Eine Identität zu haben, Subjekt zu sein: Das scheint so selbstverständlich wie lebensnotwendig zu sein. Tatsächlich scheint es aber in der spätmodernen Gesellschaft immer schwieriger zu werden, "man wenigen Jahrzehnten noch existierten, wurden abgebaut. Glücklich sein, ein erfülltes Leben leben heißt in dieser Gesellschaft vor allem: Frei sein. Ihr Gründungsversprechen verheißt, jede*r könne seine*ihre eigene Identität autonom und aus einem eigenen inneren Wunsch heraus ausbilden: Dass man genau der*die sein könne, die man auch ist, und sich nicht verstellen muss. Anstatt zu einem Zustand des Glücks scheint dieses Freiheitsversprechen aber direkt in ein Gefühl der Entfremdung zu führen (Jaeggi 2005, Schmid 2006, Seel 1999). Aus der (scheinbar) totalen Freiheit resultiert eine Situation der Orientierungs- und Hilflosigkeit.
Liegt das vielleicht daran, dass es die konstitutive Freiheit der Moderne gar nicht gibt? Dass wir das Gefühl haben, wir könnten alles erreichen, und wenn wir es nicht schaffen, sind wir selbst daran schuld – in Wahrheit aber gar nicht alles erreichen können? Und ist damit aus der Freiheit zur eigenen Identität vielleicht längst eine Forderung geworden? Sei individuell und einzigartig – sonst bist du nichts wert!
Eine Möglichkeit, diese individuelle Einzigartigkeit herzustellen, liegt in der Selbsterzählung, im ständigen Arbeit an der eigenen Autobiographie. Diese "narrative Identität" wird in der Regel als ein coping mechanism für das Problem der erschwerten Identitätsbildung in einer (scheinbar) normfreien, postmodernen Welt verstanden, der ‚sinnvolle‘ Identitätsbildung und persönliche Kohärenz wieder möglich macht.
Sie wird hier in Anlehnung an Foucault kritisch als Technologie einer neoliberalen Gouvernementalität analysiert. Wem nützt diese ‚Überwindung‘ des Entfremdungsproblems? Ist sie möglicherweise nicht (nur) Hilfe und Trost für das Individuum, sondern vielmehr eine Wieder-Nutzbarmachung des entfremdeten Subjekts für einen neoliberalen Staat? Werden mit ihr nur die Symptome (das Gefühl von Entfremdung) und nicht ihre tatsächlichen Ursachen (das moderne Paradigma der individuellen Freiheit und Verantwortung) bekämpft?
Kann diese Technik zuletzt vielleicht auch von der Gegenseite für subversive Taktiken genutzt werden? Anhand von queeren Ansätzen aus den identity politics und anti-identitären Strategien dekonstruktivistischer Autor*innen werden die Chancen und Risiken narrativer Identität ausgewertet.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Zur Relevanz des Identitätsbegriffs für eine moderne Gesellschaftskritik
- Hauptteil: Identität zwischen gouvernementaler Selbsttechnologie und queerer Widerstandsmöglichkeit
- Theorien & Konzepte
- (Post)modeme Identität & Entfremdung
- Narrative Identität
- Gouvernementalität & Selbsttechnologien
- Narrative Identität als gouvernementale Selbsttechnologie
- Queere Identitäten: Ein Widerstandsprojekt?
- Queere Identitäts-/Subjektkritik
- Identity Politics: Andere Identitäten erzählbar machen
- „Deconstructing Identity": Anti-identitäre Ansätze und Liquid Identities
- Kritik am „Projekt Queer"
- Theorien & Konzepte
- Schluss: Für eine integrative queere Strategie
- Zusammenfassung der Ergebnisse
- Ausblick: Die Notwendigkeit einer integrativen Formulierung von Queer
- Quellenverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht den Begriff der narrativen Identität im Kontext moderner Gesellschaftskritik und analysiert, inwiefern dieser Begriff sowohl als gouvernementale Selbsttechnologie als auch als queere Widerstandsmöglichkeit verstanden werden kann. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die scheinbar freie Wahl und Gestaltung der eigenen Identität im modernen und postmodernen Kontext zu Entfremdungsgefühlen führen kann und welche Rolle dabei die neoliberale Gouvernementalität spielt.
- Entfremdung und Identitätsbildung in der modernen Gesellschaft
- Narrative Identität als Selbsttechnologie neoliberaler Gouvernementalität
- Queere Identitätskritik und die Dekonstruktion des Identitätsbegriffs
- Identity Politics und anti-identitäre Strategien
- Die Notwendigkeit einer integrativen queeren Strategie
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Relevanz des Identitätsbegriffs für eine moderne Gesellschaftskritik heraus und führt in die Problematik der Entfremdung ein. Sie argumentiert, dass die Vorstellung von individueller Freiheit und Selbstbestimmung in der Moderne zu einem Zwang zur Identitätsbildung führen kann, der zu Entfremdungsgefühlen und individuellem Leid beitragen kann.
Der Hauptteil der Arbeit analysiert das Konzept der narrativen Identität, das als eine mögliche Antwort auf die Herausforderungen der Identitätsbildung in der Postmoderne verstanden werden kann. Es wird gezeigt, dass narrative Identität als eine Selbsttechnologie neoliberaler Gouvernementalität verstanden werden kann, die dazu dient, Individuen für die herrschenden Machtstrukturen nutzbar zu machen.
Im dritten Kapitel werden verschiedene queere Strategien vorgestellt, die versuchen, die Machtstrukturen und die damit verbundenen Identitätszwänge zu dekonstruieren. Es werden sowohl die Ansätze der Identity Politics als auch anti-identitäre Strategien, die sich auf die Dekonstruktion des Identitätsbegriffs konzentrieren, beleuchtet.
Der Schluss der Arbeit plädiert für eine integrative queere Strategie, die sowohl die kulturellen und diskursiven als auch die materiellen Aspekte von Ungleichheit und Diskriminierung berücksichtigt. Es wird argumentiert, dass eine solche Strategie notwendig ist, um die Wirksamkeit queerer Politik zu erhöhen und eine breite Bündnispolitik zu ermöglichen.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die narrative Identität, Entfremdung, neoliberale Gouvernementalität, queere Theorie, Identity Politics, Anti-Identität, Liquid Identity, Intersektionalität und integrative queere Strategie. Die Arbeit beleuchtet die Herausforderungen der Identitätsbildung in der modernen Gesellschaft und untersucht die Rolle von Machtstrukturen und Diskursen bei der Konstruktion von Subjektivität. Sie analysiert die Ambivalenz der narrativen Identität als sowohl Werkzeug der Selbsttechnologie als auch als Mittel des Widerstands und plädiert für eine integrative queere Strategie, die sowohl die kulturellen und diskursiven als auch die materiellen Aspekte von Ungleichheit und Diskriminierung berücksichtigt.
- Citation du texte
- B.A. Lea Schneider (Auteur), 2012, Narrative Identität. Gouvernementale Selbsttechnologie oder queere Widerstandsmöglichkeit?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274562