Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre: St. Joseph der Zweite". Imitation zwischen Tradition und Moderne


Dossier / Travail, 2010

18 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Joseph der Zweite und die Imitation
2.1 Die Übernahme eines Lebensmodells und der Verlust der eigenen Identität
2.2 Fehler im System – Inkonsequenz in der Nachbildung

3 . Tradition und Moderne als Einflussfaktoren

4. Die Josephsnovelle und ihre Bedeutung

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Johann Wolfgang von Goethes Altersroman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ wurde 1821 in der Erstfassung und acht Jahre später in einer zweiten Fassung als einer der persönlichsten Romane des Autors veröffentlicht und folgte dem klassischen Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ aus dem Jahr 1795. Der Roman besteht aus drei Büchern, die den Leser in das 18. Jahrhundert zurückführen. Zentrales Thema ist die Entsagung des Protagonisten Wilhelm, weshalb der Zweittitel des Buches auch „Die Entsagenden“ lautet. Für den heutigen Leser ist der Roman teilweise sehr schwer zu verstehen, da zahlreiche Novellen und Erzählungen ineinander geflochten wurden, die einen ständigen Personen- und Ortswechsel mit sich bringen. Eine der bedeutendsten Novellen ist die Eingangsgeschichte über Sankt Joseph den Zweiten. Wilhelm trifft auf ihn und seine Familie in den Bergen, wo sie ihr Leben nach dem ihres Vorbilds, dem heiligen Joseph, gestalten. In der vorliegenden Hausarbeit soll diese Imitation, ihre Auswirkungen und Fehler untersucht werden. Dies wird in Punkt 2 geschehen. Dazu ist es nötig erst die genaue Vorgehensweise Josephs unter die Lupe zu nehmen. Daher soll in Unterpunkt 2.1 zuerst geschaut werden, was genau imitiert wird. Im folgenden Punkt 2.2 werden einige Fehler in der Imitation und somit Abweichungen von der Originalgeschichte festgestellt, sodass das Entlarven der scheinbaren Idylle möglich wird. Punkt 3 untersucht das Verhältnis von Tradition und Moderne in der Novelle, das einen großen Einfluss auf Joseph und sein Verhalten zu haben scheint. Beschäftigt man sich näher mit dem Thema, stellt man sich die Frage welche Bedeutung der Novelle als Eingangserzählung für den weiteren Roman und deren Protagonisten zukommt, sowie die Beweggründe Goethes für den Einbau dieser Novelle. Dies soll in Punkt 4 überprüft werden. Der anschließende Punkt 5 soll ein zusammenfassendes Fazit darstellen.

2. Joseph der Zweite und die Imitation

In der Forschung stellen sich die Wissenschaftler häufig die Frage, welche Rolle die Eingangserzählung von Joseph und seiner Familie für Wilhelm und die weitere Geschichte spielt, denn weder trifft die Hauptperson die Charaktere im Laufe des Buches wieder, noch hat die Geschichte etwas mit den zentralen Themen Wanderung oder Entsagung zu tun. Auch in dieser Arbeit werde ich versuchen, einige Erklärungsansätze für den Einbau der, bereits 1800 entstandenen, Eingangserzählung (vgl. Schößler 2002, 201), zu finden. Zuvor soll jedoch die Imitation an sich unter die Lupe genommen werden. Dazu wird im ersten Punkt untersucht, inwiefern Joseph das Leben seines Vorbildes nachbildet und dabei seine Identität verliert. In Punkt 2.2 werden einige Abweichungen von der originalen Heilsgeschichte überprüft, mit denen die scheinbar harmonische Idylle der Familie im Gebirge aufgedeckt werden soll.

2.1 Die Übernahme eines Lebensmodells und der Verlust der eigenen Identität

Wilhelm trifft gemeinsam mit seinem Sohn Felix gleich zu Beginn ihrer Reise eine Familie in den Bergen, deren Anblick ihn sehr fasziniert.

„Wilhelm sah aufwärts, und hatten ihn die Kinder in Verwunderung gesetzt, so erfüllte ihn das, was ihm jetzt zu Augen kam, mit Erstaunen. Ein derber, tüchtiger, nicht allzu großer junger Mann, leicht geschürzt, von brauner Haut und schwarzen Haaren, trat kräftig und sorgfältig den Felsweg herab, indem er hinter sich einen Esel führte, der erst sein wohlgenährtes und wohlgeputztes Haupt zeigte, dann aber die schöne Last, die er trug, sehen ließ. Ein sanftes, liebenswürdiges Weib saß auf einem großen, wohlbeschlagenen Sattel; in einem blauen Mantel, der sie umgab, hielt sie ein Wochenkind, das sie an ihre Brust drückte und mit unbeschreiblicher Lieblichkeit betrachtete.“ (16)

Den Vater identifiziert er auf Grund seines Werkzeuges als einen Zimmermann. Das Gesamtbild der Familie erinnert Wilhelm an ein Gemälde mit der „Flucht aus Ägypten“, einer Erzählung aus der Bibel, als Thema. Die fünfköpfige Familie lädt die beiden in ihre Herberge, das Anwesen Sankt Joseph, ein. Das halb zerstörte Klostergebäude besticht besonders durch seine zahlreichen Gemälde, die die Geschichte des heiligen Josephs wiedergeben. Wilhelm fallen einige Parallelen zwischen den Gastgebern und der heiligen Familie auf. Der Vater zeigt sich offen und erzählt dem Gast, wie er sein Leben auf Grund eines Freskenzyklus nach dem Vorbild des heiligen Josephs ausrichtet und auf welche Weise er seine Frau kennen lernte. Wilhelm ist von diesen Geschichten beeindruckt und vergleicht vor seiner Abreise die Zuneigung Josephs zu Marien mit seiner zu Natalie in einem Brief an sie.

„Jene Verehrung seines Weibes gleicht sie nicht derjenigen, die ich für dich empfinde? … Daß er aber glücklich genug ist, neben dem Tiere herzugehen, das die doppelt schöne Bürde trägt, daß er mit seinem Familienzug abends in das alte Klostertor eindringen kann, daß er unzertrennlich von seiner Geliebten, von den Seinigen ist, darüber darf ich ihn wohl im stillen beneiden. Dagegen darf ich nicht einmal mein Schicksal beklagen, weil ich dir zugesagt habe, zu schweigen, zu dulden…“(37)

Wilhelm fällt schnell die Ähnlichkeit Josephs zu seinem Vorbild auf. Bereits beim ersten Beobachten erkennt er die Polieraxt und das Winkelmaß, das der Vater mit sich trägt sowie den Esel, das rote Kleid und der blaue Mantel der Mutter sowie den Säugling in ihren Armen. All diese Zeichen erinnern Wilhelm an eine Geschichte aus der Bibel, nämlich die „Flucht nach Ägypten“. Diese Assoziationen werden weiter verstärkt, als Wilhelm die Familie näher kennen lernt und erneut Parallelen feststellt. Diese Imitation hat auf Wilhelm eine ambivalente Wirkung. Zwar findet er sie teilweise reizvoll, andererseits erscheint sie ihm als „angenehme, halb wunderbare Geschichte“ (37). Der Namensgleichheit kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Joseph berichtet selbst, dass mit der Taufe sein späterer Lebensweg bereits vorgegeben war: „[…] daß man mich in der Taufe Joseph nannte und dadurch gewissermaßen meine Lebensweise bestimmte.“ (26) So trifft er jede weitere Entscheidung in seinem Leben nach seinem Vorbild. Indem der Redaktor dann durch den Namen „Sankt Joseph der Zweite“ klar macht, dass es sich bei ihm nicht um das Original sondern die Kopie handelt, bildet er

„durch die Überlagerung von ikonischen und lebensweltlichen, natürlichen und künstlichen, toten und lebendigen, christlich-religiösen und säkularen Motiven eine vielfach dimensionierte symbolische Sphäre aus.“ (Naumann 1996, 112)

Auch die Tatsache, dass die Geschichte im zweiten Kapitel steht, scheint kein Zufall zu sein. Joseph wird in seinen Entscheidungen stets durch die Bilder des Freskenzyklus, den er seit seiner Kindheit kennt und nun in der zum Wohnraum gestalteten Kapelle täglich vor seinen Augen liegt, beeinflusst. Kunst spielt innerhalb der Familie eine sehr große Rolle und so wird das Leben selbst „zur Mimesis der Kunst“ (Saße 2010, 33), denn aus dem Bild folgt die Handlung und nicht umgekehrt, wie es bei dem heiligen Joseph der Fall war. Für Joseph nimmt der Freskenzyklus auch deswegen eine so bedeutende Rolle ein, da in ihm der Pflegevater von Jesus aus der Position der Randfigur ins Zentrum rutscht. Erst dadurch wird er zu einem würdigen Vorbild für den zweiten Joseph. (vgl. Saße 2010, 33) Von den Bildern motiviert entscheidet er sich Zimmermann zu werden. Jedoch scheint diese - sicher eigentlich nicht aus einer inneren Leidenschaft entstandene - Berufswahl, nicht die schlechteste für ihn gewesen zu sein, denn er geht in seiner Arbeit auf – er lebt in ihr. Nicht umsonst tauchen in den ersten zwei Kapiteln auf 23 Seiten 26 Mal Begriffe aus der Wortfamilie „Leben“ auf. (Vgl. Degering 1982, 449) Eine weitreichende Entscheidung, die ebenfalls von seinem Lebensmodell beeinflusst wurde, ist seine Partnerwahl. Dass seine Frau Marie heißt und auf einem Esel neben ihm hergeführt wird, sollte kein Zufall sein. Es ist die Tatsache, dass sie so gut in die Realisierung seiner Kopie des Lebensmodells reinpasst, die sie für ihn interessant macht.

„Was ich so lange gesucht, hatte ich wirklich gefunden. Es war mir, als wenn ich träumte, und dann gleich wieder, als ob ich aus einem Traume erwachte. Diese himmlische Gestalt, wie ich sie gleichsam in der Luft schweben und vor den grünen Bäumen sich her bewegen sah, kam mir jetzt wie ein Traum vor, der durch jene Bilder in der Kapelle sich in meiner Seele erzeugte. Bald schienen mir jene Bilder nur Träume gewesen zu sein, die sich hier in eine schöne Wirklichkeit auflösten.“ (32)

Auch in seiner Erinnerung rekonstruiert er später das Bild von ihr, beeinflusst durch das ikonographische Muster der Flucht nach Ägypten, ganz ähnlich der Darstellung Marias in der Bibel. „[U]nd immer hatte ich die schöne Gestalt vor Augen, wie sie auf dem Tiere schwankte und so schmerzhaft freundlich zu mir heruntersah.“ (34). Josef bezieht sich außerdem auf das Lukasevangelium, als er von dem Besuch Marias bei Elisabeth erzählt. Auch wenn dieses Bild im Freskenzyklus nicht auftaucht, bezieht es sich wohl auf die Vorlage aus dem Lukas-Evangelium, die unter dem Namen „Heimsuchung Mariens“ bekannt ist. (vgl. Mittermüller 2008, 172) Dort wird davon erzählt, wie Elisabeth, eine Verwandte Marias in ihr die Mutter des späteren Heilands erkennt. Indem Joseph sogar beinahe dieselben Worte benutzt, wenn er sagt „Frau Elisabeth, Ihr werdet heimgesucht!“ (33) wird der starke Bezug zur Bibel deutlich. Mittermüller weist darauf hin, dass Joseph in diesem Fall besonders stark seine eigene Lebenswirklichkeit manipuliert,

„denn obwohl seine tatsächliche Situation mit der biblischen Heimsuchung so gut wie gar keine Gemeinsamkeiten aufweist, stellt er dennoch einen engen Bezug zwischen seinen Erlebnissen und der Heilsgeschichte her. Der illusionierende Sprechakt Josephs kann dabei im Horizont jener sprachskeptischen Reflexionen Goethes situiert werden, die das realitätsverfälschende Potential verbaler Signifikation wiederholt thematisieren.“(Mittermüller 2008, 172)

Auch in seinen weiteren Begegnungen mit Maria ist Joseph sehr von Bildern aus der Bibel beeinflusst. Als er das neugeborene Kind zum ersten Mal sieht, fühlt er sich an das Symbol des Lilienstengels, das ebenfalls in dem Freskenzyklus dargestellt wird, erinnert.

„Frau Elisabeth hielt [den Knaben] gerade zwischen mich und die Mutter, und auf der Stelle fiel mir der Lilienstengel ein, der sich auf dem Bilde zwischen Maria und Joseph als Zeuge eines reinen Verhältnisses aus der Erde hebt“ (35)

Somit ist für ihn klar, dass er Maria heiraten will und selbst der Antrag wird im Gespräch über den Freskenzyklus indirekt gestellt (vgl. Mittermüller 2008, 173). Maria bekommt eine Rolle zugewiesen, „die einem starr fixierten bildgezeugten Phantasma entstammt“ (Mittermüller 2008, 173) und verliert somit ebenfalls ihre individuelle Identität.

[...]

Fin de l'extrait de 18 pages

Résumé des informations

Titre
Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre: St. Joseph der Zweite". Imitation zwischen Tradition und Moderne
Université
University of Koblenz-Landau
Note
1,3
Auteur
Année
2010
Pages
18
N° de catalogue
V274549
ISBN (ebook)
9783656672418
ISBN (Livre)
9783656697206
Taille d'un fichier
404 KB
Langue
allemand
Mots clés
goethes, wilhelm, meisters, wanderjahre, joseph, zweite, imitation, tradition, moderne
Citation du texte
Lisa Biebricher (Auteur), 2010, Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre: St. Joseph der Zweite". Imitation zwischen Tradition und Moderne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274549

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