Verhaltensauffälligkeiten bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen. Grundlegende Begriffe


Akademische Arbeit, 2008

47 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Verhaltensauffälligkeit
2.1 Einteilungen
2.2 Häufigkeit
2.3 Ursachen und Handlungsmöglichkeiten

3. Gehörlosigkeit
3.1 Einteilungen
3.1.1 Nach Ausmaß
3.1.2 Nach Art
3.1.3 Nach Kulturzugehörigkeit
3.2 Häufigkeit
3.3 Ursachen
3.4 Förderungsmöglichkeiten
3.4.1 Medizinisch-technische Förderung
3.4.2 Auditiv-verbale Förderung
3.4.3 Bilinguale Förderung

4. Zusammenfassung

5. Literatur (inklusive weiterführender Literatur)

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

In dieser Arbeit soll eine Begriffsklärung durchgeführt werden. Es wird allerdings nicht möglich sein, eine umfassende und alle Faktoren einbeziehende Definition der beiden zentralen Begriffe zu erarbeiten und zu präsentieren, da selbst in Fachbüchern z. B. zum Thema Verhaltensgestörtenpädagogik keine von allen vollständig akzeptierte Definition enthalten ist. Stattdessen soll eine knappe Einführung in die Bedeutung des verwendeten Begriffes in Abgrenzung verwandter Formulierungen vorgenommen werden.

2. Verhaltensauffälligkeit

2.1 Einteilungen

Einteilungen von Verhaltensauffälligkeiten können auf der Grundlage verschiedener Kriterien durchgeführt werden. Eine erste Hilfe hierzu und auch zum Verständnis der Bedeutung dieses Begriffs ist die getrennte Untersuchung der beiden Worte, aus denen er zusammengesetzt wird.[1] Es geht um ein Verhalten, das auffällig ist. Unter Verhalten wird in einem engeren Sinne das nach außen in Erscheinung tretende Agieren einer Person verstanden, das von anderen wahrgenommen werden kann. Dieses sehr enge Verständnis von Verhalten ist im Kontext der Verhaltensgestörtenpädagogik jedoch keineswegs ausreichend. Denn zusätzlich zu dieser ersten Komponente des sichtbaren Handelns wird in einem weiteren Verständnis von Verhalten darunter auch das Erleben und Wahrnehmen von Emotionen verstanden, was von außenstehenden Personen nur sehr schwer wahrgenommen werden kann. Und die kognitive Komponente spielt ebenfalls eine Rolle, da es auch um die Bewertung – als einem kognitiven Akt – von Wahrnehmungen, Eindrücken, Emotionen und Handlungsmöglichkeiten geht. Und auch bei diesen Verhaltensarten im weiteren Sinn kann es zu Auffälligkeiten kommen. Die Nennung dieser drei Komponenten des Verhaltens gibt Hinweise auf eine erste, häufig vollzogene Einteilung von Verhaltensauffälligkeiten in einen emotionalen und einen sozialen Bereich. Diese Einteilung geschieht auf der Grundlage der Zuordnung des Verhaltens, Erlebens und Verarbeitens auf die zwei genannten Bereiche. Diese Unterteilung folgt den Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung der KULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) vom 10.3.2000, wobei der kognitive Bereich, zumindest der Begrifflichkeit nach, außen vor gelassen wird. Zum Beispiel wird die emotionale Regulationsfähigkeit und das Selbstwertgefühl dem emotionalen Bereich zugeschrieben, während Kommunikationsfähigkeit, Sachlichkeit und Toleranz dem sozialen Bereich angehören.[2]

Eine andere Einteilung, die sich von der gerade angeführten in Bezug auf die jeweils zugeteilten Erscheinungsformen inhaltlich kaum unterscheidet, ist die in externalisierende und internalisierende Verhaltensauffälligkeiten. Die klassisch externalsierenden Auffälligkeiten agieren nach außen so wie z. B. aggressives, impulsives und hyperaktives Verhalten. Diese sind somit im Großen und Ganzen mit Verhaltensauffälligkeiten im sozialen Bereich, die klassisch internalisierenden Auffälligkeiten sind dagegen mit dem emotionalen Bereich so gut wie gleichzusetzen. Beispiele hierfür sind „ein negatives Selbstkonzept und ein geringer Selbstwert, starke Ängstlichkeit oder auch Depressivität“ (STEIN 2006, S. 28). Die Kriterien für die bisher genannten Einteilungen basieren auf der Grundlage der Erscheinungsform der Verhaltensauffälligkeit.

Eine Alternative hierzu nennt BACH, wenn er entsprechend dem Außmaß – unabhängig vom Bereich – der Auffälligkeit auch verschiedene Bezeichnungen zur genauen Beschreibung und einem exakteren Verständnis der gemeinten vorschlägt.[3] Er nennt die vier Begriffe Pseudoverhaltensstörung, Verhaltensstörung, Verhaltensbehinderung und Verhaltensbeeinträchtigung. Pseudoverhaltensstörungen sind an sich gar keine Verhaltensstörungen, da die Zuschreibung auf der Grundlage falscher Bewertungssmaßstäbe erfolgte. Auch abweichendes Verhalten „das zufällig, aufgrund äußeren Zwangs, direkt durch motorische, sensorielle Schäden, durch Schäden der Sprechwerkezeuge, durch intellektuelle Schäden oder durch akute organische Erkrankungen bedingt ist,“ zählt er zu den Pseudobeeinträchtigungen (BACH 1989, S. 8, Hervorhebung im Original). Mit Verhaltensstörung meint er verläßlich beobachtbares, wiederholt auftretendes, abweichendes Verhalten, dass auf Grund seiner häufigen Durchführung auf eine entsprechende „individuale Bereitschaft schließen“ lässt (BACH 1989, S. 7, Hervorhebung im Original). Verhaltensbehinderungen grenzt er von diesen ab, indem er damit extremes Verhalten in Bezug auf die Länge des Zeitraums, in der es auftritt und ein gravierendes Ausmaß in Umfang und Grad bezeichnet. Und der Begriff Verhaltensbeeinträchtigung ist von ihm letztlich als ein Überbegriff gemeint, unter dem die anderen subsumiert werden können. Es bleibt anzumerken, dass die genannten Einteilungen trotz ihrer Nützlichkeit bezüglich der Strukturierung der Erscheinungsformen des verhaltensauffälligen Kindes immer auch eine gewisse Unsicherheit offen lassen, da Abgrenzungen häufig schwer fallen und deswegen unmöglich alle Phänomene einem Bereich eindeutig zugeordnet werden können.

Der zweite Teil des Wortes Verhaltensauffälligkeit deutet ebenfalls wichtige Aspekte an. Zunächst einmal gibt es eine Person, der das Verhalten auffällt. Dabei gibt es für die Person, der ein Verhalten auffällt bzw. auffallen soll, verschiedene Schwierigkeitsgrade, die genannten Komponenten tatsächlich zu bemerken. Denn das körperliche Handeln des Kindes, etwas zu werfen, zu sagen oder zu schreien, fällt Außenstehenden natürlich wesentlich leichter auf, als die Wahrnehmungen und Emotionen des Kindes oder seine (auch unbewusste) Bewertung der momentanen Situation. Diese abgestuften Herausforderungen an den Pädagogen, vom eindeutig sicht- oder hörbaren Handeln, über die möglicherweise durch Mimik ausgedrückten Emotionen, bis hin zu den unsichtbaren Bewertungen die im Kopf des Kindes stattfinden, gehören jedoch zu den unbedingt zu bewältigenden Aufgabenstellungen eines Pädagogen, der feststellen will, ob das Kind als verhaltensauffällig zu bezeichnen ist oder nicht. D. h. zudem, Verhaltensauffälligkeiten kommen als solche immer nur im sozialen Kontext zum Tragen, auch wenn hierzu nicht unbedingt eine andere Person (körperlich) anwesend sein muss. Außerdem fällt der Person dieses Verhalten auf, weil es von dem üblichen Verhalten abhebt. Es wird also – zumeist unbewusst – eine Norm zugrundegelegt, die dafür maßgeblich ist, ob ein Verhalten als auffällig bezeichnet wird oder nicht.[4] In diesem Zusammenhang müssen mehrere Arten von Normen angeführt werden, die als Bewertungsgrundlage fungieren können:

− soziokulturelle Normen
− explizite Normen (Gesetze und Vorschriften)
− statistische Normen (empirische Daten oder individuelle Erfahrung)
− Normen, die sich aus Überlegungen wissenschaftlicher Ansätze ergeben

Der Aspekt der Normabhängigkeit der Bewertung einer Handlung als Verhaltensauffälligkeit ist ein zentrales Moment, weil hierdurch die Relativität der Zuschreibung deutlich wird.8[5] Für die Einteilung von Verhaltensauffälligkeiten werden häufig medizinische Kategorien bzw. Klassifikationssysteme wie das ICD-10 oder das DSM-IV herangezogen. Allerdings sind diese Klassifikationen nicht universal gültig, sondern nur ein System von Kategorien oder Normen, welches als Grundlage einer Bewertung dienen kann.

Es gibt – wie bereits gezeigt – neben der Bezeichnung Verhaltensauffälligkeit noch weitere Begriffe mit einer ähnlichen oder evtl. auch deckungsgleichen Bedeutung, wobei hier nicht der richtige Ort ist, sie alle zu nennen und zu diskutieren.[6] Sehr weit verbreitet sind unter Anderem die Bezeichnungen „verhaltensgestört“ und „psychosozial beeinträchtigt/gestört“. Der zweite Begriff wird z. B. in der Psychologie herangezogen, um förderliche oder gefährdende Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Kindes zu beschreiben. Und die Bezeichnung „verhaltensgestört“ ist in der Alltagssprache aber auch in der Wissenschaft sehr geläufig, wenn auch in letzterer mit einer anderen Konnotation. So impliziert dieser Begriff, dass eine Verhaltensstörung nicht nur beim Kind zu verorten ist, sondern dass das als gestört bewertete Verhalten des Kindes in Wirklichkeit nur wie ein Signal für eine dahinter liegende Störung fungiert. „Die Verhaltensstörung wird als Symptom des gestörten Systems gefaßt und nicht am Individuum festgemacht“, schreibt DIETZE dazu (1998, S. 144).

Dennoch wurde bisher und wird auch im Weiteren hauptsächlich der Begriff „verhaltensauffällig“ verwendet. Das hat zwei Gründe: Zum einen sind „… Begriffe wie »Verhaltensauffälligkeiten« oder der »Verhaltensstörungen« insbesondere für Kinder und Jugendliche reserviert…“ (SCHAD, STEIN 2005, S. 419). In diesem Sinne ist auch das Thema dieser Arbeit schon als eine Einschränkung der hier zu untersuchenden Zielgruppe zu verstehen. Zum Anderen wurde vorhin bereits ausgeführt, dass bei der Bezeichnung „verhaltensauffällig“ immer schon eine bewertende Person und das Vorhandensein einer Norm oder Regel mitgedacht werden. Wenn also im Folgenden von „Verhaltensauffälligkeiten“ die Rede ist, dann sollen zugleich diese beiden Aspekte ins Bewusstsein kommen und auch weiterhin präsent bleiben. Es folgen nun ein paar kurze Anmerkungen zur Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen.

2.2 Häufigkeit

Entsprechend der angeführten Einteilungsmöglichkeit in externalisierende bzw, soziale und in internalisierende bzw. emotionale Verhaltensauffälligkeiten und der damit einhergehenden unterschiedlichen Schwierigkeit ihrer Feststellung wäre es zu erwarten, dass z. B. aggressive und hyperaktive Störungen wesentlich häufiger auftreten bzw. bemerkt werden als Störungen aus dem internalisierenden bzw. emotionalen Bereich. Als Standardarbeit zur Erforschung der Prävalenz wird immer wieder die von IHLE, ESSER durchgeführte Metastudie zitiert (vgl. 2002). Sie untersuchten eine ganze Reihe bis dahin vorliegender Erhebungen und filterten methodisch unsaubergeführte Arbeiten und auch solche, die keine genaue Vergleichbarkeit ermöglichten, aus und kamen bei dem Vergleich der 19 übriggebliebenen Untersuchungen zu überraschenden Ergebnissen. Unterteilt nach den einzelnen Arten von Verhaltensauffälligkeiten kamen sie zu folgenden Prävalenzraten:

− Angststörungen 10,4 %
− „dissoziale“ Störungen 7,5 %
− depressive und hyperkinetische Störungen jeweils 4,4 %

Interessant ist hier, dass eben nicht eine externalisierende (oder soziale) Verhaltensauffälligkeit an erster Stelle steht, sondern eine an sich schwerer festzustellende internalisierende wie die Angststörung. Und als durchschnittliche Auftretenshäufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten konnten sie eine Rate von 18 % ermitteln. Und bezüglich der Geschlechterverteilung einzelner Arten von Verhaltensauffälligkeiten stellten sie fest, dass Hyperkinetische Störungen, Dissoziales Verhalten und Alkohol- und Drogenmissbrauch signifikant häufiger bei Jungen auftraten, wohingegen Essstörungen und psychosomatische Störungen bei Mädchen häufiger vorkamen. Keinen geschlechtsspezifischen Unterschied gab es allerdings bei den meist eher Mädchen zugeschriebenen Auffälligkeiten wie Angst oder Depressionen. Welche Ursachen die jeweiligen Verhaltensauffälligkeiten hatten, wurde von ihnen aber nicht untersucht.

2.3 Ursachen und Handlungsmöglichkeiten

Auf alle Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten in einem kurzen Unterkapitel einzugehen, ist so gut wie unmöglich. Es gibt beinahe ein Dutzend Theorien zu ihrer Erklärung, auf die in der Literatur eingegangen wird und von der jede an sich schon den Rahmen einer eigenen Arbeit verlangte.10[7] Das gleiche trifft auf die Handlungsmöglichkeiten zu. In Bezug auf die Möglichkeiten der Förderung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher können kaum allgemeine Aussagen getroffen werden, da die vorgeschlagenen Handlungsansätze zum Einen von der speziellen Art der Verhaltensauffälligkeit und zum Anderen auch von der zugrunde gelegten Theorie zur Erklärung der Auffälligkeit abhängig sind. An dieser Stelle kann deswegen nicht viel mehr gemacht werden, als die unterschiedlichen Theorien zu benennen und auf die entsprechende Literatur zu verweisen. Das Gleiche gilt für die Handlungsmöglichkeiten und die unten stehenden Theorien, aus denen Programme und Trainingsmaßnahmen manchmal auch ohne die explizite Nennung der zugrunde gelegten

Theorie abgeleitet wurden.

− Psychoanalyse
− Individualpsychologie
− Lernpsychologie
− Selbstkonzept-Theorie nach Rogers
− Bindungstheorie
− Theorie der Selbst- und Handlungsregulation
− Systemtheorie
− Subkultur und Kulturkonflikt
− Theorien des differentiellen Lernens
− Anomietheorien
− Labeling Approach
− Biophysisch-medizinische Theorien

Ein weiterer Grund für diese möglicherweise verkürzt erscheinende Vorgehensweise ist die bereits angeführte Tatsache, dass sich Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen qualitativ nicht von denen Hörender unterscheiden. D. h., dass die Verhaltensauffälligkeiten gehörloser Kinder grundsätzlich auch die gleichen Ursachen haben können wie die Auffälligkeiten hörender Kinder. Gleiches gilt vermutlich auch für die Handlungsmöglichkeiten, wobei dieser Aspekt später noch näher untersucht werden muss. Allerdings gibt spezielle Risikofaktoren im Kontext der Gehörlosigkeit für das Entstehen von Verhaltensauffälligkeiten. Da somit der Begriff Verhaltensauffälligkeit erläutert und die Verwendung gerade dieser Bezeichnung begründet wurde, kommen wir zum zweiten grundlegenden Begriff.

3. Gehörlosigkeit

Auch die Bedeutung (bzw. die Bedeutungen) des Begriffs „Gehörlosigkeit“ wird umrissen und die in dieser Arbeit anvisierte Zielgruppe beschrieben. Es soll kurz angeführt werden, welche Möglichkeiten der Einteilung es in diesem Kontext gibt. Auch wird gezeigt, wie häufig Hörschädigungen im Allgemeinen auftreten und darauf aufbauend werden Zahlen zur Prävalenz von Gehörlosigkeit bei Kinder und Jugendlichen genannt. Außerdem wird ansatzweise auf die Ursachen von Gehörlosigkeit und die unterschiedlichen Möglichkeiten der Förderung von gehörlosen Kindern und Jugendlichen eingegangen.[8]

3.1 Einteilungen

Zu Beginn dieser Ausführungen ist festzuhalten, dass es nicht den Gehörlosen oder die Hörgeschädigte gibt. Bei Menschen mit einer Schädigung des Hörvermögens handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe: „Darüber hinaus weist praktisch jeder Hörgeschädigte hinsichtlich seines Hörschadens und seiner kommunikativen Situation individuelle Unterschiede und Auffälligkeiten auf“ (LEONHARDT 2002, S. 20). Auch HINTERMAIR, LEHMANN-TREMMEL bestätigten diesen Umstand: „Wichtig ist uns, dass wahrgenommen wird, dass die Population der hörgeschädigten Kinder eine äußerst heterogene Gruppe ist und entsprechend dieser Heterogenität mit pädagogischer Vielfalt zu reagieren ist. Pädagogik hat die vornehmliche Aufgabe, differenziert auf die Anforderungen der Gegenwart zu reagieren!“ (2003a, S. 198). Um dieser Heterogenität gerecht zu werden, ist es wichtig, die unterschiedlichen Formen von Hörschädigungen und ihre Auswirkungen auf das Leben der von ihnen betroffenen Personen in ihren unterschiedlichen Varianten kennen zu lernen. Es ist hier nicht möglich, alle Arten darzustellen, gerade weil es so eine Vielzahl von Störungs- und Entwicklungsverläufen gibt. Jedoch sollten Pädagogen diese Heterogenität immer im Hinterkopf behalten, um nicht einem schematischen Denken und Handeln auf Grund von Typisierungen zu verfallen.

Der bereits mehrfach angeführte Begriff „hörgeschädigt“ stellt eine übergeordnete Bezeichnung für alle Menschen mit einer Hörschädigung dar. Ebenfalls werden häufig die Bezeichnungen schwerhörig, taub, und gehörlos verwendet. Ihre Bedeutung kann je nach dem verwendeten Zusammenhang variieren. Die Untergliederung oder Einteilung kann nämlich an Hand verschiedener Maßstäbe erfolgen. Die hierfür meistens zu Grunde gelegten Maßstäbe basieren auf medizinischen Bewertungskriterien, nämlich dem Ausmaß und der Art der Hörschädigung, in Kombination mit dem Zeitpunkt des Eintritts der Hörschädigung. Ob es für eine pädagogische Disziplin wie die Hörgeschädigtenpädagogik allerdings sinnvoll ist, sich unreflektiert an Kategorien aus einer fremden Disziplin wie der Medizin zu orientieren und dadurch ihr implizites Menschenbild zu übernehmen und aus diesem die Therapie- und Handlungsmöglichkeiten abzuleiten, wird später thematisiert.[9] Vorab kann jedoch angemerkt werden, dass aus diesem Grund auch eine dritte Möglichkeit der Einteilung anzuführen ist: die nach der (von der betroffenen Person selbst gewählten) Kulturzugehörigkeit.

3.1.1 Nach Ausmaß

Eine erste Einteilung der Hörgeschädigten kann nach dem Ausmaß der Hörschädigung, als der in Dezibel (dB) gemessenen Höhe des Hörverlustes, vorgenommen werden. Zur besseren Übersicht sind die unterschiedlichen Grade in Tabelle 1 dargestellt. Es gibt also verschiedene Grade der Ausprägung einer Schwerhörigkeit. Was früher als Taubheit oder Gehörlosigkeit bezeichnet wurde, wird mittlerweile jedoch Resthörigkeit genannt, da ein hundertprozentiger, vollständiger Verlust des Gehörs nur bei ca. 2 % gehörloser Personen der Fall ist.[10]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Es ist jedoch anzumerken, dass eine Einteilung allein nach dem Ausmaß des Hörschadens keinesfalls ausreichend ist. Zum Einen, weil die tatsächlichen Auswirkungen des Hörschadens, selbst beim gleichen Ausmaß des Hörverlusts in dB, sich in Bezug auf die Qualität des Hörens sehr stark voneinander unterscheiden. Zum Anderen, bzw. daraus folgend, ist die Möglichkeit zum Hören und Verstehen von Lautsprache auch bei der gleichen Höhe der Hörverlusts ganz unterschiedlich ausgeprägt. Dies wird auch durch die Untersuchung der verschiedenen Arten von Hörschäden deutlich, der zweiten Möglichkeit der Einteilung hörgeschädigter Personen.

3.1.2 Nach Art

Dabei ist grundsätzlich nach der Lokalisierung der Hörschädigung zu unterscheiden. Es gibt periphere Hörschäden und zentrale. Periphere Hörschäden haben ihre Ursache im Außen-, Mittel- oder Innenohr, wobei zentrale Hörschäden ihre Ursache in einer Funktionsschädigung des Hörnervs oder der Verarbeitungsregionen im Gehirn haben. Zuerst wird hier auf die peripheren Hörschäden eingegangen.

Die verschiedenen Arten der Hörschädigung sind, wie bereits weiter oben genannt, Schwerhörigkeit, Taubheit, und Gehörlosigkeit. Als schwerhörig werden alle Personen bezeichnet, die eine nach „Art und … Grad des Hörverlustes“ stark variierende Schädigung des Hörvermögens haben, aber dennoch in der Lage sind, Lautsprache – unter Umständen mit Hörhilfen – zu verstehen (KAUL 2006, S. 57, Hervorhebung im Original) . Der Hörschaden kann eine der drei folgenden Formen annehmen:

Erstens kann es zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit (oder Mittelohrschwerhörigkeit) kommen, bei der „eine Funktionsstörung des Gehörgangs, des Trommelfells oder des Mittelohres“ vorliegt (LEONHARDT 2002, S. 50). Die Folge davon ist ein auf allen Frequenzen gesenktes Hörvermögen, was einem leiseren Hören gleichkommt. Diese Form der Schwerhörigkeit hat jedoch kaum eine sonderpädagogische Bedeutung, da ihre Auswirkungen durch medizinische Therapiemöglichkeiten – möglicherweise sogar ohne technische Hörhilfen – soweit reduziert werden können, dass das Hörvermögen für die Aufnahme und das Verstehen von Sprache und anderer Klänge im sozialen Kontakt ausreicht.

Die zweite Form ist die Schallempfindungsschwerhörigkeit, auch sensorineurale Schwerhörigkeit genannt, die es in zwei Unterformen gibt: „die sensorische (auch cochleäre) Schwerhörigkeit und die neurale (auch retrocochleäre) Schwerhörigkeit, … die auch gleichzeitig auftreten“ können (LEONHARDT 2002, S. 51). Anders als die Schallleitungsschwerhörigkeit ist diese zweite Form der Schwerhörigkeit sehr wohl von sonderpädagogischer Bedeutung. Denn hier ist das Hören aller Frequenzen nicht gleichmäßig reduziert, sondern die Wahrnehmung der höheren Frequenzen wesentlich stärker eingeschränkt. Gerade diese sind aber für das Verstehen von Lautsprache entscheidend, so dass sie nur noch verzerrt gehört und somit sehr schlecht verstanden werden kann. „Eine einfache lineare Verstärkung der Intensität, z. B. durch lautes Sprechen, bietet dem von dieser Art betroffenen Schwerhörigen keine Hilfe. Hörgeräte können eine Hilfe sein“ (LEONHARDT 2002, S. 52).

Die dritte Form der Schwerhörigkeit ist vielmehr eine Kombination der ersten beiden. Sie wird synonym mit den folgenden Begriffen bezeichnet: kombinierte Schwerhörigkeit, kombinierte Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeit oder kombinierte Mittelohr- und Innenohrschwerhörigkeit. „Die Schallempfindungsschwerhörigkeit dominiert jedoch und bestimmt das Wahrnehmungssgeschehen“ (LEONHARDT 2002, S. 53). Bei allen drei genannten Formen der Schwerhörigkeit ist es für das weitere Leben, die Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten mit anderen, das Empfinden und das psychosoziale Wohlbefinden dieser Personen von höchster Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt die Hörschädigung auftritt. Eine Schwerhörigkeit kann noch vor dem Erwerb der (Laut-)Sprache eintreten. Die betreffende Person wird dann als frühschwerhörig bezeichnet. Wenn sie ab einem Altern von ungefähr 3 oder 4 Jahren eintritt, also nach dem Abschluss des Spracherwerbs, als spätschwerhörig.[11] Der Zeitpunkt ist deswegen von so immenser Wichtigkeit, da bei Frühschwerhörigen der Erwerb von Lautsprache und die damit verbundene Kommunikationsfähigkeit einen wesentlich anderen Charakter hat, als bei Spätschwerhörigen. Soviel zur Kennzeichnung und den unterschiedlichen Formen von Schwerhörigkeit.

[...]


[1] Vgl. im Folgenden STEIN 2006; SCHAD, STEIN 2005.

[2] Vgl. STEIN 2006, S. 26, Tabelle 1.

[3] Vgl. im Folgenden BACH 1989, S. 4–8.

[4] Vgl. SCHAD, STEIN 2005, S. 421–422.

[5] Dieser Aspekt wird im Laufe der vorliegenden Arbeit immer wieder auftauchen.

[6] Vgl. hierzu BACH 1989, S. 9–11.

[7] Zu den folgenden Ausführungen vgl. SCHAD, STEIN 2005, S. 425–427; STEIN 2006, S. 30–32; MYSCHKER 2005,

S. 81–129; BACH 1989; BENKMANN 1989.

[8] Vgl. im Folgenden FENGLER 1990; LEONHARDT 2002; KAUL 2006.

[9] Für die Verhaltensgestörtenpädagogik als einer pädagogischen Disziplin gilt selbstverständlich das Gleiche.

[10] Vgl. GROSSE 2003, S. 17.

[11] Hierbei ist jedoch anzumerken, dass die Grenze „Abschluss des Spracherwerbs“ keineswegs so leicht zu

bestimmen ist, wie es zunächst den Anschein macht. Schließlich verändern sich nicht nur Art und Umfang

des aktiven und passiven Wortschatzes im Verlauf des ganzen Lebens, sondern auch Sprechweise und

noch vieles mehr. Ein banales Beispiel hierfür ist die Veränderung der von einem selbst gesprochenen

Sprache und des Dialekts, nachdem man in ein anderes Gebiet umgezogen ist oder in einer anderen Stadt

einige Tage zu Besuch war.

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Verhaltensauffälligkeiten bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen. Grundlegende Begriffe
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
47
Katalognummer
V275361
ISBN (eBook)
9783656676324
ISBN (Buch)
9783656676300
Dateigröße
696 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
verhaltensauffälligkeiten, gehörlosen, grundlegende, begriffe
Arbeit zitieren
Diplom-Pädagoge Frank Alibegovic (Autor:in), 2008, Verhaltensauffälligkeiten bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen. Grundlegende Begriffe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275361

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