zerstörte Sozialkapital muss neu aufgebaut werden, nicht nur um der Reintegration, sondern auch um der Sicherung des Friedens willen – was sich wieder auf den ersten Hauptbeweggrund bezieht und sich der Kreis hier somit schließt.

Die Sicherung des Friedens ist für die Entwicklung des Landes von großer Wichtigkeit. Die Kosten der politischen Unruhen betrugen für Kenia nach einer Schätzung des World Development Report der Weltbank (2011) 1,2 % des Bruttoinlandsprodukts. Ein stabiler Frieden würde auch der wirtschaftlichen Entwicklung Kenias zugutekommen. Als Entwicklungsland arbeitet Kenia auf die Erreichung der Millennium Development Goals hin. Die Reduktion der Armut ist in diesem Rahmen eines der zu erfüllenden Ziele. Die empirische Forschung zeigt: Im Allgemeinen geht die weltweite Armut zurück, allerdings hängen durch Gewalt geplagte Länder hierbei anderen Ländern um 2,7 Prozentpunkte hinterher. Wiederkehrende Gewalt gefährdet somit die Erfüllung der Millennium Development Goals. Kein Land mit geringem Einkommen, welches von Konflikten betroffen war oder ist, konnte bisher auch nur eines der Entwicklungsziele erreichen. Besonders leidtragend sind hierbei – wie so oft – Kinder, denen es in Folge von gewaltsamen Konflikten nicht nur an ausreichend Nahrung, sondern auch an Bildung mangelt (Weltbank, 2011). Kurzum, die Entwicklung eines Landes setzt Sicherheit und Frieden voraus. Frieden kann in stabiler oder instabiler Form auftreten (Jahn, 2002; zitiert nach Bonacker & Imbusch, 2010, S. 134). Zur Sicherung des stabilen Friedens müssen neben internationalen auch innergesellschaftliche Bedingungen erfüllt sein. Senghaas (2001; zitiert nach Bonacker & Imbusch, 2010; S. 135) identifiziert sechs dieser innergesellschaftlichen Bedingungen. Zwei hiervon sind das Gewaltmonopol des Staates und die individuelle Affektkontrolle. Die restlichen vier Kriterien – die Rechtsstaatlichkeit, die demokratische Partizipation der Bürger, die sozial gerechte Verteilung von Lebenschancen sowie die konstruktive Konfliktbearbeitung- und -austragung durch die Politik – lassen sich dem Sozialkapitalkonzept zuordnen.

Generell kann davon ausgegangen werden, dass ethnische Heterogenität den Aufbau sozialen Kapitals erschwert. Mehrfach wurde empirisch nachgewiesen, dass sich ein hoher Grad an Diversität negativ auf Dimensionen sozialer Kohäsion und sozialen Kapitals auswirkt (z. B. Putnam, 2007). Kenias Gesellschaft ist durch einen hohen Grad an ethnischer und kultureller Vielfalt charakterisiert. Dennoch kann die Situation keineswegs als aussichtlos gelten. Eine Untersuchung lokaler Gemeinschaften in Großbritannien belegte, dass ein Zusammenhang zwischen Diversität und geringer sozialer Kohäsion in erster Linie auf einen niedrigen sozioökonomischen Status zurückzuführen ist (Letki, 2008). Nur wenn ökonomische Deprivation und geringe soziale Konnektivität vorzufinden sind, hat ethnische Diversität einen negativen Effekt auf Vertrauen (Sturgis, Burton-Smith, Read & Allum, 2011). Dass ethnische Heterogenität sich nicht zwangsläufig negativ auf gesellschaftliche Variablen auswirken muss, lässt sich ebenfalls auf Länderebene an Beispielen wie der Schweiz erkennen. Auch heterogene Gesellschaften können über Zusammenhalt verfügen. Viele nachkoloniale Staaten sehen sich hierbei jedoch mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Neben der ökonomischen Deprivation sieht Matthies (2005) die Probleme konkret in der Legitimations- und Funktionsproblematik der Staaten, in kulturellen Identitätsproblemen, in der sozialen Integration und in sozioökonomischen Verteilungsmechanismen. Da es gerade nachkoloniale Staaten sind, die mit derartigen Problemen zu kämpfen haben, ist es besonders wichtig sich ihrer in der Wissenschaft anzunehmen und nach möglichen Lösungsansätzen zu suchen. Sie benötigen soziales Kapital um die Effizienz ihrer Institutionen steigern und somit wiederum ihr Wachstum ankurbeln zu können (Easterly, Ritzan & Woolcock, 2006).

Die Sicherung eines stabilen Friedens und die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes sind von vielen Faktoren, die auf eine sehr komplexe Art und Weise zusammenwirken, abhängig. Die Untersuchung, wie sich ausgewählte Dimensionen sozialen Kapitals verhalten, liefert sicherlich nur einen partiellen Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Die soziale Dimension des Ganzen ist jedoch keineswegs zu unterschätzen. Ihre Wichtigkeit wird in Kapitel 2.2 anhand empirischer Ergebnisse zusammengefasst. Eine positive Einstellung der Bevölkerung Kenias gegenüber ethnischer Diversität würde zur Eliminierung gewaltsamer Ausschreitungen einen Großteil beitragen (Apollos, 2012).

Zur Erfassung des gesellschaftlichen Miteinanders in Kenia wurde das Sozialkapitalkonzept gewählt. Mehrere Gründe waren hierfür ausschlaggebend. Vor allem wurde auf dieses Konzept zurückgegriffen, weil es sehr umfassend ist und verschiedenste Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens beinhaltet. Durch die Strukturierung des Begriffs und die Identifikation seiner einzelnen Komponenten wird der Terminus greifbar und somit messbar. Obwohl die Abgrenzung verschiedener Sozialkapitaldefinitionen als umstritten gilt (Serageldin & Grootaert, 1998), werden mehrere Begriffserklärungen und Ausdifferenzierungen im Rahmen dieser Arbeit berücksichtigt, um die Aufnahme aller zur Verfügung stehenden Variablen zu ermöglichen. Des Weiteren wurde das Sozialkapitalkonzept als passend erachtet, weil es interdisziplinär ist. Es vereint verschiedene wissenschaftliche Richtungen und ermöglicht somit eine realitätsnahe Interpretation. Ein weiterer Grund für die Wahl des Sozialkapitalkonzepts war seine ausführliche Untersuchung in der theoretischen und empirischen Forschung. Besonders in der Entwicklungszusammenarbeit kommt dieses Konzept häufig zur Anwendung. Die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Komponenten und der Zusammenhang des gesamten Konzepts mit wirtschaftlichem Fortschritt und politischer Stabilität machten seine Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit besonders interessant. Auch die empirischen Erkenntnisse zur Veränderung des Sozialkapitals in Folge von gewaltsamen Konflikten sprachen für die Wahl dieses Konzepts. Da Empiriker davon ausgehen, dass jedes Land über einen Bestand an Sozialkapital verfügt (Serageldin & Grootaert, 1998), konnte eine ergebnislose Untersuchung von vorneherein ausgeschlossen werden.

1.2 Formulierung der Forschungsfragen und Beschreibung des Vorgehens

Wie soeben dargestellt gibt es zwei Hauptanliegen für die Bearbeitung der Thematik dieser Forschungsarbeit. Zum einen sollen Erkenntnisse über das aktuelle Zusammenleben im ethnisch heterogenen Kenia gewonnen werden. Zum anderen besteht Interesse daran, die Lage der internen Vertriebenen zu erfassen. In Bezug auf ersteres Anliegen ist es notwendig den Status quo des sozialen Miteinanders in Kenia zu analysieren. Aufgrund der schwerwiegenden Ereignisse von 2007/2008 und vor allem wegen den in der Post-Konfliktperiode ins Leben gerufenen Initiativen zum Aufbau sozialen Kapitals, soll Bezug auf den gesamten Zeitraum von unmittelbar vor den politischen Unruhen bis einschließlich 2012 genommen werden. Dies ist auch notwendig, um einen eventuell stattgefundenen sozialen Wandel identifizieren zu können. Aus diesen Überlegungen resultieren die ersten beiden Forschungsfragen:

Forschungsfrage 1: Hat sich das Sozialkapital in Kenia aufgrund der politischen Unruhen 2007/2008 verändert und wie ist ein eventueller Wandel zu charakterisieren?

Forschungsfrage 2: Wie kann der aktuelle Bestand an Sozialkapital in der Gesellschaft Kenias beschrieben werden?

Des Weiteren ermöglichen die im Rahmen dieser Arbeit erhobenen qualitativen Daten eine differenzierte Betrachtung von direkt und indirekt von den politischen Unruhen betroffenen Personen. Es ist naheliegend, dass die Binnenvertriebenen die größten Verluste erlitten haben, womöglich auch in Bezug auf soziales Kapital. Sie sind besonders auf die Unterstützung der Regierung angewiesen. Außerdem sind sie die Hauptzielgruppe vieler Initiativen zum Aufbau sozialen Kapitals. Hieraus ergibt sich die dritte Forschungsfrage:

Forschungsfrage 3: Gibt es zwischen indirekt Betroffenen und internen Vertriebenen erkennbare Unterschiede im Sozialkapital und dessen eventuellem Wandel?

Die Forschungsfragen bilden die Basis der Untersuchung, an ihnen orientiert sich der gesamte Aufbau dieser Arbeit. Zu ihrer Beantwortung soll folgendermaßen vorgegangen werden:

Im Anschluss an dieses Kapitel folgt die theoretische und empirische Fundierung des Forschungsthemas in Kapitel 2. Hierfür wird zunächst in Abschnitt 2.1 der Begriff des Sozialkapitals ausführlich dargelegt. Zudem werden die in dieser Arbeit ausgewählten Komponenten dieses Konzepts erläutert und erklärt, wie diese sich wechselseitig beeinflussen. Auf die theoretische Einbettung des Sozialkapitalbegriffs folgt in Abschnitt 2.2 ein literarischer Überblick über empirische Erkenntnisse zur Bedeutung von Sozialkapital für eine Gesellschaft. Hierbei werden vier Phänomene aufgegriffen, die nachweislich mit Sozialkapital in Verbindung stehen: ökonomische Entwicklung, gewaltsame Konflikte, Politik und Kriminalität. Im Anschluss werden mögliche negative Effekte von sozialem Kapital aufgeführt. Dieser Teil der Arbeit vertieft, warum eine Untersuchung des Sozialkapitals besonders im Falle Kenias von Interesse ist. Auch der darauf folgende Abschnitt 2.3 leistet hierzu einen Beitrag. Er setzt sich mit dem Bestand von Sozialkapital in Post-Konfliktregionen auseinander. Die hier zusammengetragenen Ergebnisse aus Theorie und Empirie zeigen auf, dass ein Konflikt entweder einen sozialen Wandel im positiven Sinne bewirkt oder Sozialkapital nachhaltig zerstört.

In Kapitel 3 wird der Untersuchungsgegenstand beleuchtet. In Abschnitt 3.1 werden zunächst innerstaatliche – insbesondere ethnische – Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent im Allgemeinen betrachtet. Hierbei wird dem Phänomen der erzwungenen Migration besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Innerstaatliche Konflikte und erzwungene Migration werden kurz in den Kontext des globalen Zeitalters eingebettet. Abschnitt 3.2 liefert einen kurzen historischen und politischen Abriss ab der Zeit der Unabhängigkeit Kenias bis kurz vor den politischen Unruhen, auf die detailliert in Abschnitt 3.3 eingegangen wird. Abschnitt 3.4 setzt sich mit der Post-Konfliktperiode auseinander, der Fokus liegt hierbei auf der Beschreibung der Regierungsinitiativen zum Aufbau sozialen Kapitals und auf den Hilfeleistungen für die internen Vertriebenen.

Der praktische Teil der Arbeit wird in Kapitel 4 ausgearbeitet. In Abschnitt 4.1 wird zunächst das Datenmaterial beschrieben. Hierbei handelt es sich um die quantitativen Daten des Afrobarometers und die einzig für diese Forschungsarbeit erhobenen qualitativen Daten aus leitfadengestützten Interviews. Für beide Datensätze werden die Datenerhebung, das Design, die Stichprobe und die Auswertungsmethode erläutert. Daraufhin erfolgt in Abschnitt 4.2 die Präsentation der Ergebnisse. Angefangen wird hier mit den Ergebnissen zum Vertrauen, gefolgt von den Ergebnissen zur sozialen Kohäsion und zur Regierungsführung. Die Ergebnisse jeder einzelnen Komponente werden im Anschluss an ihre Darstellung diskutiert.

Abgeschlossen wird diese Arbeit mit Kapitel 5. Es fasst zunächst in Abschnitt 5.1 die wichtigsten Erkenntnisse, die aus dieser Arbeit resultieren, zusammen. Hierbei werden die Forschungsfragen beantwortet sowie Stärken und Schwächen der Forschungsarbeit aufgelistet. Daraufhin wird in Abschnitt 5.2 eine Schlussbetrachtung dargeboten. Diese beinhaltet Anregungen für die Praxis. Auch das Thema der internen Vertreibung und die wichtigsten Bedürfnisse der Betroffenen kommen hier zur Sprache.

2 Sozialkapital: theoretische und empirische Erkenntnisse

2.1 Eine begriffliche Einordnung

Von der Begrifflichkeit des Kapitals macht man auf unterschiedlichste Art und Weise Gebrauch. Je nachdem, ob man diesen Ausdruck im wirtschaftswissenschaftlichen oder im sozialwissenschaftlichen Sinne verwendet, kann er in verschiedene Kapitalarten untergliedert werden. In den Wirtschaftswissenschaften ist besonders die Unterscheidung zwischen Naturkapital, physischem Kapital und Humankapital geläufig. Diese Kapitalarten spielen auch im Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum eine wichtige Rolle. Das Vorhandensein der genannten Kapitalarten bietet jedoch nur eine partielle Erklärung für dieses. Die Berücksichtigung einer vierten Kapitalart, dem sozialen Kapital, ist vonnöten (Grootaert, 1998). Es beinhaltet Aspekte der institutionellen Ordnung und hat zudem eine normgebende Funktion, beides ist förderlich für Kooperation und somit auch für wirtschaftliches Wachstum (Francis, 2002). Das soziale Kapital stellt das verbindende Element zu den Sozialwissenschaften, welche als Grundlage dieser Arbeit dienen, dar. In der Soziologie prägte vor allem Pierre Bourdieu (1987) durch seine Analyse der sozialen Klassen den Kapitalbegriff. Laut Bourdieu ist es das Kapital, welches zur Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Klassen beiträgt, da es nicht gleichermaßen unter den gesellschaftlichen Akteuren aufgeteilt ist. Neben der Form des sozialen Kapitals identifiziert Bourdieu in seiner Theorie auch die Formen des ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapitals. Der ökonomische Kapitalbegriff geht auf die klassische Kapitaltheorie von Karl Marx zurück (zitiert nach Dahrendorf, 2006). Im Gegensatz zur Marx’schen Definition, die auch die Arbeitskraft als Bestandteil ökonomischen Kapitals interpretiert, bezieht sich Bourdieus Auffassung dieser Kapitalart alleine auf materielle Besitztümer. Das kulturelle Kapital beschreibt die Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte. Es kann in verschiedenen Formen vorliegen – objektiviert, inkorporiert oder institutionalisiert. Die dritte Kapitalart, das soziale Kapital, steht für die Ressourcen, die sich durch die Beziehungen zu anderen Menschen oder Gruppen auftun. Zuletzt ergibt sich das symbolische Kapital aus den drei vorherigen Kapitalarten und zwar dann, wenn diese wahrgenommen und anerkannt werden. Es äußert sich in Form von sozialem Prestige. Die Kapitalarten sind in begrenztem Maße ineinander konvertierbar, an andere übertragbar und durch Anstrengung erreichbar. Bourdieus Theorie geht davon aus, dass die Kapitalarten je nach Gesellschaftstyp eine unterschiedlich starke Bedeutung annehmen – in modernen Gesellschaften sind es vor allem das ökonomische und das kulturelle Kapital, die die Klassenzugehörigkeit der Akteure bestimmen (zitiert nach Bohn & Hahn, 2000). In traditionellen Gesellschaften fällt die Bedeutung des sozialen Kapitals stärker ins Gewicht. Seine Wichtigkeit gilt im Forschungsbereich der Entwicklungszusammenarbeit seit geraumer Zeit als erwiesen (siehe Kapitel 2.2). Eine genaue Einordnung des Terminus erweist sich als schwierig, da zahlreiche – wenn auch sinngemäß ähnliche oder sich gegenseitig ergänzende – Definitionen existieren. Pierre Bourdieu beschreibt Sozialkapital als „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu, 1983, S. 6). Eine eher funktionale Beschreibung der Kapitalart nimmt Coleman (1988) vor, der ihren kooperationserleichternden Charakter betont. Während Coleman sich hierbei auf interpersonelle Zusammenarbeit bezieht, sieht Putnam (1993) die gewinnbringende Funktion des sozialen Kapitals auf gesellschaftlicher Ebene. Das Vorhandensein weiterer Begriffsdefinitionen erschwert die genaue Einordnung des theoretischen Konstrukts. Fest steht, dass soziales Kapital ein multidimensionales Konzept ist. Dies wird auch deutlich, wenn man Messungen in der empirischen Wissenschaft betrachtet, die soziales Kapital anhand einer Vielzahl von Items abbilden (Woolcock & Narayan, 2000). Pretty und Ward (2001) identifizieren fünf Aspekte, die soziales Kapital kennzeichnen: Vertrauen, Reziprozität, gemeinsame Regeln, Normen und Sanktionen, Netzwerke und Gruppen. Forrest und Kearns (2001) sehen außerdem Partizipation, Sicherheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit als Bestandteile des Sozialkapitals. Um diesem fragmentierten Konstrukt Struktur zu geben, wurden mehrfach Versuche unternommen, diese Menge an Charakteristika zu kategorisieren. Unter Berücksichtigung verschiedener Definitionen können zwei Dimensionen des sozialen Kapitals ausgemacht werden: Form und Geltungsbereich (Grootaert & van Bastelaer, 2001). Die Form beinhaltet zwei Arten von Elementen – strukturelle und kognitive (Francis, 2002; Grootaert & van Bastelaer, 2001; Woolcock & Narayan, 2000). Beide dieser Elemente erstrecken sich auf den gesamten Geltungsbereich, der in die Mikro-, Meso- und Makroebene untergliedert ist. Hieraus ergeben sich vier Kategorien sozialen Kapitals. Zum strukturellen Sozialkapital auf der Makroebene zählen beispielsweise staatliche Institutionen und die so genannte Rule of Law – also der Grad zu dem beim Regieren Gesetze eingehalten werden, während auf der Mikroebene hiermit lokale Institutionen und Netzwerke bezeichnet werden. In Bezug auf kognitive Elemente tritt soziales Kapital auf der Makroebene beispielsweise in Form der Regierungsführung auf, auf der Mikroebene hingegen äußert es sich in Vertrauen, Normen, Werten und einem Gefühl der Zugehörigkeit. Die hiesige Ausdifferenzierung des Geltungsbereiches ähnelt der von Collier (1998), der zwischen governmental und civil social capital unterscheidet. Ersteres ist mit der Makroebene vergleichbar, letzteres mit der Mikroebene.

Die einzelnen Komponenten der vier Dimensionen sozialen Kapitals können teilweise weiter ausdifferenziert werden. Sie interagieren zudem auf eine vielfältige Art und Weise miteinander. Daher sind die Wirkungsmechanismen sozialen Kapitals sehr komplex (Putnam, 1995). Im Folgenden wird ein theoretischer Überblick der für diese Arbeit relevanten Komponenten sozialen Kapitals dargeboten. Obwohl keine Daten zum strukturellen Sozialkapital auf der Mikroebene in Form von sozialen Beziehungen und Netzwerken vorliegen, werden diese Komponenten im Folgenden ebenfalls erläutert, da sie in engem Zusammenhang mit den anderen Komponenten sozialen Kapitals stehen und ihre theoretische Grundlage zur Analyse der Ergebnisse beitragen soll.

2.1.1 Beziehungen in sozialen Netzwerken

Eine Verbindung zwischen sozialen Netzwerken und der Sozialkapitaltheorie stellte erstmals Putnam her, der soziale Netzwerke als eine Form des Sozialkapitals identifizierte. Soziale Netzwerke können als dauerhafte Muster sozialer Interaktion aufgegriffen werden (Uphoff, 2000). Ihre Basis bilden demnach soziale Beziehungen. Die Einbindung des Individuums in ein soziales Netzwerk verringert seine opportunistischen Handelsweisen. Durch häufige interpersonelle Interaktion bildet sich ein Handlungsrahmen der Interaktionspartner heraus. Hierdurch vermag das Individuum die Reaktion seines Interaktionspartners besser vorherzusagen (Dasgupta, 1988). Auf diese Weise fördern soziale Netzwerke Vertrauen (Putnam, 1995). Gemäß der Sozialtheorie Tocquevilles und Mills hat Vertrauen seinen Ursprung in der Einbindung in soziale Netzwerke (zitiert nach Newton, 2001). Durch häufige interpersonelle Kontakte werden Grenzen zwischen Einzelpersonen oder sozialen Gruppen abgebaut. Die Kontakthäufigkeit eines Individuums wird durch Partizipation erhöht. Mit Partizipation sind die Teilnahme am sozialen und politischen Leben sowie das politische Engagement gemeint. Verfügt ein Gesellschaftsmitglied über einen hohen Grad an Partizipation, so interagiert es automatisch häufig mit anderen Gesellschaftsmitgliedern. Weil sich die Akteure früher oder später einen Nutzen von den sozialen Kontakten erhoffen, können sich Netzwerke aufrechterhalten. Eine wichtige Rolle spielen hierbei auch Reziprozitätsnormen. Das Bestehen sozialer Netzwerke weist auf eine erfolgreiche Kooperation in der Vergangenheit hin (Putnam, 1995). In der Regel sind die Gewinne, die aus sozialen Netzwerken resultieren, intrinsisch (Arrow, 2000). Besonders in Entwicklungsländern sind das Vorhandensein von traditionellen sozialen Netzwerken und Partizipation wichtig für den Einzelnen und das Kollektiv. Die durch Vertrauen erzeugte Ersparnis von zeitlichen und monetären Kosten wirkt sich zudem positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. An dieser Stelle soll jedoch auch nicht außer Acht gelassen werden, dass soziale Netzwerke, lokale Organisationen und Partizipation ebenso ihre Schattenseiten haben. In Kapitel 2.2 wird dargestellt, wie von ihnen auf negative Art und Weise Gebrauch gemacht wird.

Soziale Netzwerke können entlang verschiedener Kriterien differenziert werden. Ibarra (1993) unterscheidet zwischen formellen und informellen Netzwerken. Ersteres zeichnet sich durch eine starke Strukturierung aus. Ausgehend von den sozialen Netzwerktheorien nach Barnes und Bott zählen zu den Charakteristika eines Netzwerkes unter anderem seine Größe, Dichte, Homogenität, Interaktionshäufigkeit, Multiplexität und Dauerhaftigkeit (zitiert nach Berkman, Glass, Brissette & Seeman, 2000). Die Größe eines Netzwerkes ergibt sich aus der Anzahl der Netzwerkmitglieder. Ein soziales Netzwerk ist immer personenbezogen, da seine Mitglieder ausschließlich Menschen sind (Dasgupta, 2000). Die Schließung oder Dichte eines Netzwerkes kann dafür verantwortlich sein, dass Normen in sozialen Gruppen eingehalten werden (Coleman, 1988). Durch eine fehlende Verbindung zwischen zwei Akteuren in einem Netzwerk kann verhindert werden, dass ein Dritter bei normwidrigem Verhalten ausreichend sanktioniert wird. Kennen sich die Geschädigten jedoch, so können sie die dritte Person effektiv sanktionieren. Eine Schließung des Netzwerkes trägt somit zur Durchsetzung von Normen bei. Sie dient außerdem der Entwicklung von Vertrauenswürdigkeit, indem sie hilft, die Erwartungen der Akteure im sozialen Netzwerk zu formen. Konkret drückt sich dies in dem Ruf einer Person aus. Auch im politischen Kontext ist die Schließung eines sozialen Netzwerkes von Bedeutung. Soziale Netzwerke dienen dem Informationsfluss und spielen damit auch eine Rolle dabei, Informationen über Leistungen der Regierung zu übermitteln. Vor allem in schwachen, korrupten Staaten ist die Existenz sozialer Netzwerke essentiell, weil sie die Einhaltung von Vereinbarungen überwachen. Je dichter das Netzwerk, desto effektiver die Kontrolle (Dasgupta, 2000). Dichte soziale Netzwerke tragen auch zur Formation eines Gemeinschaftsgefühls bei, indem sie das Interesse des Individuums an kollektiven Erfolgen vergrößern (Putnam, 1995). Ein homogenes Netzwerk besteht aus Mitgliedern, die gleiche oder ähnliche soziale Rollen innehaben. Nachteilig ist hierbei, dass der Nutzen, welcher aus den sozialen Beziehungen innerhalb des Netzwerkes gezogen werden kann, eingeschränkt ist. Die Unterscheidung zwischen simplex und multiplex Beziehungen geht auf Max Gluckman (1967) zurück. Erstere steht für Beziehungen, in denen zwei Personen nur durch einen Kontext verbunden sind. Multiplexe Beziehungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Personen in mehreren unterschiedlichen Kontexten eine Verbindung nachweisen können. Zuletzt drückt die Dauerhaftigkeit eines Netzwerkes aus, über welchen Zeitraum dieses fortbesteht.

Auch soziale Beziehungen können auf verschiedenste Art und Weise gegeneinander abgegrenzt werden. Von besonderer Relevanz für die Entwicklungszusammenarbeit ist die Ausdifferenzierung sozialer Beziehungen nach Woolcock (2000). Er unterscheidet zwischen bonding, bridging und linking social capital. Mit ersterem bezeichnet er Bindungen innerhalb einer sozialen Gruppe, also beispielsweise einer ethnischen Gruppe. Beim Vorhandensein von bonding social capital ist es für die Gruppenmitglieder leicht interpersonelles Vertrauen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sie wenige oder gar keine Kontakte zu Mitgliedern anderer sozialer Gruppen pflegen und sich dadurch isolieren. Bridging social capital hingegen beschreibt Verbindungen zu Mitgliedern anderer sozialer Gruppen. Die Nutzung von Brücken ermöglicht den Zugang zu Ressourcen, die im eigenen Netzwerk nicht vorhanden sind. Granovetter (1973) spricht in diesem Zusammenhang von der Stärke schwacher Beziehungen, da sich Brücken meist in der Form schwacher Beziehungen äußern. Die Wichtigkeit schwacher Bindungen darf nicht unterschätzt werden, denn in der Regel sind es diese, die Verbindungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen darstellen – also bridging social capital schaffen – und somit Gemeinschaften verbinden. Diese „Brückenbildung“ zwischen verschiedenen sozialen Gruppen kann auch in heterogenen Gesellschaften soziale Kohäsion hervorrufen (Woolcock, 1998). Brücken vermögen strukturelle Löcher zu schließen und somit den Informationsaustausch zu steigern (Burt, 1992). Hierbei besteht die Annahme, dass die Position des Individuums innerhalb des Netzwerkes von Bedeutung ist. Das Individuum, welches die Brücke bildet oder in ihrer Nähe positioniert ist, kann Ressourcen leichter mobilisieren (Lin, 1999). Eine bedeutende Rolle in Hinblick auf die Entwicklungszusammenarbeit spielt das bridging social capital, weil es als erwiesen gilt, dass Menschen, die in Armut leben, gewöhnlich gut mit bonding social capital ausgestattet sind, während ihnen bridging social capital fehlt, dieses aber notwendig wäre, um aus dem Teufelskreis der Armut auszubrechen (Woolcock & Narayan, 2000). Die dritte Form sozialer Beziehungen, die Woolcock (2000) ausmacht, ist das linking social capital. Es stellt eine vertikale Verbindung zu Menschen, die an der Macht sind, dar. Putnam (1993) geht davon aus, dass in vertikalen Netzwerken kein Vertrauen und keine Kooperation entstehen können. Außerdem ist die Information, die vertikal verläuft, weniger zuverlässig. Dies liegt auch daran, dass Sanktionen, die von unten nach oben auferlegt werden, weniger wahrscheinlich sind.

Granovetter (1973) sieht in sozialen Netzwerken die entscheidende Verbindung zwischen der Mikro- und der Makroebene sozialen Kapitals. Zwischenmenschliche Interaktionen auf der Mikroebene, so Granovetter, werden durch soziale Netzwerke in Aspekte auf der Makroebene umgewandelt. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen der Mikro- und der Makroebene. Sozialkapital auf der Makroebene beeinflusst nämlich wiederum Sozialkapital auf der Mikroebene.

2.1.2 Vertrauen

Im allgemeinen Sprachgebrauch steht Vertrauen für „den Glauben daran, dass jemand oder etwas gut, aufrichtig, ehrlich etc. ist und nicht versuchen wird dem anderen zu schaden oder ihn zu betrügen“ (Wehmeier, 2000, S. 1393).[1] In der Soziologie wird Vertrauen entweder als Eigenschaft eines Individuums, einer sozialen Beziehung oder als öffentliches Gut aufgegriffen (Misztal, 1996). Bezüglich sozialer Beziehungen beschreibt der Terminus den Glauben daran, dass bestimmte Erwartungen zu einem Zeitpunkt in der Zukunft erfüllt werden. Soziale Beziehungen beruhen auf zwischenmenschlichen Interaktionen, Vertrauen bildet ihre Basis. In Austauschbeziehungen spielen hierbei vor allem Reziprozitätsnormen eine wichtige Rolle – also das Vertrauen darin, dass ein erbrachter Gefallen früher oder später zurückgezahlt wird. Vertrauen hat somit auch immer einen zeitlichen Aspekt, da der Austausch nicht zeitgleich stattfindet. Genau hier kann die Gemeinsamkeit aus einer Vielzahl von Vertrauensdefinitionen ausgemacht werden: Das Entgegenbringen von Vertrauen des einen und die tatsächliche Handlung des anderen sind zeitlich versetzt. Vertrauen beinhaltet daher immer das Element der Ungewissheit und ist somit risikobehaftet. Hierbei ist die Entscheidung, jemandem zu vertrauen, allerdings selbstbestimmt, da immer die Alternative – nämlich kein Vertrauen entgegenzubringen – besteht. Vertrauen wird aufgrund von Erfahrungen entwickelt und formiert sich stetig neu (Hardin, 1993). Im Falle von negativen Erfahrungen beziehungsweise einem Vertrauensbruch wird es viel schneller zerstört, als es wieder aufgebaut werden kann (Gambetta, 1988).

Das Vertrauenskonzept kann in unterschiedliche Subtypen untergliedert werden. Aus soziologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive wird zwischen sozialem und politischem Vertrauen unterschieden (Newton, 2001). Der Begriff des sozialen Vertrauens kann weiter in personalisiertes und generalisiertes Vertrauen unterteilt werden (Pretty & Ward, 2001). Mit ersterem wird das Vertrauen in Menschen, die man persönlich kennt, mit letzterem das Vertrauen in Fremde bezeichnet. Das politische Vertrauen zeichnet sich durch eine vertikale Richtung aus, es beschreibt das Vertrauen der Bürger in politische Instanzen. Vertrauen als Bestandteil sozialen Kapitals vermag die Mikro- und Makroebene des Konzepts zu verbinden. Das Vertrauen auf der Mikroebene nimmt in der Regel Einfluss auf Vertrauen auf der Makroebene und umgekehrt. Giddens (zitiert nach Misztal, 1996; S. 90 ff.) unterscheidet zudem zwischen grundlegendem und elementarem Vertrauen. Ersteres geht aus der ontologischen Sicherheit, der „Konstanz der […] sozialen und materiellen Handlungswelt“ (Giddens, 1996; zitiert nach Richmond, 1994; S. 118) – hervor. Diese ist Voraussetzung, damit sich das Individuum anderen gegenüber öffnen kann. Letzteres bezieht sich auf die Vorhersagbarkeit alltäglicher Ereignisse. Fehlt elementares Vertrauen, so sind soziale Situationen unberechenbar und durch Animosität geprägt.

In die soziologische Forschung fand die Untersuchung des Phänomens Vertrauen nur langsam Einzug, wenngleich es bereits in viele klassische Theorien implizit eingebettet ist. Erst in Studien über den Wandel des Vertrauens von der Prämoderne hin zur Moderne wurde es zum zentralen Untersuchungsgegenstand. Gemäß Luhmann, Giddens, Simmel und Weber (zitiert nach Misztal, 1996; S. 33 ff.) herrscht in traditionellen Gesellschaften personalisiertes Vertrauen vor, welches sich lediglich auf den Verwandtenkreis und enge Freunde richtet. Für die Vertrauensformen, denen man in modernen Gesellschaften begegnet, finden die Theoretiker unterschiedliche Bezeichnungen. Gemein ist ihnen jedoch, dass sie sich nicht mehr auf Personen, die man persönlich kennt, beziehen, sondern das Vertrauen in Systeme beschreiben.

Beide Vertrauensformen erfüllen unterschiedliche Funktionen. Banfield (1958; zitiert nach Misztal, 1996, S. 193) geht davon aus, dass Vertrauen, welches sich nur auf die Kernfamilie bezieht und nicht darüber hinaus reicht, kurzfristige Gewinne maximiert. Dabei nimmt der Akteur an, dass alle anderen Individuen wie er selbst agieren. Dies hindert jedoch das Handeln im Sinne des Allgemeinwohls. Auch in der Gegenwart gibt es personalisiertes Vertrauen. Ein alleiniges Vorherrschen dieser Vertrauensform in einer modernen Gesellschaft kann auf extreme Armut oder eine lange Zeit der Fremdherrschaft zurückgeführt werden, so das Resultat der Studie von Banfield. Das Vertrauen in Familienmitglieder und enge Freunde wird gesucht, wenn soziale Situationen schwer vorhersagbar sind. In diesem Falle resultiert es in einem Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben und kann die Isolation einzelner Gruppen bewirken. In prämodernen Gesellschaften formiert sich Vertrauen speziell entlang Individuen, die über gemeinsame Merkmale – wie eine geteilte Kultur – verfügen. Gemäß Durkheims Theorie der mechanischen Solidarität sind Symbole und Rituale für die Schaffung von Vertrauen hier essentiell. In Bezug auf die Funktion des Vertrauens in der Moderne gibt es zwei unterschiedliche Auffassungen: Zum einen besteht die Annahme, Vertrauen sei eine Ressource, die den Individualismus, durch den die Moderne charakterisiert ist, abzumildern vermag. Zum anderen gibt es die Behauptung, dass die komplexe Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft ein verstärktes Vertrauen in Institutionen verlangt (Misztal, 1996).

Neuere Theorien gehen davon aus, dass Vertrauen einen ordnungsgebenden Charakter besitzt. Während Marx’sche Theorien den Ursprung gesellschaftlicher Ordnung in einem Ungleichgewicht der Macht sahen und Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen auf Klassenkonflikte zurückführten, sehen viele neuere Theorien Vertrauen als die Ursache gesellschaftlicher Ordnung. Misztal (1996) unterteilt nicht-marxistische Theorien in zwei Ansätze:

Der erste Ansatz fasst Individuen als rationale Nutzenmaximierer auf, die Institutionen zur Erhaltung der Gesellschaftsordnung und der Harmonie bilden. Die theoretischen Ansätze Luhmanns, Webers und die Rational-Choice-Ansätze gehören zu dieser Theorieströmung. Gemäß Luhmann ist die Moderne durch einen hohen Grad an Komplexität und Risikobereitschaft gekennzeichnet. Vertrauen bekommt in diesem Zusammenhang eine komplexitätsreduzierende Wirkung, da sich eine gesteigerte Toleranz gegenüber Unsicherheit entwickelt. Weber interpretiert Vertrauen als gesellschaftlichen Wert. Die Individuen orientieren sich an Verpflichtungen gegenüber gesellschaftlichen Werten, die Einhaltung dieser bestimmt das Ansehen einer Person. Rational-Choice-Modelle sehen den Akt des Vertrauens als rational, da er den eigenen Nutzen in riskanten Situationen zu maximieren vermag. Als Ausgangspunkt nehmen diese Modelle in der Regel die Spieltheorie und das Trittbrettfahrerproblem. Vertrauen ermöglicht die Reduktion der Notwendigkeit von Kontrollinstanzen und Sanktionen, gleichzeitig erleichtert es Kooperation, weil die Anzahl möglicher Verhandlungsausgänge reduziert wird.

Der zweite Ansatz geht davon aus, dass Normen die soziale Ordnung aufrechterhalten, indem sie soziale Verpflichtungen schaffen. Ihm zuzuordnen ist die Theorie Parsons. Er sieht soziale Ordnung als Resultat eines geteilten Wertesystems. Gemeinsame Normen und Werte haben laut Parsons eine integrative Funktion. Das Vertrauen resultiert aus institutionellen Rollen, die die Akteure innehaben, da diese ihnen für bestimmte Lebensbereiche Expertise zuschreiben. Die Gesellschaftsordnung zeichnet sich vor allem durch Solidarität aus, da sie den Akteuren ihre Pflichten innerhalb des Kollektivs aufzeigt. Vertrauen definiert Parsons als den Glauben in andere Akteure, dass diese nicht eigennützig, sondern im Sinne des Kollektivs handeln werden. Soziale Integration ist dann vorhanden, wenn den Akteuren Vertrauen geschenkt werden kann, dass diese ihre Rolle gemäß den an sie gestellten Erwartungen erfüllen. Besteht Vertrauen in der Gesellschaft, so wird die Erreichung kollektiver Ziele angestrebt. Dies sichert Stabilität, reduziert Kosten und zeitlichen Aufwand und steigert die Effektivität politischer Institutionen.

Misztal (1996) fasst diese theoretischen Strömungen in drei unterschiedlichen Formen des Vertrauens zusammen: Vertrauen als Habitus, Passion und Policy. Vertrauen als Habitus äußert sich in einer stabilen Gesellschaftsordnung und wird durch Gewohnheiten, Reputation und Gedächtnis hervorgerufen. Einer kohäsiven sozialen Ordnung liegt Vertrauen als Passion zugrunde und resultiert aus der Beziehung zu Freunden, Familie und Gesellschaft. Zuletzt sind es Solidarität, Toleranz und Legitimierung – also die soziale Unterstützung des Systems, die eine kollaborative Ordnung hervorrufen. Dies nennt Misztal Vertrauen als Policy. Diese Formen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern wirken einander ergänzend.

2.1.3 Soziale Kohäsion

Der Begriff Kohäsion leitet sich von dem lateinischen Wort cohaerer ab, welches im Deutschen mit dem Verb „zusammenhängen“ übersetzt werden kann. Im heutigen Sprachgebrauch begegnet man dem Begriff unter anderem in der Sozialpsychologie, wo er den Zusammenhalt von sozialen Gruppen beschreibt. Das Konzept der sozialen Kohäsion wurde erstmals von Émile Durkheim aufgegriffen, der auf ihre Wichtigkeit für das Funktionieren einer Gesellschaft hinwies. Soziale Systeme sind auf das Vorhandensein sozialer Kohäsion angewiesen, denn nur wenn diese existiert, sind sie funktionsfähig und können sich aufrechterhalten (Apollos, 2012). Nach Colletta und Cullen (2000) gilt eine Gesellschaft als sozial kohäsiv, wenn keine latenten Konflikte existieren und starke soziale Bindungen vorhanden sind. Forrest und Kearns (2001) differenzieren das Konzept weiter aus, das Vorhandensein sozialer Kohäsion äußert sich demnach auf fünf Dimensionen. Eine Gesellschaft gilt als sozial kohäsiv, wenn sie (1) über Werte und eine Zivilkultur verfügt, die allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsam sind, (2) eine soziale Ordnung vorhanden ist und soziale Kontrolle ausgeübt wird, (3) soziale Solidarität praktiziert wird und soziale Ungleichheiten reduziert werden, (4) soziale Netzwerke vorhanden sind und wenn (5) die Gesellschaftsmitglieder ein Zugehörigkeitsgefühl empfinden oder sogar eine kollektive Identität besitzen. Diese Komponenten sozialer Kohäsion konvergieren größtenteils mit den in Kapitel 2.1 dargestellten Komponenten sozialen Kapitals. In der Definition von Forrest und Kearns erscheinen jedoch zusätzliche Komponenten, die im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden sollen: das Identitätsgefühl und die Solidarität. Beide Elemente lassen sich dem kognitiven Sozialkapital auf der Mikroebene zuordnen. Im Folgenden werden beide Komponenten näher erläutert.

Der moderne Identitätsbegriff ist ein sehr heterogenes Konstrukt, daher findet man in der Literatur variierende Definitionen. Auch eine einheitliche Messmethode existiert nicht (Kaina, 2009). Es lassen sich allerdings definitorische Gemeinsamkeiten des Begriffs ausmachen. So sind sich Wissenschaftler einig, dass Individuen und Gruppen auf Identität angewiesen sind (Kaina, 2009). Jedes Individuum verfügt über ein Selbstkonzept (z. B. Esser, 2001), also eine subjektiv gebildete mentale Repräsentation des eigenen Selbst. Dieses wiederum gründet auf verschiedenen Identitätsfacetten: auf der personalen Identität, der sozialen Identität sowie der Ich-Identität (Kaina, 2009). Die personale Identität beschreibt die Definition des Selbst über die Wahrnehmung des eigenen Verhaltens, dessen Kontinuität und Wahrnehmung durch andere. Die Sicherheit über das Fortbestehen der personalen Identität nennt Giddens ontologische Sicherheit. In Anlehnung an die Theorien Eriksons geht er davon aus, dass sich die ontologische Sicherheit in soziales Vertrauen generalisieren lässt.

Der Begriff der sozialen Identität steht für den Teil des Selbstkonzepts, der sich auf soziale Situationen und Kollektive bezieht. Das Selbstverständnis eines Individuums kann sich nur richtig entwickeln und frei entfalten, wenn Vertrauen in der interpersonellen Kommunikation vorhanden ist (Misztal, 1996). Esser (2001) beschreibt die soziale Identität als die subjektiven Vorstellungen eines Individuums über sein eigenes Verhalten in bestimmten sozialen Situationen sowie seinen Beziehungen zu Repräsentanten verschiedener sozialer Gruppen. In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwischen der kategorialen Identität – den Erwartungen des Individuums an Individuen anderer sozialer Kategorien – und der kollektiven Identität – der Identifikation eines Individuums mit einer sozialen Gruppe. Die kollektive Identität besteht auf zwei Ebenen: der individuellen und der kollektiven Ebene (z. B. Smith, 1992). Mit der individuellen Ebene ist die bereits erwähnte Identifikation mit einer Gruppe, aber auch die Akzeptanz des Individuums durch diese Gruppe gemeint. Die Basis eines kollektiven Bewusstseins bildet die Anerkennung der Würde jedes Einzelnen Mitgliedes der Gruppe (Seligman, 1992; zitiert nach Misztal, 1996; S. 197). Die kollektive Ebene beschreibt das Selbstbild des Kollektivs (Diez Medrano & Gutiérrez, 2001). Wichtig ist hierbei, wie sich die Gruppe intern erlebt und wie sie von außen – also von Angehörigen anderer Gruppen – wahrgenommen wird. Der Prozess der kollektiven Identitätsbildung beinhaltet also immer das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Abgrenzung zu anderen Gruppen und Individuen. Ein kollektives Gedächtnis trägt zur Erhaltung einer kollektiven Identität bei (Misztal, 1996). Eine gemeinsame Identität beruht auf dem Gefühl geteilten Schicksals und geteilter Verantwortung. Eine kollektive Identität in der Gesellschaft stärkt die Solidarität unter den Gesellschaftsmitgliedern (Parsons, 1951; zitiert nach Misztal, 1996; S. 67). Die Elemente kollektiver Identität sind nicht nur kognitiver Natur. Eine entscheidende Rolle spielt die Affektivität. Der Mensch ist ein soziales Wesen, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe löst positive Gefühle aus, sie wird als befriedigend empfunden. Die Wahrnehmung der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv erfolgt aufgrund von Kategorisierungsprozessen. Diese können verschiedenen Ursprungs sein, so beruhen sie beispielsweise auf der Angehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie oder Religion. Durch die Bewusstwerdung solcher Gemeinsamkeiten wächst die emotionale Bindung zu der Gruppe, dies umso stärker je wichtiger diese Gemeinsamkeit für das Individuum ist oder wird. Die Bildung eines Kollektivs erfordert immer die Abgrenzung zu einer oder mehreren anderen Gruppen. Nicht selten bringt dies Wettbewerbe und Konflikte zwischen Kollektiven hervor. Hingegen empfindet das Individuum automatisch positive Gefühle gegenüber Angehörigen der eigenen Gruppe (Weber, 1972). Cederman (2001) behauptet, dass kollektive Identitäten oft künstlich generiert werden. Es gibt zwei unterschiedliche theoretische Ansätze: den Essentialismus und den Konstruktivismus. Laut der Auffassung des Essentialismus ist die Identifikation eines Individuums mit einem Kollektiv von Natur aus gegeben (Fehr, 2010). Die kollektive Identität ist demnach nicht artifiziell konstruiert, sondern ein Bestandteil des menschlichen Wesens. Sie entsteht aufgrund gemeinsamer Merkmale einer Gruppe. Der Konstruktivismus hingegen bestreitet dies. Schenkt man ihm Glauben, so sind Identitäten „vielschichtig, flexibel und konstruiert“ (Fehr, 2010, S. 146). Sie sind nicht real und existieren lediglich als Kognitionen von Individuen und Gruppen. Ihre Entstehung wird durch erfundene Gemeinsamkeiten unterstützt. Hierbei sind Rituale, Symbole und Werte zur Aufrechterhaltung dieser imaginären Identitäten von großer Bedeutung. In einem Modell möglicher Einflussfaktoren auf die Herausbildung einer kollektiven Identität unterscheidet Kaina (2009, S. 51) zwischen „Prädispositionen von Individuen“ und „Kontextfaktoren und Gelegenheitsstrukturen“. Zu ersteren zählen Erfahrungen, Einstellungen und Ressourcen – dies sind soziale Beziehungen, Humankapital und sozioökonomischer Status. Kontextfaktoren wirken entweder von außen oder von innen her. Endogene Kontextfaktoren sind kulturell, institutionell oder prozessbezogen.

Durkheim bezeichnet das Vorhandensein kollektiver Identität als mechanische Solidarität, die traditionelle Gesellschaften zusammenhält. Außerdem identifiziert er eine zweite Form der Solidarität, die organische Solidarität, welche in modernen industriellen Gesellschaften vorzufinden ist. Aufgrund der Arbeitsteilung, durch die sich diese Gesellschaften charakterisieren, entwickeln die Gesellschaftsmitglieder ein System aus gemeinsamen, sie miteinander verbindenden Rechten und Pflichten. Dies wiederum kreiert eine Kooperationsmoral und führt letztendlich zur Integration der Gesellschaft. Organische Solidarität äußert sich in der Loyalität gegenüber den Mitgliedern einer größeren Gruppe, die über das familiäre Netzwerk hinausreicht (Uphoff, 2000). Sie basiert auf der Erkenntnis der Individuen, dass sowohl sie selbst als auch ihr Tun und Handeln von anderen Gesellschaftsmitgliedern abhängig sind (Misztal, 1996). Der Einzelne handelt nicht egoistisch, sondern nimmt seine Pflichten im gesellschaftlichen Kontext wahr. Die Existenz gemeinsamer Normen und Werte, welche durch einen gesellschaftlichen Konsens gebildet werden, trägt dazu bei Entscheidungen im Sinne des Allgemeinwohls zu treffen, ja die individuellen Bedürfnisse gegebenenfalls sogar hintenanzustellen (Pretty & Ward, 2001). Solidarität besitzt auch eine affektive Komponente. Das Individuum schöpft aus dem Wohlbefinden anderer Personen Befriedigung (Uphoff, 2000). Andersherum empfindet es negative Gefühle im Falle des Notstandes seiner Mitmenschen.

2.1.4 Regierungsführung

Die Regierung eines Landes ist eine nationale Institution. Ihr obliegt die Regelung öffentlicher Güter. Aufgrund dessen verfügt sie über einen vielfältigen Einflussbereich. Die Regierungsführung setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. Die IDA der Weltbank hat in Form der CPIA Kriterien vier Kategorien von Aspekten zur Erfassung der Regierungsführung aufgestellt. Die erste dieser Kategorien stellt die ökonomische Führung dar. Sie beinhaltet das makroökonomische Management, die Finanzpolitik sowie die Schuldenpolitik. Die Strukturpolitik eines Landes bildet die zweite Kategorie, hierzu gehören der Handel, der Finanzsektor, das so genannte business regulatroy environment – also der „Grad zu dem das gesetzliche, regelnde und politische Umfeld private Unternehmen bei der Investition, der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Zunahme ihrer Produktivität fördert oder hindert“.[2] Unter die dritte Kategorie, die Politik der sozialen Inklusion und der Gerechtigkeit, fallen die Aspekte Gleichberechtigung der Geschlechter, Gerechtigkeit in der Nutzung öffentlicher Ressourcen, der Aufbau von Humankapital, soziale Sicherheit und Arbeit sowie Politik und Institutionen, die sich mit Umweltverträglichkeit befassen. Die letzte Kategorie ist die des Managements des öffentlichen Sektors und der Institutionen. Ihr inbegriffen sind die Aspekte Eigentumsrechte und regelbasierte Regierungsführung, die Qualität des haushaltsmäßigen und finanziellen Managements, die Effizienz der Mobilisierung von Einnahmen, die Qualität öffentlicher Administration sowie die Transparenz, die Rechenschaftspflicht und die Korruption im öffentlichen Sektor.

Die Regierungsführung steht in engem Zusammenhang mit kognitivem Sozialkapital auf der Mikroebene. So ist der Erfolg eines demokratischen Systems auf politisches Vertrauen angewiesen, denn nur wenn dieses in der Gesellschaft existiert, wird der Einzelne Bereitschaft zeigen, Gesetze zu befolgen oder beispielsweise Steuern zu zahlen (Braithwaite & Levi, 1998). Andersherum fördern gute Leistungen staatlicher Institutionen das Vertrauen in einer Gesellschaft (La Porta, Lopez-de-Silanes, Shleifer & Vishny, 2000). Das Vorhandensein von sozialem und politischem Vertrauen fördert interpersonelle Kooperation und bildet somit wiederum eine Voraussetzung für erfolgreich operierende soziale und politische Organisationen. Im Falle eines Vertrauensmissbrauchs seitens der Regierung werden die Voraussetzungen für ein erfolgreich operierendes System zunichte gemacht. Ein solcher Vertrauensmissbrauch kann auf verschiedenste Art und Weise erfolgen. Hier seien zwei – für diese Arbeit relevante Fälle – dargestellt.

Eine besonders destruktive Wirkung auf Vertrauen hat Korruption. Öffentliche Ressourcen kommen nicht mehr der Allgemeinheit zugute, sondern werden von Privatpersonen zur eigenen Bereicherung missbraucht. Auch Kooperation ist unter solchen Umständen schwer. Wenn Korruption zur Norm geworden ist, fehlt das Vertrauen in der Gesellschaft, welches die Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit liefert. Nicht alleine das politische Vertrauen leidet demnach unter der Korruption, sondern auch das soziale Vertrauen. Das Tragische ist, dass wie so oft, die negativen Auswirkungen die Ärmsten treffen, da sie über ungenügend finanzielle Mittel verfügen, um Behörden zu bestechen. Hingegen können sich sozial besser gestellte Menschen aus kriminellen Machenschaften freikaufen und müssen keine negativen Sanktionen fürchten. Allerdings leidet die Gesellschaft als Ganze unter den Begleiterscheinungen der Korruption: Bemühungen, Schulen, Krankenhäuser oder die Infrastruktur zu bauen beziehungsweise auszubauen, sind in Ländern mit einem hohen Korruptionsindex vergleichsweise gering (Weltbank, 1998). Gut funktionierende Institutionen, die mittels sozialer Kohäsion einfacher verwirklicht werden können, sind bei der Bekämpfung der Korruption unabdingbar (Easterly et al., 2006). Die Eindämmung der Korruption ist ein wichtiger Entwicklungsschritt, da korrupte Machenschaften eine entwicklungshemmende Wirkung haben und ein hohes Konfliktpotenzial bergen, bis hin zu Gefahr des Genozids (UNDP, 2011; Genocide Watch, 2012).

Ein weiterer Punkt, an dem die Regierung schnell das Vertrauen der Bevölkerung oder einzelner Teile der Bevölkerung verlieren kann, ist eine Ungleichbehandlung verschiedener sozialer Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Da die ethnische Gruppenzugehörigkeit in Kenia auch politische Parteien prägt, ist dieser Aspekt für diese Arbeit von großer Wichtigkeit. Die Wiederspiegelung ethnischer Differenzen in der Parteipolitik spaltet nicht nur politische Lager, sondern folglich auch die Gesellschaft. Schenkt man der „Theorie des realistischen Gruppenkonflikts“ von Muzafer Serif Glauben, so sind in ressourcenknappen Regionen Vorurteile und Konkurrenzkonflikte bereits vorprogrammiert. Hier kommen das dritte und vierte CPIA-Kriterium zum Tragen, insbesondere die Aspekte der Gleichberechtigung und der Eigentumsrechte. Eine ungleiche Behandlung der ethnischen Gruppen kann hierbei die Kluft zwischen diesen noch ausweiten und somit neue Konflikte entfachen. In der Geschichte Kenias haben Streitigkeiten um Landrechte immer wieder gewaltsame Konflikte ausgelöst (siehe Kapitel 3.2). Da in der Vergangenheit Rechte nach ethnischer Gruppenzugehörigkeit vergeben wurden, hat dieser Streitpunkt die ethnischen Konflikte 2007/2008 mitbedingt. Eine ethnisch diverse Nation zu einen ist sicherlich kein leichtes Unterfangen. Es wird vermutet, dass die Heterogenität Menschen dazu bewegt, sich aus dem kollektiven Leben zurückzuziehen (Putnam, 2007). Einzelne Gruppen fühlen sich oft benachteiligt, besonders wenn eine Ungleichbehandlung in der Vergangenheit bereits stattgefunden hat. Gute staatliche Institutionen sind daher besonders in ethnisch heterogenen Ländern dringend notwendig.

Nicht nur Vertrauen steht in engem Zusammenhang mit dem Erfolg einer Regierungsführung. Boix und Posner (1998) identifizieren fünf weitere Komponenten sozialen Kapitals auf der Mikroebene, die mit der Regierungsführung interagieren. Erstens sehen die Autoren einen Zusammenhang zwischen dem Grad der Informiertheit der Bürger sowie ihrer politischen Partizipation – also den strukturellen Komponenten sozialen Kapitals – und der Leistung politischer Eliten. Ist die Bevölkerung auf diese Art und Weise ins politische Leben involviert, überwacht sie die Aktionen der politischen Führung. Die Regierung sieht sich verstärkt verpflichtet, den Wünschen ihrer Bürger nachzukommen, nicht zuletzt, um sich selbst die politische Führung zu sichern. Durch die Teilnahme am politischen Leben können die Bürger besser für ihre Rechte einstehen, ihre Wünsche artikulieren und sich zu Interessengruppen zusammenfinden. Dieser Prozess ist nur unter demokratischen Verhältnissen realisierbar. Zweitens trägt Sozialkapital in Form gesellschaftlicher Normen – also in Form von kognitivem Sozialkapital auf der Mikroebene – zur Verringerung der Kosten bei der Durchsetzung staatlicher Regelungen bei. In Form von Steuern leistet die Bevölkerung eine Abgabe, die der Staat in öffentliche Güter, wie Bildung, investiert. Die Versuchung zum Trittbrettfahren kann hierbei groß sein. Gesellschaftliche Normen wirken sich positiv auf die Regelbefolgung aus und reduzieren dadurch Kosten, die die Regierung ansonsten in Durchsetzungsmaßnahmen investieren müsste. Drittens können soziale Beziehungen, die aus sozialen Netzwerke resultieren, und soziale Normen und Werte die Präferenzen Einzelner verändern. Hierbei kann das Sozialkapital eine Verschiebung von partikularistischen Interessen hin zu kollektiven Interessen bewirken. Viertens kann Sozialkapital auf der Mikroebene die Leistung von Institutionen verbessern. Es trägt zu einer verbesserten Kooperation zwischen den Amtsträgern bei. Außerdem vermag es Opportunismus zu reduzieren, auch hierbei spielen wieder die Erwartungen Anderer an das Verhalten des Einzelnen eine wichtige Rolle. Fünftens kann das Sozialkapital auf der Mikroebene eine Annäherung verfeindeter Eliten fördern. Dies ist besonders relevant für Länder, die entlang ethnischer, religiöser oder anderweitiger Grenzen gespalten sind. Besonders wichtig sind hierbei soziale Netzwerke, vor allem bridging social capital, dessen Entstehung wahrscheinlicher wird, wenn starke und zahlreiche soziale Bindungen innerhalb eines Netzwerkes vorhanden sind. Dies gilt sowohl für die politische Führung als auch für die Zivilbevölkerung. Mittels einer Konkordanzdemokratie können somit auch in gespaltenen Gesellschaften demokratische Verhältnisse realisiert werden.

2.2 Zur Bedeutung von Sozialkapital für Kenia

Nicht immer wurde die entwicklungsfördernde Wirkung von Sozialkapital anerkannt, in den fünfziger und sechziger Jahren galt seine Wirkung auf die Entwicklung einer Nation sogar als hemmend. In der Nachkriegsära des Kalten Krieges änderte sich diese Auffassung jedoch (Woolcock & Narayan, 2000). Zahlreiche Theoretiker scheinen sich über die Wichtigkeit sozialer Beziehungen einig. Die Analyse der sozialen Dimension erfreut sich zudem großer Beliebtheit, weil der Untersuchungsgegenstand Interdisziplinarität verschiedener Wissenschaften ermöglicht (Francis, 2002). Um die Entwicklungszusammenarbeit im globalen Maße voranzutreiben und empirisch zu fundieren, gründete die Weltbank sogar eigens die Social Capital Initiative, welche verschiedene wissenschaftliche Projekte in diesem Bereich unternimmt. Warum Sozialkapital von so großer Relevanz ist, soll im Folgenden anhand empirischer Erkenntnisse nähergebracht werden. Hierbei wird nach unterschiedlichen Teilbereichen, für die eine Relevanz von Sozialkapital bereits nachgewiesen wurde, unterschieden. Gleichzeitig wird in jedem Abschnitt berichtet, warum die Erkenntnisse des jeweiligen Teilbereiches für den Untersuchungsgegenstand Kenia interessant sind. Ein schwächeres Wachstum, weniger soziales Vertrauen und eine weniger effektive Politik sind charakteristisch für viele – wenngleich nicht alle – ethnisch heterogene Gebiete (Knack, 1999). Da dieses Faktum nicht auf alle Staaten, die sich durch einen hohen Grad an ethnischer Diversität auszeichnen, zutrifft, besteht die Hoffnung, dass Sozialkapital diese negativen Effekte auszugleichen vermag.

Sozialkapital und ökonomische Entwicklung

Kenia ist ein Entwicklungsland. Das Wirtschaftswachstum des Landes betrug im Jahre 2011 rund 5 %, nach den politischen Unruhen erreichte es – unter anderem aufgrund eben dieser Ereignisse – im Jahre 2009 einen Tiefpunkt, der auf 2,6 % dotiert wurde (Auswärtiges Amt, 2012). Trotz dass sich das Wirtschaftswachstum mittlerweile wieder etwas erholt hat, kann sich das Land noch lange nicht auf dem globalen Markt durchsetzen. Beim Human Development Index (HDI) des UNDPs belegte Kenia im Jahre 2011 lediglich den 145. Rang. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Eine stabile, gut funktionierende Wirtschaft wäre ein wichtiger Faktor, um das Land voranzubringen. Ein hoher Bestand an Sozialkapital in der Gesellschaft kann die ökonomische Entwicklung fördern. Mehrere Studien belegen den Zusammenhang zwischen Dimensionen sozialen Kapitals und ökonomischer Entwicklung (z. B. Easterly et al., 2006).

Die strukturelle Dimension des Sozialkapitals wurde bereits mehrfach zum Untersuchungsgegenstand in der Entwicklungsforschung. In dysfunktionalen Staaten sind formelle und informelle soziale Netzwerke für die Gesellschaftsmitglieder überlebensnotwendig (Rose, 1999). Empirische Studien konnten belegen, dass ein Bestand an lokalen Organisationen und sozialen Netzwerken eine bessere Armutsbekämpfung in Gemeinschaften erzielt (siehe z. B. Moser, 1996). Collier (1998) sieht den Ursprung hierfür in der sozialen Interaktion. Diese erleichtert den Wissensaustausch zwischen den Akteuren. Ein Akteur, der das Verhalten seiner Mitmenschen besser einzuschätzen vermag, läuft weniger Gefahr einem opportunistisch handelnden Vertragspartner aufzusitzen (siehe auch Putnam, 1995). Ein höherer Wissensaustausch findet bei der Existenz von Sozialkapital auch in Bezug auf Marktinformationen statt. Die Akkumulation von Wissen durch Wissensaustausch lässt ein Scheitern auf der Marktebene unwahrscheinlicher werden. Die vermehrte Kommunikation nimmt den Interaktionspartnern die Möglichkeit des Trittbrettfahrens. Auf diese Weise begünstigen die Wirkungsmechanismen von Sozialkapital die wirtschaftliche Entwicklung und dienen der Armutsreduktion. Zu letzterer liegen eindeutige Ergebnisse aus der Empirie vor. So konnten Ijaiya, Sakariyau, Dauda, Paiko und Zubairu (2012) eine positive Korrelation der Armutsreduktion und dem Sozialkapitalbestand in den Metropolregionen Nigerias feststellen. Dies traf sowohl auf Sozialkapital auf der Mikro- als auch auf der Makroebene zu. Ein Akteur vermag durch die Anhäufung sozialen Kapitals schnellere und bessere Wege aus der Armut zu finden. Das liegt vermutlich daran, dass die Einbindung in soziale Netzwerke bei der Stellenvermittlung von Bedeutung ist (Putnam, 1995). In Subsahara-Afrika wurde zudem ein Zusammenhang zwischen Vernetzung und Reichtum identifiziert, wenngleich die Kausalität des Zusammenhangs nicht ausgemacht werden konnte (Rowley, 1999). Soziale Beziehungen, die aus der Mitgliedschaft in lokalen Organisationen resultieren, vermindern außerdem die Vulnerabilität von in Armut lebenden Menschen (Woolcock & Narayan, 2000). Neben der Armutsreduktion bewirkt der Bestand an strukturellem Sozialkapital auch eine gerechtere Einkommensverteilung (Knack, 1999; Kaldaru & Parts, 2005).

In einigen Entwicklungsländern wurde ferner ein positiver Zusammenhang von strukturellem Sozialkapital und agrarwirtschaftlichem Erfolg nachgewiesen. Das Vorhandensein sozialer Netzwerke und ein hoher Grad an Partizipation erwiesen sich in einer Studie über die Agrarwirtschaft Malis als förderliche Faktoren bei der Steigerung der Fremdzufuhr (Reid & Salem, 2000). In der gleichen Studie wurde nachgewiesen, dass Frauenverbände einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung leisten. Dies liegt vermutlich daran, dass die Partizipation von Frauen eine gesteigerte Gesamtkooperation zur Folge hat (Molina, 1998). Ähnliche Ergebnisse im Agrarsektor wurden in Madagaskar gefunden. Fafchamps und Minten (1999) fanden heraus, dass madagassische Händler, die besser vernetzt waren, einen höheren Absatz sowie eine höhere Handelsspanne aufwiesen. Händler, die nicht über eine solche Vernetzung verfügten, konnten kein Wachstum verzeichnen. Die Autoren der Studie gehen davon aus, dass Händler, die durch soziale Netzwerke miteinander verbunden sind, sich gegenseitig unterstützen. Diese gegenseitige Unterstützung drückt sich beispielsweise im Austausch wichtiger Informationen oder in der Vergabe von Krediten aus. Sie legen dieses Verhalten an den Tag, weil zwischen Mitgliedern des gleichen sozialen Netzwerkes mehr Vertrauen vorhanden ist als zwischen Händlern verschiedener sozialer Netzwerke. Netzwerkmitglieder werden durch diese Unterstützung begünstigt und können gewinnbringender wirtschaften. Das Vertrauen und die Solidarität, die sich innerhalb eines sozialen Netzwerkes aufbauen, bilden nicht alleine im Handel einen Grundbaustein für Erfolg. Bei Projekten im Bereich Wasserzufuhr und Sanitäraufbau steigerte ein hohes soziales Kapital in Form von aktiven Dorfverbänden den Erfolg der Projekte, da die einzelnen Haushalte sich stärker im Projekt einbrachten und der Einsatz von Kontrollmechanismen zunahm (Isham & Kähkönen, 1999). Ein weiterer Grund für diese Ergebnisse liegt in der Gemeinschaftsverwaltung, deren Effektivität partiell durch das Vorhandensein von Sozialkapital gesteigert wird (Kähkönen, 1999). Dies liegt vermutlich daran, dass soziales Kapital zur vermehrten Einhaltung von normativ festgelegten Regeln beiträgt. Auch die Verwaltung von Gemeingut wird durch das Vorhandensein von sozialen Netzwerken, lokalen Organisationen und durch Partizipation beeinflusst.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass es gleichermaßen Studien gibt, die keinen Zusammenhang zwischen strukturellem Sozialkapital auf der Mikroebene und wirtschaftlicher Effizienz finden: Knack und Keefer (1997) konnten in einer international vergleichenden Studie keinen Effekt für die Mitgliedschaft in formellen Gruppen nachweisen. Horizontale Verbindungen, soziale Solidarität und informelle Gruppen alleine reichen zur Armutsbekämpfung in der Dritten Welt nicht aus. Sowohl bonding als auch bridging social capital sind vonnöten. Dies zeigte sich in einer Studie über den Erfolg von Mikrofinanzprogrammen: Lediglich Akteure, die über einen hohen Grad an bonding und bridging social capital verfügten, verzeichneten ein positives Ergebnis (Woolcock & Narayan, 2000).

Auch Variablen auf der kognitiven Mikroebene werden in der Forschung mit ökonomischen Aspekten in Verbindung gebracht. Für die Entstehung von sozialem Vertrauen ist die Existenz von gesellschaftlichen Normen ebenso wichtig wie die Einbindung in soziale Netzwerke (Putnam, 1993). Die durch Vertrauen reduzierte Unsicherheit fördert Kooperation. Ein niedriger sozioökonomischer Status steht mit einem geringen Grad an Vertrauen in Zusammenhang (Letki, 2008). Auf Länderebene findet sich Vertrauen vor allem in Nationen mit einem höheren sozioökonomischen Status und einer gerechteren Einkommensverteilung (Knack und Keefer, 1997).

Zudem ist die Regierungsführung ein bestimmender Faktor für die Wirtschaft (Knack, 1999). Korruption, eine weitreichende soziale Ungleichheit, die Nichteinhaltung von Eigentumsrechten sowie ethnische Konflikte – Merkmale einer schlechten Regierungsführung – hemmen die wirtschaftliche Entwicklung (Woolcock & Narayan, 2000). Schwache politische Rechte gelten als Grund für die niedrigen Wachstumsraten in Afrika (Collier & Gunning, 1999). Eine gute Regierungsführung und starke politische Rechte hingegen erleichtern den Handel im Sinne des Allgemeinwohls (Woolcock & Narayan, 2000). Beim Vorhandensein stabiler Institutionen erweist sich sogar ethnische Heterogenität nicht länger als entwicklungshemmender Faktor (Easterly, 2001).

Sozialkapital und gewaltsame Konflikte

Das Ausmaß der politischen Unruhen 2007/2008 in Kenia war verheerend. Viele Menschen ließen ihr Leben, mehrere hunderttausende wurden vertrieben. Bis heute sind die Folgen des gewaltsamen Konflikts spürbar. Ethnische Auseinandersetzungen treten in Kenia immer wieder auf, nicht selten gehen sie mit Gewalt einher. Gewaltsame Konflikte haben eine immense zerstörerische Kraft. Neben dem Verlust von Menschenleben gehen auch politische, soziale und wirtschaftliche Strukturen verloren. Post-Konfliktregionen brauchen oft Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, um sich von diesen Strapazen wieder zu erholen. Da die Auswirkungen gewaltsamer Konflikte extrem negativ und langfristig sind, ist es besonders wichtig, ihnen entgegenzuwirken. Die Entwicklung Kenias würde ungemein von einem stabilen, langfristigen Frieden profitieren. Sozialkapital kann zur Sicherung des Friedens beitragen, dies gilt vor allem für ethnisch fragmentierte Staaten. Gute Beispiele hierfür sind die Schweiz oder Belgien. Im Unterschied zu Kenia verfügen diese ethnisch heterogenen Länder über qualitativ hochwertige Institutionen (Easterly, 2001). Die Existenz guter Institutionen schmälert oder eliminiert die Wahrscheinlichkeit eines Genozid- oder Kriegsausbruchs. Nationale und lokale Institutionen sind dafür verantwortlich, wie mit aufkommenden Konflikten umgegangen wird. Wenn das Konfliktmanagement scheitert, kann der Konflikt in Gewalt enden. In bürgerkriegsgeprägten Regionen kann sich die Einrichtung lokaler Institutionen nachhaltig positiv auf die soziale Kooperation auswirken (Fearon, Humphreys & Weinstein, 2009).

Auch strukturelles Sozialkapital kann die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Konflikts verringern. Auf der Makroebene ist es besonders wichtig für die Kriegsprävention, da das Fehlen der Rechtsstaatlichkeit als potenzieller Auslöser von Bürgerkriegen gilt (Blattmann & Miguel, 2009). Auf der Mikroebene vermag es ethnische Grenzen zu überbrücken. In ethnisch fragmentierten Gesellschaften sind vor allem Beziehungen über ethnische Gruppen hinweg – also bridging social capital – bei der Prävention von gewaltsamen Konflikten entscheidend (Varshney, 2001). Ethnisch homogene Gesellschaften zeichnen sich zwar in der Regel durch einen höheren Grad an Vertrauen sowie durch stärkere soziale Normen aus (Kähkönen, 1999; Knack & Keefer, 1997), dieser Zusammenhang wird jedoch durch häufige interethnische Kontakte stark verringert (Sturgis et al., 2011). Dieses Ergebnis bekräftigt die Annahme, dass ein friedliches Zusammenleben auch bei einer hohen ethnischen Diversität mittels Sozialkapital verwirklicht werden kann. Nicht alleine in ethnisch heterogenen Gesellschaften ist bridging social capital von zentraler Bedeutung, sondern auch in dysfunktionalen Staaten. Gilt ein Staat als dysfunktional und mangelt es lokalen Gruppen zudem an bridging social capital, so ist der Ausbruch eines Konflikts wahrscheinlicher (Narayan, 1999). Andererseits sind sogar dysfunktionale Staaten in der Lage, Konflikte zu bewältigen, wenn sie über einen ausreichend hohen Grad an bridging social capital verfügen (Woolcock & Narayan, 2000). Zur Kriegsprävention reichen informelle interethnische Kontakte meist nicht aus. Formelle, ethnisch heterogene Organisationen, die interethnische Interaktion hervorbringen, sind vonnöten (Varshney, 2001).

Sozialkapital und Politik

Die Parteipolitik in Kenia unterscheidet sich stark von der Parteipolitik in der westlichen Welt. Parteien in Kenia formieren sich in der Regel aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und vertreten die Partikularinteressen bestimmter ethnischer Gruppen. Hieraus können sich für die Gesellschaftsmitglieder unterschiedliche Voraussetzungen in Abhängigkeit von der ethnischen Gruppenzugehörigkeit ergeben. Auch die gewaltsamen Konflikte nach den Wahlen im Jahre 2007 resultierten aus der Ethnisierung der Politik. Diese trägt in Kenia zur Fragmentierung der Gesellschaft bei, da die Interessen der einzelnen ethnischen Gruppen unterschiedlich stark vertreten werden. Die politische Repräsentation aller Gesellschaftsmitglieder zählt zu den Merkmalen der politischen Integration einer Gesellschaft (Martinelli, 2005). Wenn diese gewährleistet ist, kann ein weiteres Kriterium politischer Integration – die Identifikation des Individuums mit dem Staat – erreicht werden. Norris (1999) vertritt die Auffassung, dass ein solches Zugehörigkeitsgefühl in erster Linie durch die Befürwortung der politischen Gemeinschaft hervorgerufen wird. Der Einzelne identifiziert sich somit tendenziell eher mit dem Staat, wenn er das Agieren der politischen Kräfte gutheißt. Auch im World Values Survey wird die Unterstützung der politischen Gemeinschaft oft mit Fragen zum Nationalbewusstsein abgebildet. Zur Herausbildung einer nationalen Identität leistet auch die ontologische Sicherheit einen wichtigen Beitrag. Wenn der Einzelne die Welt um sich herum besser einzuschätzen vermag und die ihn umgebenden Personen und politischen Systeme zuverlässig operieren, fühlt er sich ihnen mehr verbunden als wenn dies nicht der Fall ist. Eine kollektive Identität gilt als Bestandteil der sozialen Kohäsion, um deren Aufbau und Aufrechterhaltung sich viele Regierungen – vor allem in ethnisch heterogenen Staaten – bemühen (siehe z. B. Spoonley, Peace, Butcher & O’Neill, 2005). Easterly et al. (2006) gehen davon aus, dass soziale Kohäsion die Qualität von Institutionen verbessert und die Durchsetzung von Reformen erleichtert, was sie für die Entwicklungspolitik unerlässlich macht. Den Grund hierfür sehen die Autoren darin, dass in sozial kohäsiven Gesellschaften ein höherer Grad an politischem Vertrauen existiert. Dieses wiederum stattet die Gesellschaftsmitglieder mit der benötigten Geduld und dem Glauben, dass durch die Reform entstehende langfristige Gewinne kurzfristige Verluste übertreffen werden, aus. Ferner werden in solchen Gesellschaften die durch die Reformen entstehenden Verluste und Gewinne gleichermaßen unter allen Akteuren aufgeteilt. In gespaltenen Gesellschaften sind es in der Regel die Reichen, die von politisch implementierten Veränderungen profitieren. Nur wenn Regierungen im Sinne aller Gesellschaftsmitglieder handeln, kann ein Land wachsen. Evans (1996) spricht in diesem Zusammenhang von der „Staats-Gesellschafts-Synergie“, laut derer sich eine aktive Regierung und mobilisierte Gemeinschaften gegenseitig bei der Entwicklung vorantreiben. Eine solche „Staats-Gesellschaft-Synergie“ ist vor allem in Gesellschaften mit egalitären sozialen Strukturen und einem starken Staatsapparat anzutreffen. Ein großes Problem fragmentierter Gesellschaften ist, dass selbst im Sinne der Gesamtgesellschaft handelnden Politikern bei der Durchsetzung von Reformen Steine in den Weg gelegt werden. Dies hindert das Vorankommen der gesamten Nation.

Neben der gerechten Behandlung verschiedener sozialer Gruppen zählt der Grad an Korruption zu den Kriterien, die bestimmen inwiefern von good governance gesprochen werden kann. In Kenia gilt Korruption als eines der Hauptprobleme des Landes. Beim Corruption Perceptions Index 2012 belegt Kenia im weltweiten Vergleich nur den 139. Rang (Transparency International, 2012). Damit bewegt sich Kenia im globalen Vergleich mit einer Punktzahl von 27 – wobei 0 für hochgradig korrupt und 100 für weitestgehend unbestechlich steht – im unteren Drittel. Der Begriff wird hierbei verstanden als „Missbrauch öffentlicher Macht für privaten Nutzen“ (Lambsdorff, 2007).[3] Korruption zerstört soziales und politisches Vertrauen. Mittels der im Jahre 2010 in Kraft getretenen neuen Verfassung wird in Kenia unter anderem ein korruptionsfreies Regieren angestrebt. Korruption gefährdet die Staatsführung und erweist sich vor allem in Post-Konfliktregionen als Gefahr für die demokratische Stabilität (UNDP, 2011). Die Eindämmung von Korruption kann durch die Stärkung sozialer Kohäsion verwirklicht werden, da der Zusammenhalt einer Gesellschaft die Qualität von Institutionen verbessert (Easterly et al., 2006).

Mit der Einführung der neuen Verfassung im Jahre 2010 wurde intendiert ein insgesamt demokratischeres System in Kenia zu etablieren. Basierend auf dem Demokratieindex, ermittelt durch die Economist Intelligence Unit, wird Kenia zum Regimetyp der Hybridregime gezählt – einer Mischform, die demokratische und autoritäre Charakteristika beinhaltet. Kognitives Sozialkapital auf der Mikroebene in Form von Vertrauen steht in einer wechselseitigen Beziehung mit dem Funktionieren demokratischer Systeme. Vertrauen ermöglicht das Gelingen einer Demokratie (Putnam, 1993). Je höher der Grad an generalisiertem Vertrauen in der Gesellschaft ist, desto weniger Hindernisse stehen einer erfolgreichen Kooperation der Staatsbeamten im Wege. Das Vorhandensein von Vertrauen entlastet die Regierung, indem Maßnahmen zur Durchsetzung der Einhaltung von Regeln entbehrlicher werden. Die hierdurch frei werdenden Ressourcen kann die Regierung dann anderweitig einsetzen (Boix & Posner, 1998). Das Vertrauen in die Regierung fördert außerdem die Akzeptanz von Steuerzahlungen, Gesetzen oder juristischen Entscheidungen (Braithwaite & Levi, 1998). Demokratische Gesellschaften verfügen über einen höheren Grad an Vertrauen als totalitäre Gesellschaften und Autokratien (Uslaner, 1999). Der Grund hierfür liegt darin, dass unterschiedlichste Meinungen und kritische Stimmen toleriert werden. Wer in einer demokratischen Gesellschaft seine eigene Meinung äußert muss keine Vergeltungsaktionen der Regierung fürchten. In totalitären und autokratischen Systemen hingegen müssen sich die Gesellschaftsmitglieder dem Willen des Staates beugen, tun sie dies nicht, müssen sie mit Bestrafungen rechnen. Solche Umstände haben eine vernichtende Wirkung auf Vertrauen. Demokratische Verhältnisse sind allerdings auch nicht als Garantie für einen hohen Grad an Vertrauen in der Gesellschaft zu verstehen. Auch demokratische Staaten können über einen geringen Grad an Vertrauen verfügen. Zum einen ist dies der Fall, wenn religiöse, ethnische oder Rassenkonflikte das Land tief spalten. Zum anderen lässt sich dieses Phänomen in wirtschaftlich schwächeren Gebieten identifizieren. Menschen, die über wenig finanzielle Mittel verfügen, gehen ein höheres Risiko ein, wenn sie jemandem vertrauen, da sie schlichtweg mehr zu verlieren haben und einen Verlust weniger gut verkraften können.

Neben politischem Vertrauen ist es auch das strukturelle Sozialkapital auf der Mikroebene, welches den Erfolg einer Regierung zu beeinflussen vermag. Sozialkapital wirkt sich – wenn auch nur minimal – positiv auf die Befürwortung von Demokratie aus (Rose & Weller, 2001). Dowley und Silver (2002) konnten belegen, dass sich dies insbesondere für die Variablen politisches und soziales Engagement zeigt. Eine Ausnahme bilden hier allerdings ethnische Minoritäten, bei ihnen zeigt sich eine genau umgekehrte Beziehung der Variablen. In Form von Partizipation, bürgerlichem Engagement und sozialen Beziehungen steht Sozialkapital zudem mit der Effizienz sozialer Institutionen und somit der Stärke der Demokratie in Zusammenhang. Die Mitgliedschaft in Vereinigungen erhöht die Wahrscheinlichkeit am politischen Leben teilzunehmen (Putnam, 1995). Nur eine Demokratie mit gut informierten Wählern, die im Stande sind, sich zu mobilisieren, kann als vollkommen wettbewerbsfähig gelten. Eine aktive Teilnahme in gemeinschaftlichen Verbänden bietet den Gesellschaftsmitgliedern die Möglichkeit, über bürgerliche Angelegenheiten mitzureden (Boix & Posner, 1998). Somit verhilft es Gesellschaftsmitgliedern, ihre politischen Bedürfnisse besser zu artikulieren (Tavits, 2006). Ihre Meinungen und Bedürfnisse bekommen somit eine Stimme und haben eine erhöhte Chance berücksichtigt zu werden. Durch die aktive Teilnahme am politischen Leben wird das politische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger gesteigert. Zugleich fördert sie soziale Interaktion und stärk somit soziales Vertrauen. Dies wirkt sich wiederum positiv auf die Effizienz der Regierung aus.

Sozialkapital und Kriminalität

Abgesehen von ökonomischer Entwicklung, gewaltsamen Konflikten und Politik steht Sozialkapital auch mit weiteren gesellschaftlichen Faktoren in Zusammenhang. So korreliert soziales Kapital beispielsweise mit Kriminalität und Gewalt. Vor allem in Entwicklungsländern, wo eine Protektion durch den Staatsapparat oft nicht ausreichend gewährleitet ist oder mit eigenen Mitteln nur unzureichend ermöglicht werden kann, darf die Bedeutung von Sozialkapital nicht unterschätzt werden. In Zeiten schnellen sozialen Wandels ist ein erhöhtes Gewaltpotenzial in der Gesellschaft ein gängiges Phänomen. Diese Annahme beruht auf den Ergebnissen von Émile Durkheims Selbstmordtheorie, welche besagt, dass Zeiten des sozialen Wandels ökonomische oder politische soziale Krisen auslösen können, die wiederum soziale Normen und Werte schwächen (zitiert nach Berkman et al., 2000). Einhergehend mit der Globalisierung vollzieht sich weltweit ein solcher sozialer Wandel. Besonders stark schlägt sich dieser in vielen Regionen Afrikas nieder. Der Einfluss der westlichen Kultur unterminiert traditionelle Normen und Werte und zieht einen Werteverfall nach sich. Gemeinsame Normen und Werte können Gewalt reduzieren (Weltbank, 2011). Ein höherer Grad an Sozialkapital geht mit einer niedrigeren Kriminalitätsrate einher (Akçomak & ter Weel, 2008). Moser und Holland (1997) konnten nachweisen, dass der Zusammenhang zwischen Armut und Gewalt durch soziale Institutionen mediiert wird. Dieses Ergebnis unterstreicht die Wichtigkeit gut funktionierender Institutionen. Auf der strukturellen Mikroebene dienen soziale Netzwerke Gewaltopfern zur Unterstützung (Weltbank, 2011).

Negative Effekte sozialen Kapitals

Neben den zahlreichen positiven Effekten des Sozialkapitals darf auch die andere Seite der Medaille nicht außer Acht gelassen werden. Die Komponenten sozialen Kapitals können sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf das Zusammenleben in einer Gesellschaft haben. Als besonders problembehaftet erweist sich hierbei zum einen die soziale Kohäsion. Da eine starke soziale Kohäsion immer auch mit der Exklusion anderer Gruppen einhergeht (Dasgupta, 2000), werden durch sie insbesondere in Zeiten der Deprivation Konkurrenzkämpfe zwischen verschiedenen sozialen Gruppen entfacht (Pantoja, 2000). Für Kenia und seine Nachbarländer, welche immer wieder Ressourcenknappheit zu beklagen haben, ist diese Erkenntnis von besonderem Belang.

[...]


[1] Übers. durch Verf.

[2] Übers. durch Verf., verfügbar im Internet unter: http://data.worldbank.org/indicator/IQ.CPA.BREG.XQ (20.07.2013)

[3] Verfügbar im Internet unter: http://www.transparency.de/Graf-Lambsdorff-Johann-The.1324.0.html

Final del extracto de 205 páginas

Detalles

Título
Sozialkapital in Kenia nach den politischen Unruhen 2007/2008
Universidad
University of Bamberg  (Europäische und globale Studien)
Curso
Europäische und globale Studien
Calificación
1,0
Autor
Año
2013
Páginas
205
No. de catálogo
V274021
ISBN (Ebook)
9783656659761
ISBN (Libro)
9783656659730
Tamaño de fichero
1167 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Sozialkapital, Kenia, Diversität, Konflikt, Identität, Vertrauen, Governance, Globalisierung
Citar trabajo
Elisa Dreyer (Autor), 2013, Sozialkapital in Kenia nach den politischen Unruhen 2007/2008, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274021

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