Authentizität von Lagerliteratur am Beispiel von Herta Müllers „Atemschaukel“


Dossier / Travail, 2013

20 Pages, Note: 3,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. „Atemschaukel“
2.1 Entstehungsgeschichte
2.2 Authentizität im Roman
2.3 Wirkung und Rezeption des Romans

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis/Quellenangaben

1. Einleitung

Was ist Lagerliteratur und was ist Erinnerungsliteratur? Wer darf Erinnerungsliteratur schreiben und wo liegen die Grenzen ihrer Definition? Schriftsteller jener Literatur „erschaffen Welten mithilfe von Worten, die ihre Leser und Leserinnen betreten, besichtigen und bewohnen können“.1 Dabei seien ihnen vor allem zwei Kompetenzen zu eigen: Eine außergewöhnliche Sprachfähigkeit sowie eine Imaginationskraft.2 Beide Kompetenzen tragen im Wesentlichen dazu bei, dass jene Autoren Worte für etwas finden, das eigentlich unbeschreiblich und unsagbar ist. Eine Autorin, die über diese Kompetenzen verfügt, ist Herta Müller, die 2009 ihren Roman „Atemschaukel“ veröffentlichte und im selben Jahr den Nobelpreis für Literatur erhielt. Plötzlich war ihr Name einem breiteren Publikum bekannt und „Atemschaukel“ wurde zum Bestseller, wenngleich der Roman bis heute vor allem auch die Meinungen der Literaturkritiker spaltet.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Leopold Auberg, der im Alter von 17 Jahren in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert wird. Leo scheint zunächst froh über die Abreise aus seiner Heimatstadt, denn er fürchtet seine Homosexualität könne aufgedeckt werden, was ihn letztlich ins Gefängnis bringen würde. Doch im Arbeitslager erfährt Leo Tag für Tag die Härte des sowjetischen Regimes und flüchtet sich in eine eigene Welt, um sein Schicksal anzunehmen und ums Überleben zu kämpfen.

Herta Müller erzählt die Geschichte in der Ich-Perspektive und schafft somit Nähe zum Leser. Durch diese Nähe, die man als Leser gleich zu Beginn spürt, tritt auch die Frage in den Vordergrund, wie es der Autorin gelungen sein mag, eine Geschichte derart detailreich zu schildern. Woher hat sie all die Informationen, die uns glaubwürdig und nahezu plastisch darstellen sollen, wie es in jenem Arbeitslager ausgesehen hat und vor allem, wie der junge Protagonist all diese Eindrücke wahrgenommen und empfunden hat?

Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich mit der Entstehungsgeschichte des Romans befassen. Jene Entstehungsgeschichte soll im Rahmen dieser Hausarbeit erläutert werden. Zudem soll dargestellt werden, welche besonderen Aspekte dazu führen, dass der Roman als glaubwürdig und absolut authentisch empfunden wird. Was ist Authentizität und wie wird sie wahrgenommen? Abschließend soll auch darauf eingegangen werden, ob „Atemschaukel“ eher ein fiktiver Roman oder ein klassischer Lagerbericht ist.

2. „Atemschaukel“

Im Folgenden soll erläutert werden, wie der Roman entanden ist und ob er ein authentisches Abbild klassischer Lagerliteratur darstellt. Des Weiteren wird in einem abschließenden Abschnitt die teils gegensätzliche Rezeption von „Atemschaukel“ betrachtet.

2.1 Entstehungsgeschichte

„Ein Werk der Erinnerungskultur - ein Film oder ein Roman - ist mithin eine Interpretation der Vergangenheit, eine narrative Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte, kurzum: ein Erzählmuster.“3 Mit diesen Worten leitet der Literaturwissenschaftler Michael Braun eine Diskussion darum ein, was gegenwärtig als Erinnerungsliteratur betrachtet werden kann. Bevor man nun beurteilen kann, ob es sich bei „Atemschaukel“ um Erinnerungsliteratur handelt, soll in diesem Abschnitt die Entstehungsgeschichte des Romans erläutert werden. Die Geschichte ist an das Leben des Lyrikers Oskar Pastior angelehnt. Er wurde selbst im Alter von 17 Jahren in ein Arbeitslager verschleppt und hat 2004 begonnen mit Herta Müller über seine Erlebnisse zu sprechen. Ihr ist es jedoch wichtig zu betonen, dass der Protagonist Leo nicht Oskar Pastior ist und die fiktive Geschichte lediglich seinem Leben nachempfunden wurde.4 Im Nachwort ihres Romans erwähnt Herta Müller einige wenige, aber dennoch wichtige, Hintergrundinformationen zur Entstehung des Romans. Vor allem erfährt der Leser hier erstmals von der Zusammenarbeit mit Oskar Pastior. Liest man nach der Lektüre der Geschichte das Nachwort, so kommen eventuell weitere Fragen auf. Hätte man den Roman und dessen Geschichte anders gelesen und wahrgenommen, wenn man über die Entstehungszusammenhänge und den tatsächlichen Wahrheitsgehalt völlig im Unklaren gelassen worden wäre? Vermutlich nicht, denn allein die bildhafte und ausdrucksstarke Sprache, mit der die Autorin die Geschichte verfasst hat, reichen aus, um den Leser empathisch für das werden zu lassen, was Leo in fünf Jahren Lager erlebt. Der Zusatz, dass die Geschichte an das Leben von Oskar Pastior und etlichen anderen Deportierten angelehnt ist, unterstreicht allerdings deren Glaubwürdigkeit. Müllers Intention ein Buch über die Entstehung eines Traumas zu schreiben, konnte sie nur umsetzen, wenn sie in diesem Zusammenhang mit Zeitzeugen sprach. In einem Interview mit dem Deutschlandradio erwähnte sie ihre Befürchtung davor irgendwann keine Zeitzeugen mehr vorzufinden, die ihr dann die nötigen Informationen anhand ihrer eigenen Erinnerungen schildern könnten.5 Umso dankbarer sei sie schließlich gewesen als ihr guter Freund Oskar Pastior bereit gewesen sei mit ihr gemeinsam an einem Buch zu schreiben. Doch durch den frühzeitigen Tod Pastiors bleibt unklar, ob tatsächlich ein Roman entstanden wäre. Herta Müller selbst betont, dass sie auf die Erzählungen und detaillierten Berichte Pastiors angewiesen war, um die Geschichte aufzuschreiben. Daher sei es auch nach seinem Tod zunächst eine Überwindung gewesen, alleine weiterzuschreiben: „Erst nach einem Jahr konnte ich mich durchringen, das Wir zu verabschieden und allein einen Roman zu schreiben. Doch ohne Oskar Pastiors Details aus dem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt.“6

Genau in diesem Punkt liegt die eigentliche Leistung der Autorin begründet. Ihr ist es gelungen eine fiktive Geschichte zu konstruieren, obwohl ihr wichtigster Gesprächspartner verstorben war. Sie hat ihre Sprache instrumentalisiert, um dem Ausdruck zu verleihen, was eigentlich unvorstellbar und unaussprechlich ist, und dem, was in Oskar Pastiors Erinnerungen abgespeichert war. Sie hat diesen Erinnerungen Worte gegeben und vielleicht somit das erreicht, was Pastior all die Jahre in seinen Büchern nicht gelungen ist. Worte zu finden, die, wenn teils auch nur ansatzweise, nachempfinden können, was ein Aufenthalt in einem Arbeitslager bedeutet und vor allem, wie die Erlebnisse dieser Zeit auch in der Vergangenheit niemals verblassen. Laut Herta Müller habe „ihm das Lager die Sprache zerbrochen“.7

2.2 Authentizität im Roman

Stellt man sich die Frage, inwieweit Herta Müllers Roman eine authentische und glaubwürdige Geschichte widerspiegelt, so kommt man nicht umhin, sich einige wesentliche Textpassagen anzuschauen und zu analysieren, weshalb jene Passagen die Geschichte und das Schicksal des Leopold Auberg so real wirken lassen. Obwohl Herta Müller betont, dass es sich bei dem Protagonisten ihres Romans nicht um Oskar Pastior handele, lassen sich schnell einige sehr konkrete Parallelen zum Leben Pastiors feststellen, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Es gibt Dinge, über die man nicht spricht. Aber ich weiß, wovon ich rede, wenn ich sage, das Schweigen im Nacken etwas anderes ist als das Schweigen im Mund.8

Bereits hier wird auf eines der zentralen Themen des Romans hingewiesen:

Hunger. Direkt zu Beginn der Geschichte tätigt der Protagonist eine derart bedeutsame Aussage, sodass dem Leser verdeutlicht wird, dass das Thema Hunger auch noch lange nach seiner Zeit im Lager präsent sein und im Grunde niemals verschwinden wird. Um der Dramatik und der Bedeutsamkeit des Themas Ausdruck zu verleihen, erschafft die Autorin den „Hungerengel“, eine Allegorie, die im Verlauf der Geschichte vielfach Erwähnung findet. Es handelt sich hierbei um eine Art Über-Ich, eine unsichtbare Gestalt, die Besitz über Körper und Geist nimmt. Leo spricht stellenweise mit der imaginären Gestalt und kämpft gegen sie an, damit diese fremde Macht keine Überhand nimmt. Dies wird zu seiner wichtigsten Aufgabe im Lager: Neben der Tatsache schnell erwachsen zu werden, den Mächten des Hungerengels zu entkommen. Doch anhand dieser Textpassage wird auch deutlich, dass eine Person, der derart Grausames widerfahren ist, scheinbar einige Zeit benötigt, um überhaupt über das Erlebte zu sprechen. Hier zeigt sich bereits eine erste Parallele zu Oskar Pastior, der zwar bereits vor seiner Zusammenarbeit mit Herta Müller versuchte Einiges in eigenen Werken niederzuschreiben, letztlich allerdings erst in den Gesprächen mit Müller die Kraft gefunden hat, sich überhaupt zu öffnen. Wie schwer ihm dies gefallen ist, erläutert die Autorin in einem Gespräch mit der Journalistin Thea Dorn, in dem sie auch von ihren Zweifeln darüber berichtet, ob Pastior überhaupt mit ihr über seine Erlebnisse sprechen würde, denn „man muss auch wieder ein wenig so sein, wie der, über den man spricht.“9

Und auch die Tatsache, dass Müller und Pastior sich auf eine gemeinsame Recherchereise begeben haben, zeigt zum einen, wie notwendig dies scheinbar für die Aufarbeitung und das Abrufen der eigenen Erinnerungen war und zum anderen aber auch, wie viel Kraft es kostet sich wieder in die Situation hineinzuversetzen, sodass man Gefahr läuft, es vermutlich gar nicht auszuhalten, sich dort wieder zu finden, wo man fünf Jahre seines Lebens in teils unwürdigen Zuständen verbracht hat.

In 64 Kapiteln wird Leopolds Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt. Das erzählende Ich ist zugleich auch das erlebende Ich und somit lässt Müller Leo jedes kleinste Detail seiner Umwelt wahrnehmen. Jede Farbe, jeden Geruch, jedes Geräusch. All das lässt sie mit ihren Worten für den Leser nahbar werden. Zudem fällt auf, dass die Zeitspanne von insgesamt fünf Jahren im Lager chronologisch erzählt wird. Es scheint als berichte der Ich-Erzähler größtenteils aus der gegenwärtigen Position, allerdings wird vor allem gegen Ende des Romans deutlich, dass der „zurückgekehrte“ Leo in Rückblenden auf die Zeit im Lager zurückblickt und sich erinnert. Durch diese Form der Erzählung wird erneut verstärkt deutlich, dass sich Leo auch nach über sechzig Jahren noch an jedes kleinste Detail seiner Lagerzeit erinnern kann und somit das entstandene Trauma bis zuletzt nicht überwunden hat.

Ein weiterer Aspekt, der den Leser staunen lässt, ist die Tatsache, dass sich Leo beinahe in das Lager zurücksehnt, weil sein zuhause nicht mehr jenes war, das er verlassen hatte.

[...]


1 Aleida Assmann: Die Vergangenheit begehbar machen http://www.kas.de/wf/doc/kas_23346-544-1-30.pdf?110901124149 (2.9.2013)

2 Ebd.

3 Michael Braun: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film, Münster: Aschendorff Verlag, 2013, S. 8

4 Interview Deutschlandradio vom 13.8.2009 http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1015982/ (2.9.2013)

5 Ebd.

6 Herta Müller: Atemschaukel, München: Carl Hanser Verlag, 2009, S.300

7 Deutschlandradio http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1015982/ (2.9.2013)

8 Herta Müller: Atemschaukel , S.10

9 Vgl. Literatur im Foyer, SWR, Sendung von Oktober 2009 http://www.youtube.com/watch?v=wuKdNmVPyuQ (2.9.2013)

Fin de l'extrait de 20 pages

Résumé des informations

Titre
Authentizität von Lagerliteratur am Beispiel von Herta Müllers „Atemschaukel“
Université
University of Hagen
Note
3,0
Auteur
Année
2013
Pages
20
N° de catalogue
V274853
ISBN (ebook)
9783656673293
ISBN (Livre)
9783656673286
Taille d'un fichier
488 KB
Langue
allemand
Mots clés
authentizität, lagerliteratur, beispiel, herta, müllers, atemschaukel
Citation du texte
Carina Greiffenberg (Auteur), 2013, Authentizität von Lagerliteratur am Beispiel von Herta Müllers „Atemschaukel“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274853

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