Im ersten Teil beschäftige ich mich zunächst mit einer theoretischen Annäherung an das Störungsbild, d.h. ich beginne mit der Definition und Begriffserklärung des Terminus „Mutismus“, wobei ich ältere und neuere Begrifflichkeiten und Synonyme auf ihre Gültigkeit untersuche. Darauf folgt die Klassifikation der Störung und die Differenzierung zwischen dem „Totalen“ und dem „(S)elektiven Mutismus“, gefolgt von den diagnostischen Verfahren.
Darauf folgend schildere ich die Symptomatik. Ich werde mich im Anschluss dann der Epidemiologie, also der Verbreitung und Geschlechtsabhängigkeit der Störung zuwenden und daraufhin auf die Ursachen und Hintergründe (Ätiologie) der Entstehung der Krankheit hinweisen.
Im Anschluss daran möchte ich abschließend auf die therapeutischen Möglichkeiten eingehen.
Der zweite Teil meiner Arbeit widmet sich der Praxis. Ich widme mich zunächst dem Phänomen des Schulmutismus nach DOBSLAFF (2005). Danach soll es um die Problematik von mutistischen Kindern in der Schule gehen. In diesem Zusammenhang soll es dann um die Grundsätze im Umgang von Lehrpersonal mit mutistischen Kindern gehen. Auch möchte ich kurz auf die Frage der (mündlichen) Benotung mutistischer Kinder eingehen. Danach kläre ich den Begriff der Kommunikation und die Folgen gestörter sprachvermittelter Kommunikation aufzeigen. Darauf folgt die Erörterung nonverbaler Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Schüler und Lehrer und Maßnahmen zur Förderung verbaler Kommunikation in der Schule. Abschließend werde ich einen Blick auf eine aktuell laufende statistische Erhebung der Technischen Universität Dortmund, in der es um selektiv mutistische Kinder an Grund- und Förderschulen in NRW geht.
Zuletzt werde ich die Ergebnisse meiner Arbeit in ein abschließendes Resümee zusammenfassen.
Meine Arbeit wird sich dabei immer auf die Primarstufe beziehen, da der Eintritt in die Schule oftmals ein signifikantes Ereignis für das Erscheinen einer mutistischen Störung sein kann.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. TEIL 1 - Theoretische Zugänge: Das Störungsbild „(Selektiver) Mutismus" S
2.1. Definition & Begriffserklärung S
2.2. Klassifikation
2.3. Diagnostik
2.3.1Ausschlusskriterien ICD-10-GM
2.3.2 Ausschlusskriterien DSM-IV-TR
2.3.3 Diagnostische Evaluationsbögen
2.3.4 Differentialdiagnostik
2.4. Symptomatik & Komorbidität
2.5. Epidemiologie& Verlauf
2.6. Ätiologie
2.6.1 Psychologische Erklärungsansätze
2.6.2 Somatologische Erklärungsansätze
2.7. Therapie
2.7.1 Kooperative Mutismustherapie (KoMut)
2.7.2 Systemische-Mutismus-Therapie (SYMUT)
2.7.3 Theraplay
2.7.4 Pharmakotherapie
3. TEIL 2 - Ein Blick in die Praxis: (Selektiver) Mutismus im Kontext Schule
3.1 „Schulmutismus"
3.2 Die Problematik schweigender Kinder im Kontext Schule 3S
3.2.1 Grundsätzliches zum Umgang von Lehrern/Innen mit mutistischen Kindern 3S
3.2.2 Zur Benotung mündlicher Leistungen
3.3 „Kommunikation" - Begriffserklärung
3.3.1 Gestörte sprachvermittelte Kommunikation
3.3.2 Nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten
3.3.3 Sprachtherapeutische Maßnahmen im schulischen Rahmen 4S
3.4 Der aktuelle Stand: KIMUT- eine statistische Erhebung im Hinblick auf selektiven Mutismus an Grund- und Förderschulen in NRW
4. Resümee & Schlussbemerkung
Plagiatserklärung
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Anlagen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Klassifikation des Mutismus Vgl. Bahr (1996)
Abbildung 2 Verteilung psychopathologischer Befunde nach RÖSLER (1981, S. 188)
Abbildung 3 Komorbidität zu Entwicklungsstörungen nach RÖSLER (1981, S.188)
Abbildung 4 Das Störungsbild des Selektiven Mutismus nach KRAMER (2004, Vgl. FELDMANN; KOPF; KRAMER, 2012)
Abbildung 5 Verteilung der ätiologischen Faktoren bei Mutismus nach HARTMANN (2007)
Abbildung 6 Modell der Operanten Konditionierung nach SKINNER/THORNDIKE
Abbildung 7 Mutismus nach dem Diathese-Stress-Modell (Vgl. HARTMANN, 1997)
Abbildung 8 Systemische-Mutismus-Therapie (HARTMANN, 2012)
Abbildung 9 Wirkung von Theraplay auf mutistisches, sprechverweigerndes Verhalten (FRANKE, 2012)
Abbildung 10 Realistisches Kommunikationsmodell (KÜHRT, 2012)
Abbildung 11 Sprachvermittelte Kommunikation (HOMBURG/TEUMER, 1989)
Abbildung 12 Beispiel-Items nach Ausschlusskriterien des DSM-IV (STARKE & SUBELLOK, 2012)
Abbildung 13 Verteilung der Kinde mit Verdacht/Diagnose auf selektiven Mutismus auf Klassenstufen (STARKE & SUBELLOK, 2012)
Abbildung 14 Ergebnisse der Einschätzung durch Lehrer bezüglich mutistischer Verhaltensweisen bei Kindern mit Diagnose/Verdacht auf selektiven Mutismus (STARKE & SUBELLOK, 2012, S.71)
Abbildung 15 Vergleich der Einschätzung mehrsprachig und einsprachig aufwachsender Schüler (STARKE & SUBELLOK, 2012)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
„Warum sprichst du nicht?“
„Sag doch mal was!“
„Bist du stumm oder wie?!“
„Hast du nicht sprechen gelernt?“...
Etwa derartig oder ähnlich gestaltet sich der Alltag vieler von Mutismus betroffener Kinder und Jugendlicher. Aber was genau ist Mutismus eigentlich? „Unter Mutismus verstehen wir Nicht-Sprechen bei erhaltenem Sprachvermögen.“ (REMSCHMIDT, 2002, S. 286). Es ist nicht das Sprechen-Können, das den Redefluss der Betroffenen beeinflusst. Denn trotz unwillentlicher Sprechverweigerung haben Menschen mit Mutismus entgegen der Annahmen ihrer Mitmenschen alle Fähig- und Fertigkeiten zum Sprechen und zur Nutzung der Sprache als Kommunikationsmittel erworben und erfüllen grundsätzlich alle Anforderungen, welche zur verbalen Kommunikation von Nöten sind. Auch die Hör- und Sprechorgane sind im Regelfall intakt und voll funktionsfähig. Und trotzdem können sich Mutisten im Falle des „(S)elektiven Mutismus“ in bestimmten Situationen, an bestimmten Orten oder in Gesellschaft bestimmter Personen nicht zum Sprechen durchringen. Dahinter steckt keine böse Absicht oder gar Motive wie Abneigung oder Antipathie, sondern eine Kommunikationsstörung, welche eine größere Belastung sowohl für die Betroffenen als auch für ihr soziales Umfeld darstellt, als man auf den ersten Blick zu erkennen scheint. Diese Belastung scheint auch besonders groß, betrachtet man den „Totalen Mutismus“, welcher auf der totalen und konsequenten Sprechverweigerung unabhängig von Ort, Person oder Situation basiert. Die Folgen des Störungsbildes ziehen oftmals weite Kreise und je länger die Krankheit andauert, desto größer gestaltet sich der Schaden auch für das Erwachsenenalter. Denn mangelnde Kommunikation gerade mit Altersgenossen bedeutet auch mangelnde Interaktion und ein mögliches Defizit an gesellschaftlicher Teilhabe oder im kindlichen Sozialisationsprozess. „Die Konsequenzen, die sich für die Kinder daraus ergeben, sind im Hinblick auf die Identitätsbildung außerordentlich ungünstig.“ (FELDMANN, KOPF, & KRAMER, 2012, S. 14). Die familiäre Belastung im Alltag ist dabei nicht zu verachten: „Die Familien leiden häufig unter dem Unwissen ihres sozialen Umfeldes, sie müssen Schuldzuweisungen ertragen und fühlen sich dem Störungsbild hilflos ausgesetzt.“ (KRISTKEITZ, 2011, S. 5).
„Auch meine Klasse war mit meinem ,Nicht-Sprechen‘ ein wenig überfordert. Einige nannten mich ,Psycho‘ oder ,Stumme‘, doch das störte mich wenig. Schließlich hatten sie Recht, und ich glaube, dass ich selbst auch solche Sachen gesagt hätte, wenn jemand aus meiner Klasse so komisch gewesen wäre.“ (ERPENBACH E. , 2011, S. 27) „Eines Tages aber, nach dem Gespräch mit dem Schulleiter, sagte er uns, wir sollten unsere Tochter so schnell wie möglich von der Schule nehmen“ (ERPENBACH D. , 2011, S. 28) „Dem Phänomen Mutismus war ich bis dahin als Lehrer noch nicht direkt begegnet. “ (MICHELS, 2011, S. 29)
Das Unwissen der Gesellschaft über das Störungsbild Mutismus rührt eventuell aus teilweise gegensätzlichen und vor allem vielfältigen Abhandlungen in der Fachliteratur, welche oftmals Verwirrung stiften. Die Hintergründe und Ursachen der Krankheit sind selbst unter Experten nicht immer eindeutig und die Zahl der Synonyme und Klassifikationsversuch für aller Art Mutismus weist auf Unschlüssigkeiten in der Deutung und dem Verständnis der Bedingungen für eine solche Störung hin. Die Annahmen gehen sowohl in die Richtung einer absichtlichen, bewussten Verweigerung des Sprechens als Machtinstrument aus, als auch in die der unwillentlichen entwickelten Sprachhemmung.
Persönlicher Bezug & Darstellung des Forschungsziels
Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen dem Störungsbild „Mutismus“ mehr Aufmerksamkeit zu schenken und dem Unwissen und den daraus resultierenden Vorurteilen oder Fehlinterpretationen gegenüber von Mutismus betroffenen Menschen und ihrem Verhalten entgegenzuwirken. Im Zuge meines Studiums, welches sich mit der Pädagogik im Allgemeinen und der Inklusion benachteiligter Menschen im Besonderen beschäftigt, möchte ich auch einen Teil zur Aufklärung von Erzieherinnen und Lehrpersonal gegenüber mutistischen Kindern und Jugendlichen, sowie der Arbeit mit diesen beisteuern.
Ich hoffe mit meiner Arbeit Fragen nach den Kennzeichen und dem Erscheinungsbild der Störung klären zu können und entsprechende Therapie- und Förderungsmaßnahmen näher beleuchten zu können. Außerdem möchte ich zu einem aufgeklärtem und offenem Umgang zwischen Mutisten und Nicht-Mutisten beitragen und somit ein Stück weit der Inklusion von benachteiligten Menschen, besonders in den Bereichen Bildung (primär Elementarbildung) und gesellschaftliche Teilhabe, den Weg ebnen.
Ich erhoffe mir besonders Erkenntnisse für mich und meine zukünftige Arbeit im schulischen Bereich. Darüber hinaus möchte ich Schlussfolgerungen für den Umgang mit benachteiligten oder beispielsweise durch den Mutismus beeinträchtigten Menschen ziehen und meinen Wissensstand in dieser Richtung zu erweitern.
Insgesamt ergeben sich dadurch Fragen zu zwei wesentliche Leitthemen:
- „Was steckt hinter dem Terminus Mutismus? Welche Arten können klassifiziert werden und welche Möglichkeiten der Diagnose- und Therapieverfahren sind bekannt?“
und
- „Wie kann das Lehrpersonal mit mutistischen Kindern im Kontext Schule grundsätzlich umgehen? Wie können sie auf die Bedürfnisse und besonderen Umstände eingehen und welche Maßnahmen können ergriffen werden um die lautsprachliche Kommunikation mutistischer Kinder in der Schule zu fördern?“
Methodisches Vorgehen
Im Zuge dieser Arbeit als Forschungsprojekt in Form einer Literaturrecherche, werde ich verschiedene Arten von Quellen, wie Texte aus Fachbüchern, Fachzeitschriften, dem Internet etc. zusammenstellen und versuchen diese Abhandlungen und Annahmen verschiedener Experten oder Betroffenen in einen schlüssigen Gesamtzusammenhang zu setzen. Dabei verfolge ich das Ziel, Bezüge und Verbindungen zwischen den Aussagen herzustellen und gegebenenfalls Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszustellen.
Gliederung der Arbeit
Ich gliedere meine Arbeit wie folgt:
Im ersten Teil beschäftige ich mich zunächst mit einer theoretischen Annäherung an das Störungsbild, d.h. ich beginne mit der Definition und Begriffserklärung des Terminus „Mutismus“, wobei ich ältere und neuere Begrifflichkeiten und Synonyme auf ihre Gültigkeit untersuche. Darauf folgt die Klassifikation der Störung und die Differenzierung zwischen dem „Totalen“ und dem „(S)elektiven Mutismus“, gefolgt von den diagnostischen Verfahren. Darauf folgend schildere ich die Symptomatik. Ich werde mich im Anschluss dann der Epidemiologie, also der Verbreitung und Geschlechtsabhängigkeit der Störung zuwenden und daraufhin auf die Ursachen und Hintergründe (Ätiologie) der Entstehung der Krankheit hinweisen. Im Anschluss daran möchte ich abschließend auf die therapeutischen Möglichkeiten eingehen.
Der zweite Teil meiner Arbeit widmet sich der Praxis. Ich widme mich zunächst dem Phänomen des Schulmutismus nach DOBSLAFF (2005). Danach soll es um die Problematik von mutistischen Kindern in der Schule gehen. In diesem Zusammenhang soll es dann um die Grundsätze im Umgang von Lehrpersonal mit mutistischen Kindern gehen. Auch möchte ich kurz auf die Frage der (mündlichen) Benotung mutistischer Kinder eingehen. Danach kläre ich den Begriff der Kommunikation und die Folgen gestörter sprachvermittelter Kommunikation aufzeigen. Darauf folgt die Erörterung nonverbaler Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Schüler und Lehrer und Maßnahmen zur Förderung verbaler Kommunikation in der Schule. Abschließend werde ich einen Blick auf eine aktuell laufende statistische Erhebung der Technischen Universität Dortmund, in der es um selektiv mutistische Kinder an Grund- und Förderschulen in NRW geht. Zuletzt werde ich die Ergebnisse meiner Arbeit in ein abschließendes Resümee zusammenfassen.
Meine Arbeit wird sich dabei immer auf die Primarstufe beziehen, da der Eintritt in die Schule oftmals ein signifikantes Ereignis für das Erscheinen einer mutistischen Störung sein kann.
2. TEIL 1 - Theoretische Zugänge: Das Störungshild „(Selektiver) Mutismus"
2.1. Definition & Begriffserklärung
Der Begriff „Mutismus“ leitet sich aus dem lateinischen Terminus „mutus“=“stumm“ / „schweigen“ ab. Er beschreibt eine Kommunikationsstörung, welche auf dem Schweigen bzw. der nicht zwangsläufig bewussten Verweigerung des Sprechens und der Sprache beruht. Sie tritt vorwiegend im Kindes- und Jugendalter auf, ist aber auch bei Erwachsenen zu beobachten. Dabei gilt die Voraussetzung, dass weder eine Störung der Sprachentwicklung, noch eine Fehlfunktion der Hör-, Sprach- und Sprechfunktionen vorliegt. Das heißt, dass das Sprechen trotz erfolgreich erworbener Sprachfähig- und Fertigkeiten durch beharrliches Schweigen verweigert wird.
Vielfalt der Begrifflichkeiten
Frühere Begrifflichkeiten wie „Aphasia Voluntaria“, also die „freiwillige Stummheit“, geprägt durch KUßMAUL (1877, zit. n. SCHOOR, 2001, S. 184f) oder „freiwilliges Schweigen“ nach GUTZMANN (1893, zit. n. HARTMANN, 1992, S. 492) setzen eine bewusste Verweigerung der Sprache voraus. Diese Bezeichnungen gelten aber kaum mehr als aktuell und vertretbar. Mutismus wird heute den sekundären Sprachstörungen zugeschrieben und versteht sich somit als eine Sprachstörung, welche im Zuge einer psychischen Erkrankung oder als Folge einer solchen auftreten kann. Gemäß dieser Annahme definiert GROHNFELDT den Begriff „Mutismus“ wie folgt: „Mutismus bezeichnet ein Verstummen als Reaktion auf nachhaltige Schreckenserlebnisse, anhaltende Überforderungen, psychische Überbeanspruchung und ungünstige Sozialverhältnisse.“ (1979, S. 9). Auch HARTMANN geht von einer „Sprechhemmung“ in Folge bestimmter psychischer Umstände oder besonderer Ereignisse aus und zitiert BÖHME: „Das Schweigen ist keineswegs freiwillig, sondern Ausdruck und das Symptom einer reaktiven Sprachstörung.“ (1983, zit. n. HARTMANN, 1992, S. 492). Ebenso beschreiben HOMBURG und TEUMER den Mutismus als „eine psychoreaktiv bedingte Sprech- und Sprachverweigerung“ (1989, S. 123). Auch in der moderneren Literatur finden sich weiterhin Synonyme des Begriffes „Mutismus“, welche den unterschwelligen Vorwurf eines absichtlichen, bewussten Verweigerns der Sprache implizieren. So benutzt NEUHÄUSER den Begriff der „willentliche[n] Sprachverweigerung“ (1995, zit. n. HARTMANN, 1997, S. 19).
Diese Betrachtung erweckt den Anschein, dass zwischen mutistischen Menschen und ihrer Umwelt bzw. dem sozialen Umfeld Kommunikation in keinerlei Form stattfindet. Dabei kann man oftmals beobachten, wie beispielsweise mutistische Kinder über nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten wie die Schriftsprache, Mimik oder Gestik mit ihren Mitmenschen kommunizieren und interagieren. Somit ist eine generelle Verweigerung der Sprachnutzung klar von der Hand zu weisen. Passender scheint der Terminus der „Sprechhemmung“ nach BÖHME (1983, zit. n. HARTMANN, 1997, S. 17 & 19f), welcher sich nur auf die Hemmung der verbalen Kommunikation bezieht. Gerade in der Literatur der Moderne wird häufig die Begrifflichkeit ,Kommunikationsstörung‘ (Vgl. HARTMANN, 1997, S. 17) genutzt um die zentrale Bedeutung oder Problemlage der Störung für die Betroffenen zum Ausdruck zu bringen, denn letztendlich liegt die Einschränkung der Mutisten eben genau in der verbalen Kommunikation, welche durch das Verstummen gestört ist. Zwei der m.E. wohl treffendsten Termini zur Benennung des Mutismus formen WENDLANDT mit der Beschreibung „psychische Störung der Kommunikation“ (1992, S.42) und HARTMANN mit dem Begriff „Hemmung der Lautsprache“ (2012).
Schüchtern oder mutistisch?
Spricht man im Kindesalter von der Unfähigkeit verbal mit der Umwelt zu kommunizieren kommen häufig kindliche Stereotype zur Sprache. Es ist dabei zu unterscheiden, ob das Schweigen einer normalen Scheu, Ängstlichkeit, Unsicherheit oder gar Schüchternheit gegenüber Fremden oder fremden Situationen entspringt oder eben einer solchen Kommunikationsstörung wie dem Mutismus zuzuordnen ist. So ist eine anfängliche Schüchternheit und eventuell Zurückgezogenheit - gerade im Kindesalter - nicht untypisch. Vielmehr ist diese Zurückhaltung auch noch einige Tage/Wochen nach der Einführung in den Kindergarten oder den Eintritt in die Schule, sowie nach einem Schulwechsel und generell jedem Einzug in ein neues Umfeld mit unbekannten Menschen, zu beobachten. Als krankhaft kann eine solche „Schüchternheit“, infolge derer das Sprechen verweigert wird, erst dann bezeichnet werden, wenn das Schweigen einen bestimmten Zeitraum überschreitet. Schüchternheit im Kindesalter lässt sich in zwei Formen differenzieren:
- Gehemmtheit gegenüber dem Unbekannten, Fremden
- Schüchternheit aus Angst vor Ablehnung (begründet auf Erfahrungen)
Ist die Schüchternheit nicht zwangsläufig auf diese Kategorien zurückzuführen und hält sie auch länger als gewöhnlich nach der Eingewöhnungszeitungszeit im Unterricht weiter an, ist das Verhalten weiter genauer durch den Lehrer zu beobachten und Rücksprache mit den Eltern zu halten. (Vgl. MANNHARD & SCHEIB, 2005, S.103ff)
Der „(S)elektive Mutismus“
Wird das Störungsbild des Mutismus diagnostiziert, so muss zwischen dem „Totalen Mutismus“ und dem „(S)elektiven Mutismus differenziert werden. In älterer Literatur findet sich häufig noch der Begriff des „Elektiven Mutismus“, welcher einen freiwilligen Charakter der Störung suggeriert (lat. eligere=wählen). Dazu schreibt HARTMANN wie folgt:
„Aus den bisher veröffentlichten Falldarstellungen ist zu entnehmen, dass[1] elektiv mu- tistische Kinder vor allem in der Schule hartnäckig an ihrer Symptomatik festhalten. Dabei kann sich das Schweigen sowohl gegen bestimmte Lehrer richten, die nicht die Sympathie des Kindes besitzen, als auch gegen die gesamte Lehrerschaft.“ (1992, S. 493).
Gemäß meiner vorausgegangenen Erörterung neuerer Annahmen über die freiwillige Sprech- und Sprachverweigerung scheint dieser Begriff nicht mehr den aktuellen Erkenntnissen zu entsprechen. Daher wurde die neuere Literatur durch den Begriff „Selektiver Mutismus“ ergänzt. Der Unterschied wird in den Ausführungen KATZ-BERNSTEINs deutlich:
„Der Begriff elektiv suggeriert eine Freiheit der Wahl, mit welchen Personen, in welchen Situationen und an welchen Orten geschwiegen bzw. gesprochen wird. Beim selektiven Mutismus ist, subjektiv gesehen, eine solche Entscheidungsfreiheit nicht gegeben.“ (2005, S. 21).
Auf die Differenzierung des „Totalen Mutismus“ und des „(S)elektiven Mutismus“, sowie weiterer Formen des Störungsbildes soll im Folgenden Abschnitt (2.2) näher eingegangen werden.
2.2. Klassifikation
Die erste grobe Einteilung bzw. Differenzierung zwischen dem Totalen Mutismus und dem Elektiven Mutismus ist bei TRAMER (1934) zu finden. Auch HARTMANN (1992) bedient sich dieses ersten Versuches der Unterscheidung. Der Gegensatz dieser beiden Formen des Mutismus liegt darin, dass der Totale Mutismus eine gänzliche Hemmung der lautsprachlichen Kommunikation beschreibt, welche auftritt, nachdem der Spracherwerb erfolgreich vollzogen wurde. Der Elektive Mutismus umfasst nur eine partielle Sprechhemmung, welche an bestimmte Orte, Personen oder Situationen gebunden ist. Bei beiden Formen liegt keine Schädigung der Hör- oder Sprechorgane vor.
ICD-10-GM
Der ICD-10-GM fasst das Störungsbild des Mutismus unter die ,,Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugenď‘ (F94). Es handelt sich dabei um „eine etwas heterogene Gruppe von Störungen, mit Abweichungen in der sozialen Funktionsfähigkeit und Beginn in der Entwicklungszeit.“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2012). Dabei geht man davon aus, dass sich diese soziale Beeinträchtigung nicht als konstitutionell charakterisieren lässt, sondern durch die Umwelt, das Milieu oder eine Deprivation beeinflusst wird. (Vgl. ebd.). Drei wesentliche Formen der Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend unterschiedet der ICD-10-GM wie folgt:
F94.0 ElektiverMutismus
F94.1 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
F94.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung
Wer die Wahl hat, hat die Qual - Versuche der Klassifikation
In der Fachliteratur lassen sich aber auch neben der Orientierung an der Schwere und Persistenz der Störung weitere Unterteilungen von Mutismusformen finden. Dabei folgen diese Einstufungen verschiedenen Mustern. Beispielsweise werden Mutismusarten in Bezug auf ihre Ätiologie gruppiert. Ein Beispiel für diese Unterteilung bietet WALLIS (1957, zit. n. KATZ- BERNSTEIN, 2005, S. 24) welcher drei Arten des Mutismus unterscheidet:
Den Mutismus als Folge einer Psychose
Den Mutismus als Folge einer organischen Erkrankung des Gehirns
Den Mutismus als Folge einer psychogenen Störung
Ein weiteres Beispiel einer solchen Betrachtungsweise führt BAHR (1996) an, welcher sich zum einen auf LEBRUN (1990), sowie PANIAGUA & SAEED bezieht. Er spricht von einer sehr komplexen Einteilung in zwei Übergruppen. Zum einen differenziert BAHR den Funktionalen Mutismus, welcher ähnlich den Annahmen WALLIS' psychogene Ursachen hat. Dieser Funktionale Mutismus kann sich nach Ansicht LEBRUNs entweder in gänzlichem/totalem oder in einem partiellen Schweigen äußern. PANIGUA & SAEED fügen die Form des Progressiven Mutismus hinzu, welcher eine Zwischenform des Totalen Mutismus und des Partiellen Mutismus darstellt (Vgl. 1988, zit. n. BAHR, 1996, S. 23). Zum anderen nennt BAHR (1996) mit Bezug auf LEBRUN den Organischen Mutismus, welcher entweder eine periphere Ursache wie zum Beispiel den völligen Funktionsverlust des Hörorgans haben kann oder eine zentrale Herkunft haben kann. Dieser wird weiterhin in Erworbenen Mutismus und Entwicklungsmutismus unterschieden wird. (Vgl. LEBRUN, 1990, zit. n. BAHR, 1996, S. 19).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 Klassifikation des Mutismus Vgl. Bahr (1996)
Der cerebellare Mutismus (HEUBROCK & PETERMANN, 2000) stellt eine weitere Art des Störungsbildes Mutismus dar und orientiert sich wie die Vorangegangenen an der Ätiologie. Er äußert sich als partielles Symptom beispielsweise in Folge einer Tumorresektion (Vgl. ebd., S.147).
Eine Differenzierung ist aber auch anhand des Zeitpunkts des Auftretens eines Störungsbildes möglich. KURTH/SCHWEIGERT unterscheiden zwischen dem Frühmutismus und dem Spät- / Schulmutismus. Der Frühmutismus tritt ab dem Alter von drei bis vier Jahren auf, der Spät- oder Schulmutismus ab dem fünften bis siebenten Lebensjahr (1972, zit. n. HART- MANN, 1992, S. 494). Nach TRAMER entsteht der Frühmutismus durch die „pathologische Fixierung“ (HARTMANN В. , 1992) der für Kleinkinder typischen Angst vor Fremden (1934, zit. n. HARTMANN, 1992, S. 494). Der Spätmutismus hingegen tritt häufig in Zusammenhang mit der Einschulung auf und „kann hier als Problemlösungsversuch interpretiert werden, sich der angstbesetzten Situation, die bei zunehmend sichtbaren Leistungsinsuffizienzen verstärkt zu einer psychischen Hemmung führen kann, durch Schweigen zu entziehen.“ (HARTMANN, 1992, ebd.). SPOERRI nimmt auch eine altersspezifische Unterscheidung vor, jedoch postuliert er die Differenzierung zwischen dem Mutismus des Kindesalters und des Erwachsenenalters (1986, zit. n. KATZ-BERNSTEIN, 2005, S.25). Äußert sich der Mutismus im Kindesalter oftmals als selektiv bzw. partiell, so sieht SPOERRI den Mutismus des Erwachsenenalters „im Rahmen eines kataton-schizophrenen Syndroms [...]; als Hemmungssymptom bei Depression; aufgrund von Wahnideen, Halluzinationen bei paranoiden Zuständen.“ Sieht (1986, zit. n. BUß, 2005, S. 11).
Eine der für die Wissenschaft bedeutendste Einordnung verschiedener Mutismusarten ist die von HAYDEN (1980). Sie benennt insgesamt vier Arten des Störungsbildes, welche sie vor allem auf das Wirkungsgefüge von sozialen Gegebenheiten und dem daraus resultierendem Verhalten beziehen:
- Symbiotischer Mutismus
- Sprechangst-Mutismus
- Reaktiver Mutismus
- Passiv-aggressiver Mutismus
Der symbiotische Mutismus besteht durch die enge, symbiotische Bindung zu einem Elternteil und einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Rest des sozialen Umfeldes. Der Sprechangst-Mutismus beschreibt die Angst vor dem Hören der eigenen Stimme. Reaktiver Mutismus ist als Rückzug in Folge einer Depression zu verstehen und der passiv-aggressive Mutismus ist erkennbar, wenn die Verweigerung der Sprache aus Trotz geschieht und das Schweigen somit als Instrument der Verteidigung genutzt wird (HAYDEN, 1980, zit. n. KATZ- BERNSTEIN, 2005, S.25f).
Sind die Möglichkeiten der Differenzierung und Klassifikation des Mutismus und seiner vielfältigen Äußerungen noch so unterschiedlich, so haben sie dennoch im Grunde zumindest das Primärsymptom des Schweigens bzw. der Sprechverweigerung gemeinsam.
Im folgenden Abschnitt soll intensiver auf die Diagnostik, insbesondere des (S)elektiven Mutismus, eingegangen werden.
2.3. Diagnostik
Die Diagnostik des (S)elektiven Mutismus orientiert sich nicht nur anhand der vorliegenden Symptomatik. Es besteht die Möglichkeit ein diagnostisches Urteil nach bestimmten Ausschlusskriterien zu fällen. Diese Ausschlusskriterien finden sich in zweierlei internationalen Klassifikationsmanuale:
- ICD-10-GM (German Modification)
- DSM-IV-TR (Textrevision)
Des Weiteren ist es möglich anhand diagnostischer Evaluationsbögen eine erste grobe Einordnung in eines der Störungsbilder vorzunehmen. Es empfiehlt sich aber aufgrund der hohen Komorbidität des Mutismus und der ähnlichen Symptomatik anderer Störungsbilder immer der Schritt zu einer Differentialdiagnostik.
Auf alle diese Möglichkeiten soll im Folgenden eingegangen werden.
2.3.1 Ausschlusskriterien ICD-10-GM
Elektiver Mutismus lässt sich im ICD-10-GM unter dem Schlüssel „F94.0“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2012) finden. „Diese Störung ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert.“ (HARTMANN B. , 2011, S. 6), d.h. elektiv mutistische Menschen nutzen ihre Sprachkompetenz nur in bestimmten Situationen, mit bestimmten Personen oder an bestimmten Orten, in anderen Situationen etc. wird die lautsprachliche Kommunikation aber verweigert. Sie unterscheiden sich so von Menschen, die eine verbale Kommunikation gänzlich und unabhängig von Ort, Personen oder Situation konstant verwehren und somit dem Krankheitsbild des totalen Mutismus entsprechen. Der elektive Mutismus tritt häufig im frühen Kindesalter auf. Eine genaue Angabe zur Dauer und Persistenz der Symptomatik, welche Ausschlag zur Diagnose geben könnte, gibt der ICD-10-GM nicht vor. REMSCHMIDT geht aber davon aus, dass „die Störung dadurch gekennzeichnet [ist], dass sie mindestens mehrere Monate anhält und das eine Voraussage möglich ist für Situationen, in denen das Kind spricht und für solche, in denen es nicht spricht.“ (2002, S. 287). Die Klassifikation des ICD-10-GM setzt aber drei wesentliche Kriterien zur Diagnose voraus:
- Normale oder nahezu normale Fähigkeiten des Sprachverständnisses
- Eine sprachliche Kompetenz, die ausreichend ist für soziale Kommunikation
- Eine bewiesene Fähigkeit unter bestimmten Rahmenbedingungen normal oder nahezu normal sprechen zu können
(Vgl. HARTMANN, 2012; REMSCHMIDT, 2001)
Zusammengefasst heißt das also, dass die betroffenen Kinder die grundlegende Fähigkeit des Sprechens erworben haben sollten, welche es ihnen erlaubt über verbale bzw. lautsprachliche Kommunikation mit ihren Mitmenschen in Kontakt treten zu können. Diese Fähigkeit muss in bestimmten Situationen nachweislich vorliegen. HARTMANN fasst diese Kriterien in vier vereinfachten diagnostischen Leitfragen zusammen:
„Liegt eine abgeschlossene Sprachentwicklung im Sinne einer kommunikativen Grundfähigkeit vor?“
„Ist das Sprachverständnis altersentsprechend?“
„Lässt sich ein Unterschied im kommunikativen Verhalten feststellen [...]?“
„Gibt es eine Voraussagbarkeit dieses unterschiedlichen Kommunikationsverhaltens [...]?“
(2011,S. 8)
Hinsichtlich des Ausschlusses des elektiven Mutismus als vorliegendes Störungsbild, bietet der ICD-10-GM vier Kriterien:
- Partielles Schweigen als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern (F93.0)
- Schizophrenie (F20)
- Eine Tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84)
- Eine umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache (F80)
Liegt eine dieser Störungen vor, kann elektiver Mutismus laut ICD-10-GM ausgeschlossen werden. An diesen Ausführungen übt HARTMANN (Kritik und weist darauf hin, dass das Vorliegen des elektiven Mutismus durch eine parallel existierende tiefgreifende Entwicklungsstörung nicht auszuschließen ist und eine „Entweder-Oder-Diagnose“ nicht der Vielfältigkeit des Störungsbildes entsprechen kann (2011, S. 8).
2.3.2 Ausschlusskriterien DSM-IV-TR
Ähnlich dem ICD-10-GM legt auch der DSM-IV-TR eine Liste an Merkmalen zur Diagnose des Selektiven Mutismus mit dem Schlüssel „313.23“ vor, welche in die Kriterien A bis D untergeordnet sind:
- Kriterium A: Anhaltende Unfähigkeit in bestimmten Situationen, in denen das Sprechen erwartet wird (Schule etc.), andere Situationen zeugen von normaler Sprechfähigkeit.
- Kriterium B: Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation.
- Kriterium C: Die Störung dauert mindestens einen Monat, ist jedoch nicht auf den ersten Monat des Schulbeginns beschränkt.
- Kriterium D: Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt werden oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt.
- Kriterium E: Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (Stottern, Poltern etc.) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen Psychotischen Störung auf.
(Vgl. Saß et al., 1998, zit. n. KATZ-BERNSTEIN, 2005, S.23)
2.3.3 Diagnostische Evaluationsbögen
Zusätzlich zu den klassischen Klassifikationsmanualen ICD-10-GM und DSM-IV-TR haben sowohl Experten/Fachpersonal, als auch Eltern und Lehrer die Möglichkeit auf diagnostisches Material in Form von Frage- und Evaluationsbögen zurückzugreifen. Oftmals werden diese in einer Eltern- und einer Lehrerversion angeboten um eine umfassende Anamnese zu gewährleisten. Der „Fragebogen zur Erfassung des elektiven Mutismus“[2] des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensts des Kantons Zürich ist in solch zweierlei Ausführungöffentlich zugänglich. Dieser Fragebogen beinhaltet in der Lehrerversion sieben Fragen zum Sprechverhalten des Kindes in der Schule/im Unterricht. In der Version für die Eltern wird er noch durch jeweils fünf bis sechs Fragen zum einen über das Sprachverhalten des Kindes innerhalb der Familie, zum anderen in außerschulischen Situationen(unter Freunden etc.) ergänzt. Dabei werden die Fragen anhand einer Ratingskala beantwortet („immer“, „oft“, „manchmal“, „nie“, etc.). Des Weiteren stehen der „Evaluationsbogen für das sozialinteraktive Kommunikationsverhalten bei Mutismus 2.0“[3], sowie ein „Mutismus-Soziogramm 3.0“[4] auf der Seite des Institut für Sprachtherapie von Dr. Boris Hartmann zum kostenlosen Download zur Verfügung. Der Evaluationsbogen 2.0 befasst sich mit ähnlichen Fragen, wie der Fragenbogen des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensts. Hierbei werden aber zur Beantwortung Werte von 0-2 eingetragen, wobei 0=nicht belastend (ungehemmte Kommunikation), 1=mäßig belastend (Kommunikation nach Aufforderung) und 2=stark belastend (selektiver oder totaler Mutismus). Das Mutismus Soziogramm 3.0 dient dazu festzuhalten, in welchen Situationen, mit welchen Personen und inwieweit das Kind in der Kommunikation gehemmt ist. Dabei wird anhand der Skala, 0=nach Ansprache Schweigen und 1=nach Ansprache kurze Antwort, bewertet.
2.3.4 Differentialdiagnostik
Um eine möglichst genaue und angemessene Diagnose zu stellen müssen zuvor Störungen ausgeschlossen werden, auf welche der Begriff einer Kommunikationsstörung besser zutrifft. Darunter zählen beispielsweise das Stottern, das weniger bekannte Poltern oder auch pho- nologische Störungen, welche die Lautbildung erschweren (Sigmatismus, Rhotazismen). Diese Störungen treten überwiegend nicht in spezifischen Situationen auf und unterscheiden sich so erkennbar vom elektiven Mutismus. Des Weiteren müssen tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Schizophrenie oder weitere Psychotische Störungen, sowie schwere geistige Behinderungen, welche eine gestörte soziale Kommunikation bedingen können, ausgeschlossen werden. Im Gegensatz zu diesen Krankheitsbildern ist es den Menschen mit selektivem Mutismus in manchen Situationen möglich eine angemessene lautsprachliche, soziale Kommunikation zu verwirklichen, da sie die nötige Sprechfähigkeit schon entwickelt haben. Die Soziale Phobie kann unter Umständen gemeinsam mit selektivem Mutismus diagnostiziert werden, da sich das Störungsbild des Selektiven Mutismus und die Merkmale der Sozialen Phobie, wie etwa das Vermeidungsverhalten, ähneln. Auch Sprachverlustsyn- drome, welche infolge einer hirnorganischen Schädigung auftreten können oder aber die Taubheit, welche durch eine Untersuchung der Hörorgane zu diagnostizieren ist, bedürfen einer Differenzierung.
Eine besondere Situation für die Differenzialdiagnostik ergibt sich bei Migranten bzw. mehrsprachig aufwachsenden Menschen. Besonders Kinder, die mit einer Sprache nicht vertraut sind, sie also nicht beherrschen oder sich nicht mit ihr wohlfühlen, können dazu neigen sich dieser Sprache zu verweigern. Hält diese Sprech- und Sprachverweigerung aber über das Erlernen der nötigen Sprachkenntnisse und einem angemessenem Verständnis dieser hinaus nicht weiter an, so kann man in den meisten Fällen von einer Diagnose des Selektiven Mutismus absehen. HARTMANN kritisiert an dieser Stelle den DSM-IV-TR, da laut der Studie von ISENSEE et al. ca. 21,4% der mutistischen Kinder bilingual aufwuchsen (Vgl. HARTMANN, 2012, S. 8).
Mutismus Φ Autismus
Scheint die Symptomatik des (S)elektiven Mutismus zunächst ähnlich der, des Autismus, so ist eine Differenzialdiagnostik nach HARTMANN (2012) anhand von drei wesentlichen Merkmalen möglich: Konstanz, Emotionalität und Sprachentwicklung. Die Konstanz der Symptome unterscheidet sich darin, dass Autisten, im Gegensatz zu Mutisten, konstant zurückgezogen leben und die Wahrnehmung und Interaktion mit der Umwelt und dem Sozialem Umfeld abwehren. Selektive Mutisten weisen oftmals zwei Verhaltensweisen auf - die Ablehnende und die Zugewandte. Die Emotionalität ist eine eindeutige Abgrenzung zwischen Autisten und Mutisten. Autisten vermeiden oftmals jede Form von Emotionen und gehen nur schwer Bindungen ein. Mutisten hingegen gehen zu vertrauten Personen, in deren Gegenwart die Sprechverweigerung nicht auftritt, häufig enge Bindungen ein. Die Sprachentwicklung gestaltet sich bei Autisten, begründet auf neurologischen Bedingungen, schwer und geht meist nicht über die Fähigkeit einer redundanten Artikulation hinaus. Mutisten hingegen haben bei Aufkommen ihrer Störung im Regelfall die Sprachentwicklung schon erfolgreich durchlaufen, sodass die grundlegenden Fähigkeiten der sprachlichen Kommunikation gegeben sind (HARTMANN, 2012, S. 9).
2.4. Symptomatik & Komorbidität
„Liebe Emily, du kennst doch den Begriff ,Mute‘ auf deiner Fernbedienung? Dein Fernseher verstummt - das gleiche passierte bei meiner Tochter. Aber die Taste ist kaputt! So erkläre ich der Welt da draußen dein Problem. “
(TITTEL, 2011, S. 10)
(Pathologische) Verhaltensmerkmale
Das Kernmerkmal aller Mutismusarten ist das Schweigen, welches, je nach Art der Störung, entweder konstanter oder partieller auftritt. Doch auch weitere (Verhaltens-)Merkmale scheinen sich bei genauer Betrachtung dem Störungsbild Mutismus zuordnen zu lassen. Einher mit dem sozialen Rückzug beim totalen Mutismus geht oftmals die gänzliche Vermeidung jedweder Laute. „Sämtliche phonische Leistungen fehlen. Dies gilt auch für das Flüstern, Lachen und Husten.“ (BÖHME, 1983, zit. n. HARTMANN, 1992, S. 493). Laut SCHOOR weinen betroffene Kinder sogar tonlos und geben auch keine Schmerzlaute von sich (2002, S. 220). Dieses Schweigen tritt häufig plötzlich und in Folge eines dramatischen Ereignisses, wie zum Beispiel dem Tod einer nahestehenden Person, auf, hält sich konstant und vor allen Dingen unabhängig von äußeren Faktoren (Situation, Ort, Personen). Das bedeutet aber keine totale Ablehnung der Kommunikation in ihrer Gänze. Viele Mutisten suchen den Kontakt oder die Interaktion mit dem sozialen Umfeld über nonverbale Wege. Dazu zählen die Mimik, Gestik oder in manchen Fällen auch die schriftsprachliche Kommunikation. Der Selektive Mutismus hingegen entwickelt sich eher kontinuierlich, hat einen partiellen Charakter und äußert sich dementsprechend nur gegenüber bestimmten Personen, an bestimmten Orten oder in bestimmten Situationen, d.h. im Umkehrschluss, dass es in jedem Fall auch Situationen gibt, in denen die Betroffenen Gebrauch von der verbalen Kommunikation machen, denn sie verfügen über die nötigen Sprachfähigkeiten.
Begleitend zu beiden Formen des Mutismus ist häufig eine Reihe von Verhaltensmerkmalen zu beobachten. HARTMANN fasst die Beobachtungen SPIELERs (1944), POPELLAs (1960), STRUNKs (1980), BÖHMEs (1983) und DÜHRSSENs (1988) in folgender Liste zusammen:
- Scheu
- Schwermut, Neigung zu Depressionen
- Stuporöses Reagieren
- Ausgeprägte Sensibilität
- Verlegenheit
- Selbstunsicherheit
- Leichte Verletzbarkeit durch Spott und Ironie
- Hartnäckige, eigensinnige Charakterzüge (Beharrlichkeit, trotziger Rückzug etc.)
(HARTMANN B. , 1992, S. 494f)
Insgesamt weisen mutistische Kinder einen sehr zurückgezogenen, stillen Charakter auf. Weitere Merkmale sind eine übertriebene Schüchternheit bis hin zur sozialen Isolierung, Anhänglichkeit (oftmals bei der Mutter), aber auch gegensätzliche Verhaltensmuster wie Wutausbrüche und Zwangsverhalten sind keine Seltenheit (WITTCHEN, 1989, S. 124). REM- SCHMIDT erweitert die Liste durch Gehemmtheit, Antriebsarmut und Entwicklungsverzögerungen (REMSCHMIDT, 2002, S. 287). BAHR fügt dem noch einen starke Willenskraft, sowie negatives Verhalten im Kontakt mit der Familie hinzu (Vgl. 1996, S. 43).
Man kann nach LESSER-KATZ (1986/1988, zit. n. BAHR, 1996, S.22) zwischen zwei Typen von mutistischen Verhaltensmustern unterscheiden. Zum einen gibt es ähnlich den Annahmen HAYDENs (1980), Mutisten, die ihren Mutismus als Kampfreaktion verstehen. Diese Beschreibung impliziert Machtspiele zwischen dem Mutisten und seiner Umwelt. HARTMANN stützt diese These anhand der eigenen Praxiserfahrung:
„Was nicht beschrieben wird, ist das Phänomen, dass mit zunehmendem Alter auch ein bewusster Anteil der Störung deutlich wird, der bereits in der Adoleszenz einer willentlichen Kontrollausübung entsprechen kann.“ (2011, S. 6)
Zum anderen beschreiben LESSER-KATZ (ebd.) solche Mutisten, welche den Mutismus als Fluchtreaktion nutzen. Dies äußert sich in der Sozialen Isolation und dem minimalistischen Einsatz von Körpersprache zum Ausdruck von Emotionen.
Physische Merkmale
Genau, wie die Nutzung der Lautsprache und jeglichen Geräuschen, fällt die Gestik und Körpersprache bei Mutisten eher minimalistisch aus. „Dies äußert sich z.B. in einer starren Körperhaltung und unbeweglicher Mimik, fehlendem Lächeln oder Blickkontakt.“ (FELDMANN, KOPF, & KRAMER, 2012, S. 14). Sie zeichnen sich durch eine gewisse Angespanntheit und eine beharrliche Körperhaltung aus, bei der die Gliedmaße fest an den Körper gepresst werden (Vgl. HARTMANN & LANGE, 2004, zit. n. BUß, 2005, S. 15).
Komorbidität
RÖSLER (1981) führte hinsichtlich der Komorbidität des Mutismus zu anderen Störungen eine Untersuchung psychopathologischer Befunde an 32 mutistischen Kindern durch und kam zu folgenden Ergebnissen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[5] [6]
Abbildung 2 Verteilung psychopathologischer Befunde nach RÖSLER (1981, S. 188)
Des Weiteren beschäftigte er sich auch mit der Komorbidität von Mutismus und Entwicklungsstörungen. Dabei fanden sich in seiner Gruppe von 32 mutistischen Kindern:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3 Komorbidität zu Entwicklungsstörungen nach RÖSLER (1981, S.188)
CASTELL & SCHMIDT (1999; 2000, zit. n. KATZ-BERNSTEIN, 2005, S. 28) verweisen auf weitere komorbide Störungen wie Soziale Ängstlichkeit, Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten oder gar Ess- und Schlafstörungen. Die Häufigkeit für die Komorbidität mit Essstörungen belaufen sich laut STEINHAUSEN & JUZIE (1996, zit. n. HARTMANN, 2011, S. 9) auf 21%, die der Schlafstörungen auf sogar 30% (wobei n=100). Sie erweitern das Spektrum der Komorbidität des Selektiven Mutismus außerdem um die Depressionen (36%) und die Schüchternheit, welche einen Wert von 85% ausmachen.
2.5. Epidemiologìe & Verlauf
Häufigkeit
Der elektive Mutismus ist eine relativ seltene Kommunikationsstörung. Eine genaue Prävalenzrate ist allerdings schwer festzulegen, da die Angaben in der Fachliteratur oftmals schwanken bzw. stark auseinander gehen. Die Problematik dabei ist, dass die Erhebung der Rate zumeist auf unterschiedlichen Kerngruppen basiert. So erhält man bei Einbezug unterschiedlicher Schulformen im Hinblick auf die Dichte mutistischer Schüler mit hoher Wahrscheinlichkeit eine andere Prävalenzrate, als bei der Betrachtung nur einer Schulform, wie beispielsweise der Schule mit Förderschwerpunkt (Förderschule). Aber selbst dabei können die Werte schwanken, da sich die Art der Beschulung mutistischer Kinder eben nicht ausschließlich auf die Förderschule erstreckt und somit Abweichungen zwischen den Schulen mit Förderschwerpunkt auftreten können. Die Problematik der statistischen Erfassung einer Prävalenzrate liegt aber auch darin, dass die Höhe dieser Rate vom Zeitpunkt der Erfassung abhängig ist. Denn je nachdem ist es möglich, dass sich der Mutismus in einer Gruppe gerade zu diesem Zeitpunkt sehr auffällig manifestiert. Die passiert bei sogenannten „Knotenpunkten der Entwicklung“ (Vgl. WELLING, 2006, S.166), wie beispielsweise dem Eintritt in den Kindergarten oder die Schuleingangsphase. In Anbetracht dieser Hintergrundinformationen erklärt sich das Schwanken der Angaben zwischen 0,1% und 0,7% (Vgl. BAHR, 2004, zit. n. BUß, 2005, S. 20). SCHOOR führt keine genaue Prävalenzrate an, schätzt die Zahl der Mutisten unter 1000 Vorschul- und Schulkindern auf ca. ein oder zwei (2002, S. 219). HARTMANN geht von einer Prävalenzrate von selektivem Mutismus in therapeutischen Einrichtungen unter 1% aus (2011, S. 7). KOLVIN & FUNDUDIS berichten von 1% der Kinder im Alter von 3-4 Jahren und 5-7 Jahren (1993, Vgl. zit. n. WELLING, 2006, S. 167). Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2003 von KUNZE & KONRAD, bei der 50 Schulen berücksichtigt wurden, belief sich die Zahl der selektiv mutistischen Kinder in den ersten Klassen auf 0,3% (n=1000). In den restlichen Klassen ließen sich vier selektiv mutistische Kinder (von 5000) nachweisen, von denen zwei eine Regelschule besuchten, die anderen zwei eine Schule mit Förderschwerpunkt Lernen (Vgl. zit. n. KATZ-BERNSTEIN, 2005, S. 27). REMSCHMIDT geht ähnlich HARTMANN von einer Prävalenzrate unter 1% aus, bezieht sich dabei aber auf die Altersgruppe der 7-8Jährigen (2002, S. 291).
Geschlechterverteilung
Sowohl HARTMANN (1997, S. 48) als auch KATZ-BERNSTEIN (2005, S. 27) sehen keinen Beweis einer geschlechterspezifischen Prävalenzrate. SCHOOR hingegen spricht von einer „mädchentypischen Kommunikationsstörung“ (2002, S. 220). Er schreibt dem weiblichen Geschlecht das doppelt so hohe Vorkommen des selektiven Mutismus im Gegensatz zum männlichen Geschlecht zu (Vgl. ebd.).
Persistenz & Zeitpunkt des Auftretens
Die Feststellung des Ersteintritts der Störung ist in den Ausführungen der Fachliteratur immer abhängig von der jeweiligen Klassifikation. Die einen sehen den Beginn vor, die anderen nach dem 5. Lebensjahr. Im ICD-10-GM ist der Zeitpunkt des erstmaligen Auftreten des selektiven Mutismus beispielsweise „in der frühen Kindheit“ (Vgl. KATZ-BERNSTEIN, 2005; HARTMANN, 2011) angegeben. Im DSM-IV-TR hingegen formuliert sich der Zeitpunkt schon etwas später: „Der Beginn des Selektiven Mutismus liegt gewöhnlich vor dem Alter von 5 Jahren.“ (HARTMANN B. ,2011, S. 7). SCHOOR (2002) allerdings differenziert zwischen dem durchschnittlichem Beginn des Frühmutismus (4 Jahre) und dem des Spätmutismus bzw. Schulmutismus, welcher in der Zeit um den Eintritt in die Grundschule vorkommt (2002, S. 220). Diese Erstmanifestation mit dem Eintritt ins Schulalter sieht ihre Ursache unter anderem darin, dass die Kinder zu dieser Zeit häufig das erste Mal alleine verschiedenen Problemen gegenüberstehen. Einige der Kinder, welche möglicherweise schon zuvor eine gewisse Scheu oder Ängstlichkeit aufwiesen, geraten dann in die Gefahr eine Form von Mutismus im Sinne einer Resignation gegenüber diesen Problemen zu entwickeln. Zum Verlauf der Störung sagt REMSCHMIDT:
„Die wenigen bislang vorliegenden Verlaufsstudien erbrachten zusammengefasst folgende Ergebnisse: Zwischen 30 und 50% der mutistischen Kinder und Jugendlichen zeigen in einem Katamneseintervall von 5-10 Jahren ein normales Sprechverhalten und eine relativ gute psychosoziale Anpassung.“ (2002, S. 289)
Der Beginn und die Persistenz in der Adoleszenz scheint eher eine Ausnahme zu sein (Vgl. REMSCHMIDT, 2002).
2.6. Ätiologie
Für die Ursachen des Auftretens selektiven Mutismus' bietet sich in der Fachliteratur ein beachtliches Spektrum an Erklärungsversuchen. Schnell wird deutlich, dass der Beginn der Störung nur selten auf einen spezifischen Faktor zurückgeht. Vielmehr ist der Entstehungsprozess einer solchen Störung multifaktoriell bedingt, durch bestimmte Risikofaktoren begünstigt. Man benötigt daher Ansätze aus verschiedenen Perspektiven.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5 Verteilung der ätiologischen Faktoren bei Mutismus nach HARTMANN (2007)
Die Abbildungen 4 und 5 verdeutlichen das multifaktorielle Wirkungsgefüge zur Entstehung von (Selektivem) Mutismus. Die Faktoren liegen beispielsweise im psychophysiologischem Bereich (Diathese-Stress-Modell). Aber auch durch familiär bedingte Dispositionen, sowie die Einwirkung des sozialen Milieus, bestimmen die Entwicklung der Störung.
Im Folgenden sollen die zentralen Risikofaktoren und Erklärungsansätze zur Entstehung des Mutismus benannt und ggf. beschrieben werden.
Die Kardinalssymptomen und die Sekundärmerkmalen (Vgl. Abbildung 4) sind nicht zwangsläufig voneinander abhängig, jedoch schreibt man ihnen ein gegenseitig bedingendes Wirkungsgefüge zu. Die Existenz der Sekundärmerkmale führt aber nicht unbedingt zur Entste-
hung des Mutismus. Ebenso müssen nicht alle Sekundärmerkmale vorliegen um eine mutis- tisch Störung zu bewirken (Vgl. HARTMANN, 2007, zit. nach FELDMANN; KOPF; KRAMER, 2012, S.14f).
In der heutigen Zeit ist man sich der Wirkung von Risikofaktoren auf die Entwicklung eines Störungsbildes bewusst. SCHOOR bietet einen Überblick über die den Mutismus begünstigenden Risikofaktoren (Vgl. SCHOOR, 2001; BUß, 2005; HARTMANN, 2011):
- Migration & Bilingualität
- Dispositionen in der Familie
- Schweigende bzw. dem Mutismus ähnliche Verhaltensweisen im engsten soz. Umfeld
- Operante Konditionierung
- Konfliktneurotische / stresstheoretische Problemlösemechanismen
- Körperlicher oder Sexueller Missbrauch in der Familie
- Abnorme Erziehung (Überbehütung etc.)
- Anregungsarmes Sprechumfeld
- Einschneidende, belastende Ereignisse (Verlust einer nahestehenden Person etc.)
- Schüchternheit / Gehemmtheit (Schüchternheit gegenüber Unbekanntem, Angst vor Ablehnung, basieren auf schlechten Erfahrungen)
- Prä-, peri- oder postnatale Entwicklungsstörungen
- Psychiatrische Grunderkrankungen
Die Ätiologie des Mutismus gestaltet sich anhand der Vielfalt von Erklärungsversuchen multidisziplinär. Im Groben unterscheidet man aber zwischen psychologischen (psychoanalytischen) und organischen Erklärungsansätzen.
2.6.1 Psychologische Erklärungsansätze
Psychoanalytischer Ansatz
Der psychoanalytische Ansatz geht von Mutismus als ein neurotisches Symptom aus. Dieses Symptom ist Folge eines seelischen Konflikts bei der Problemlösung, wobei die Ursache des Konflikts den Betroffenen nicht bewusst ist. HARTMANN gebraucht den Begriff des „Prob- lemlösungsversuch[s]‘‘ (1992, S. 296). Die Ursache eines seelischen Konflikts steckt oft in einer Schockreaktion auf traumatischen Erlebnissen wie dem Verlust einer nahestehenden Person, Kriegserlebnisse oder aber auch in einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung. Mutis- mus äußert sich demnach als „Ausdruck der säuglingshaften oralen Bindung an die Mutter“ (WEBER, 1950, zit. n. HARTMANN, 1992, S. 496). Das Schweigen kann als Versuch gewertet werden, die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu ziehen (Vgl. ebd.).
Auch der Schuleintritt birgt ein gewisses seelisches Konfliktpotential und kann mit einer „Sprechhemmung aufgrund einer phobischen Neurose“ (HARTMANN B. , 1992, S. 497) einhergehen.
Lern theoretischer Ansatz
Der lerntheoretische Ansatz verfolgt zwei Theorien:
- Mutismus durch Operante Konditionierung
Hierbei wird das mutistische Verhaltung durch eine positive Verstärkung, beispielsweise mehr Aufmerksamkeit durch die Eltern, oder durch eine negative Verstärkung, wie zum Beispiel das Ausbleiben einer Aufforderung zur Verhaltensbesserung, gefestigt (siehe Abb. 6, hell unterlegter Pfad).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6 Modell der Operanten Konditionierung nach SKINNER/THORNDIKE
- Mutismus durch Imitationslernen
Hier erfolgt die Aneignung des mutistischen Verhaltens über den Lernprozess, welcher sich an einem Modell. Dies kann ein Elternteil, oder eine andere Person aus dem näheren sozialen Umfeld, mit mutistischem oder mutistisch-anmutendem Verhalten sein, welche dem Kind als Vorbild dient.
(Vgl. HARTMANN, 1992, S. 497)
Milieutheoretischer Ansatz
Der milieutheoretische Ansatz geht von einer Vielzahl an soziokulturellen Faktoren aus, welche das Kind in seiner Umwelt umgeben. Dazu zählen Kontaktarmut durch eine geographischen oder finanziell bedingten Ausschluss von der Teilhabe an der Gesellschaft (familiäre Isolation), durch Migration bedingte Sprachprobleme, eine übertrieben enge Mutter-KindBeziehung (Überbehütung), sowie Kommunikationsprobleme / Konflikte und Spannungen in der Familie, fehlende Zuneigung durch die Eltern (auch in kinderreichen Familien), als auch Krankheiten im näheren sozialen Umfeld (Debilität, Epilepsie etc.) (Vgl. BUß, 2005, S.30f).
Stresstheoretischer Ansatz (Diathese-Stress-Modell)
„Das Schweigen lässt sich nach dem Diathese-Stress-Modell als Folgeerscheinung von intrapsychischen Insuffizienzpotenzen und Negierungstendenzen gegenüber als bedrohlich empfundenen interaktionalen Geschehnissen interpretieren mit der Diathese der Prädisposition des Betroffenen bzw. der Familie für kommunikative Gehemmtheit.“ (HARTMANN B. , 2012)
Das DSM beschreibt die Wirkung zweierlei Einschätzungen auf das eigene Verhalten:
- Primary appraisal oder Ereigniswahrnehmung
- Secondary appraisal oder Ressourcenwahrnehmung
Ein mutistisches Kind in der Schule würde nach diesem Modell die Unterrichtssituation im Hinblick auf mögliche frühere Erfahrungen oder die Angst vor einer neuen unangenehmen Situation, beispielsweise bei der Aufforderung zum Vorlesen, als bedrohlich bewerten.
Außerdem würde das Kind die eigenen Ressourcen im Hinblick auf die Fähigkeit vorlesen zu können, durch die Kenntnis der eigenen Sprachschwierigkeiten, als nicht ausreichen einschätzen und somit der Situation erneut bzw. verstärkt einen bedrohlichen Charakter zuschreiben.
[...]
[1] Zitat wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst
[2] Anlage Al; A2
[3] Anlage A3
[4] Anlage A4
[5] = "Einnässen" (WYSCHKON & ESSER, 2002, S. 309)
[6] = „das wiederholte, unwillkürliche oder willkürliche Absetzen von Stuhl [...]." (WARNKE & WEWETZER, 2002, S. 326)
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