Literaturverfilmung im neuen deutschen Film. Schlöndorffs „HOMO FABER“


Texte Universitaire, 2003

55 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entstehungsgeschichte / Hintergründe
2.1 Homo faber, der Roman
2.2 HOMO FABER / VOYAGER, der Film

3. Formale Aspekte
3.1 Erzählstruktur des Romans
3.1.1 Rückblenden, Vorausdeutungen
3.1.2 Tagebuchform des Romans
3.2 Erzählstruktur des Films
3.2.1 Rückblenden im Film
3.2.2 Erhalt der Berichtform
3.3 Erzählperspektive des Romans
3.4 Erzählperspektive des Films
3.5 Erzählstil Frischs
3.5.1 Alltagssprache
3.5.2 Mechanismen der Gefühlsabwehr
3.5.3 Sprachbilder
3.6 Erzählstil Schlöndorffs
3.6.1 Techniker-Sprache im Film
3.6.2 Ausdruck der Abwehrhaltung
3.6.3 Sprach-Bilder

4. Inhaltliche Aspekte
4.1 Motivkreise im Roman
4.1.1 „Technik – Natur“
4.1.2 „Mann – Frau“
4.1.3 „Zufall – Schicksal“
4.2 Umsetzung der Motive im Film
4.2.1 „Technik – Natur“
4.2.2 „Mann – Frau“
4.2.3 „Zufall – Schicksal“
4.3 Figuren im Roman
4.3.1 Faber, die Romanfigur
4.3.2 Die Filmfigur Faber
4.3.3 Hanna im Roman
4.3.4 Hanna im Film
4.3.5 Sabeth im Roman
4.3.6 Sabeth im Film
4.4 Mythologischer Hintergrund im Roman
4.4.2 Demeter-Kore-Motiv
4.4.3 Archetyp „Mutter“
4.5 Übertragung in den Film
4.5.1 Ödipus
4.5.2 Demeter-Kore
4.5.3 Archetyp Mutter
4.6 Intention des Romans
4.7 Intentionsverlagerung durch inhaltliche Veränderungen
4.7.1 Auslassungen
4.7.2 Inhaltliche Varianzen
4.7.3 Intentionsverlagerung bei der Verfilmung

5. Schlussbetrachtung

6. Quellenverzeichnis
Primärliteratur
Film
Sekundärliteratur
Zu Max Frisch und „Homo faber“
Zu Schlöndorff und „HOMO FABER“
Zeitungsartikel zu Schlöndorffs Verfilmung

Anhang: Bildbeispiele

1. Einleitung

Als Louis Lumière 1896 einen Film nach Motiven aus Goethes Faust produzierte, war der Film als solcher gerade ein Jahr alt. Gegen die Widerstände der traditionellen Künste, wie der Literatur oder der Malerei, die der neuen Kunstform der Kinematographie ihre Kunstfähigkeit absprachen, entwickelte sich der Film rasant weiter. Als sich die Auflösungsängste der alten Künste allmählich gelegt hatten, entwickelte sich eine fruchtbare Beziehung zwischen dem Kino und der übrigen Kunst. Im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts entstand sodann eine tiefe Verbindung zwischen Literatur und Film. Das Genre der Literaturverfilmung etablierte sich und somit bewegte sich die Kinematographie auf die Literatur zu. Andersherum fingen berühmte Theaterschauspieler an, in Filmen aufzutreten und der Herausgeber Kurt Pinthus sammelte mit seinem „Kinobuch“ Beiträge namhafter Autoren, wie Else Lasker-Schüler oder Max Brod, für das Kino.

Das Kino konnte sich etablieren und hat die übrigen Kunstformen in der Breite seiner Wahrnehmung, vor allem durch seinen Nachfolger das Fernsehen, weit überflügelt. Heute finden sich kaum noch generelle Vorbehalte gegen die Literaturverfilmung. Dass der Film weniger hochwertige Kunst als die Literatur sei und sich dem Maßstab der „Werktreue“ stellen müsse, ist eine Aussage die zunehmend der Vergangenheit angehört. Die Adaption von Literatur im Film wird heute als eigenständige medienspezifische Ausformung der Literatur gesehen.

Einen großen Beitrag zu dieser Entwicklung leistete das Neue Deutsche Kino. Eine Reihe von jungen Autoren, Regisseuren und Produzenten schloss sich Anfang der sechziger Jahre zusammen, um eine Kampfansage gegen die herrschende Filmpraxis zu machen und den „neuen deutschen Spielfilm“ zu schaffen. Hierbei sollten die „Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner“, von „branchenüblichen Konventionen“, von der „Bevormundung durch Interessensgruppen[1] im Mittelpunkt stehen. Daraus resultierte auch eine neue Sichtweise der Literaturverfilmung. Die Privilegierung einer möglichst „werkgetreuen“ Verfilmung, die meist in einer relativ naiven Nacherzählung des Inhalts der literarischen Vorlage bestand, wich einem individuellen Ansatz, bei dem der Regisseur als aktualisierender Interpretant auftrat.

Zu diesen Regisseuren gehört Volker Schlöndorff. Schlöndorff, dessen erster Kinofilm Der junge Törless ihm den Bundesfilmpreis und auch den Preis der Internationalen Filmkritik in Cannes einbrachte, drehte eine Reihe von Literaturverfilmungen. So adaptierte er Kleists Michael Kohlhaas, Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum und auch Grass Die Blechtromme l, für die er, als erster deutscher Regisseur seit 1927, einen Oscar erhielt. Mit der Verfilmung von Max Frischs Homo faber gelang es Schlöndorff 1991 die schicksalhafte Geschichte über Zufall und Fügung einem sehr breiten Publikum darzubieten.

In dem Filmen ist das zentrale Moment der Handlung die Beziehung zwischen einem älteren Mann und einem Mädchen und deren tragisches Ende. Es soll als Exempel dienen bei einer Untersuchung, die feststellen will, wie Literatur in ein anderes Medium übersetzt werden kann.

Die Untersuchung der Verfilmungen verläuft nach einem bestimmten Muster: Zunächst werde ich mich mit der Entstehung des Werkes, also des Buches, wie auch des Filmes befassen. Anschließend werde ich auf die formalen Merkmale der Vorlage und deren Umsetzung in das andere Medium übergehen. Hierzu gehören die Erzählstruktur, die Erzählperspektive und der Erzählstil. Die inhaltliche Analyse, bei der ich die Aspekte Motive, Figurenkonstruktion und Intention des Werkes, sowie deren Umsetzung im Film untersuchen werde, ergibt den dritten Teil der Arbeit.

2. Entstehungsgeschichte / Hintergründe

2.1 Homo faber, der Roman

Frischs Roman Stiller von 1954 hatte zunächst vor allem bei der Kritik, später auch beim breiteren Publikum großen Erfolg. 1955 gab daher Max Frisch sein Architekturbüro auf und widmete sich vollends der Literatur.

Nach einer Entstehungszeit von etwa zwei Jahren erschien 1957 der Roman Homo faber. Mehrere Überarbeitungen[2] führten schließlich zu den zwei „Stationen”.[3]

Homo faber hatte im Gegensatz zu Stiller sofort nach seinem Erscheinen einen großen Verbreitungsgrad. Beide Romane behandeln ein Identitätsproblem, wobei Homo faber die „Frage, wieweit es einem Menschen gelingt, seine Identität in einer technisierten Welt zu bewahren oder wiederzufinden” [4], dem intimen privaten Identitätsproblem des Stiller gegenübersteht.

Homo faber ist durch eine Vielzahl von Schauplätzen durchaus als eine Art „Reiseroman” zu sehen. Die meisten dieser Orte bereiste Frisch selbst: Zweimal war er in den USA, er besuchte Griechenland, Mexiko, Kuba und unternahm sogar eine Schiffsreise über den Atlantik, allerdings von Neapel nach New York, nicht von New York nach Le Havre.[5]

Vorbilder für die Figuren des Romans, vor allem für Hanna und Sabeth, finden sich in Frischs Biographie. So spricht er von einer „jüdischen Braut” sowohl in einem Interview[6] als auch in seinem Spätwerk Montauk [7]:

„Die Braut aus Berlin (zur Hitler-Zeit) heißt nicht HANNA, sondern Käte, und sie gleichen sich überhaupt nicht. (...) Gemeinsam haben sie nur die historische Situation und in dieser Situation einen jungen Mann, der später über sein Verhalten nicht ins Klare kommt. (...) Sie ist meine erste Partnerin; wir wohnen nicht zusammen, aber wir treffen uns jeden Tag. Sie ist Studentin. (...) Sie möchte ein Kind, und das erschreckt mich; ich bin zu unfertig dazu, als Schreiber gescheitert und am Anfang einer anderen Berufslehre, um kein Taugenichts zu bleiben. (...) Dann bin ich bereit zu heiraten, damit sie in der Schweiz bleiben kann, und wir gehen ins Stadthaus Zürich, Zivilstandesamt, aber sie merkt es: Da ist nicht Liebe, die Kinder will, und das lehnt sie ab, nein das nicht.”[8]

Frisch bemüht sich um größtmögliche Glaubwürdigkeit beim Charakter Fabers: Da dieser als rationaler Techniker seinem Typ entsprechend Quellen für seine Meinungen angibt[9], hat Frisch sich eingehend mit wissenschaftlichen Titeln der Wahrscheinlichkeitslehre beschäftigt.[10]

In Frischs „Tagebuch 1946-1949” findet sich mancher Handlungsstrang des Homo faber schon angedacht: Ein Kurier trifft in Prag auf ein Mädchen, das ihn sehr anzieht. Als ihn das Gefühl überkommt, sie könnte sein Kind sein, beginnt er sie zu suchen. Nachdem er sie jedoch nicht findet, glaubt er, dem Mädchen sei etwas zugestoßen. Er begibt sich ins Leichenschauhaus. Auch dort findet er sie nicht, sondern die Leiche einer schwangeren Frau.[11]

Auch das Motiv des Zufalls ist im ersten Tagebuch Frischs schon vorhanden: „(...) der Zufall ganz allgemein: was uns zufällt ohne unsere Voraussicht, ohne unseren bewussten Willen.” [12]

2.2 HOMO FABER / VOYAGER, der Film

Seit den sechziger Jahren lagen die Rechte für eine Verfilmung des Homo faber bei der Paramount. Mehrere namhafte Regisseure, darunter Wim Wenders, Bernhard Wicki und Luchino Visconti hatten sich schon für das Projekt interessiert. Aufgrund der Umsetzungsschwierigkeiten, die sich durch die immensen Kosten (authentische Darstellung der fünfziger Jahre, häufige Schauplatzwechsel...) aber vor allem auch durch das Inzest-Tabu ergaben, wurde das Projekt lange Zeit nicht verwirklicht. Auch Schlöndorff lehnte 1976 ab, als Charles Bluhdorn ihm diese Produktion antrug. Hierzu Schlöndorff:

„Ich hatte das Buch neu gelesen und fand es wunderschön und stark. Aber für mich war der Inzest ein solches Tabu, dass ich den Paramount-Leuten erklärt habe: Das ist unmöglich, das kann man auf der Leinwand auf gar keinen Fall darstellen. Außerdem war das 1976 oder 1977, ich hatte gerade „Katharina Blum” gemacht, ich hatte mich in den Kontroversen um Terroristen und Sympathisanten engagiert, ich war völlig aufs Gesellschaftliche eingeschworen.”[13]

Erst zwölf Jahre später nahm Schlöndorff das Projekt in Angriff. Er befand sich in einer persönlichen Krise und dachte darüber nach, „nach 30 Jahren beim Film (...) etwas Anständiges zu lernen” [14]. Zu diesem Zeitpunkt erschien ihm die Verwirklichung des Films Homo faber als „Ausweg aus der Krise” [15]. Schlöndorff setzte sich mit Frisch in Verbindung. Nach 30 Jahren waren die Verfilmungsrechte wieder dem Autor zugefallen, und dieser zeigte sich sehr interessiert:

„Es ist eigentlich gut, dass der Film erst jetzt gemacht wird, nachdem die Ideologien so gründlich erschüttert sind und man eigentlich wieder auf die existentialistische Haltung der fünfziger Jahre zurückgeworfen ist.”[16]

Es kommt zu einer regen Zusammenarbeit von Autor und Regisseur. Frisch beteiligt sich am Drehbuch, der Besetzung und schließlich sogar an der Montage. Frisch:

„Ich will nicht mehr wirklich schreiben, aber es interessiert mich. Schließlich bin ich Theatermann. Es interessiert mich mitzuarbeiten, am Aufbau dieser Sache und an den Dialogen.”[17]

Frisch plante auch seine Teilnahme an den Dreharbeiten. Leider erkrankte er aber bereits währenddessen. Er bekam noch den ersten Rohschnitt zu sehen und auch bei der ersten Vorführung des Films am 20.01.1991 war er zugegen. Zwei Tage nach dem Kinostart verstarb Frisch.

Gedreht wurde an Originalschauplätzen in Mexiko, Frankreich, Italien und den USA. Einen beträchtlichen finanziellen und organisatorischen Aufwand bedeutete auch die authentische Darstellung der Handlung in den fünfziger Jahren. Allein das Flugzeug, die „Super–Constellation” in flugtüchtigem Zustand zu requirieren und sie dann im Wüstensand zu vergraben, war eine logistische Großleistung.[18]

Trotz seiner Internationalität, was die Produktion[19] und die Besetzung[20] anbetrifft, war der Film für den deutschsprachigen Markt bestimmt. Schlöndorff: „Die metaphysischen Dimensionen des Films und die Verletzung des Inzest-Tabus schließen einen finanziellen Erfolg in den Staaten aus.” [21] In den USA lief HOMO FABER unter dem Titel VOYAGER. Zum einen, weil man davon ausging, dass dieser Titel besser zur amerikanischen Vermarktung des Films als „Roadmovie” passen würde, und zum anderen, da man annahm, dass der durchschnittliche Amerikaner möglicherweise vom Titel HOMO FABER auf einen homoerotischen Aspekt geschlossen hätte.[22]

In Deutschland lief der Film unter dem Titel HOMO FABER; wohl auch aufgrund des hohen Verbreitungsgrades des Romans war er 19 Wochen ganz oben auf der Kinohitliste.

Von Seiten der Kritik wurde fast ausnahmslos die Reduzierung der Handlung auf die inzestuöse Liebesgeschichte und das Fehlen der zeitkritischen, mythologischen und philosophischen Dimensionen der Vorlage bemängelt. Frisch zeigte sich hingegen mit der Schlöndorffschen Arbeit zufrieden.[23]

Schlöndorff war klar, dass das Buch aus zwei Teilen besteht: Die Liebesgeschichte und „die ausführliche Auseinandersetzung mit Mittelamerika, dem Dschungel, mit Venezuela, mit Havanna, mit Kuba (...)“ [24] stellen die zentralen Momente der Handlung dar.

Volker Schlöndorff gilt spätestens seit seiner Verfilmung von Die Blechtrommel (1979), die als erster deutscher Film seit 1929 einen Oscar erhielt, als „Literatur-Spezialist unter Deutschlands Regisseuren“ [25]. Schon zuvor drehte Schlöndorff eine Reihe von Literaturverfilmungen: Der junge Törleß (1966), Michael Kohlhaas (1969), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975).

Schlöndorffs Einstellung zur Literaturverfilmung zeigt sich ambivalent: Zum einen sieht er die Literatur als Materialquelle. Ein Buch sei einem Drehbuch vorzuziehen, da es durch seine längere Erarbeitungszeit ein viel dichteres Diskursgeflecht erschaffen kann als ein Drehbuch, das in relativ kurzer Zeit entsteht:

„Ein Autor arbeitet ja doch meist an einem Buch jahrelang... Beim Drehbuchschreiben nimmt man an, acht Wochen, gut, sagen wir drei Monate, dabei kann nicht dasselbe rauskommen. Ich will damit nicht das Drehbuch disqualifizieren, ich sage nur, dass ich deshalb eher Literatur verfilme, weil ich niemanden kenne, der sich mit vergleichbarem Ernst hier an ein Drehbuch setzen könnte, und ich schon gar nicht.“ [26]

Schlöndorffs zweiter Anspruch bei einer Literaturverfilmung ist das Anstreben einer analogen Adaption der literarischen Vorlage[27], wobei er versucht, die Intention des Autors in seinem Film zu vermitteln:

„Wichtig ist, die Geschichte des Autors so zu erzählen, wie er sie gemeint hat: Der Autor muss respektiert werden (...) Ich habe mich einmal von einem Autor entfernt – bei Kleists Michael Kohlhaas – und das ist mir nicht bekommen. Bei solchen Unternehmungen Originalität zu produzieren, finde ich, ist nicht legitim.“[28]

Schlöndorff scheint davon auszugehen, dass es eine allgemein gültige Verfahrensweise bei der Literaturverfilmung gibt. Stellt er doch in einem Interview während der Dreharbeiten zu HOMO FABER fest:

„Beim Drehen denke ich oft, wie idiotisch das ist, Literatur zu verfilmen, wo doch jeder Zuschauer nachprüfen kann, ob man`s geschafft hat oder nicht. Dass man da immer wieder zum Abitur antreten muss.“[29]

Ebenso zeigt sich aber auch sein Wille, die Substanz[30] der literarischen Vorlage in den Film zu transferieren:

„Immer frage ich mich: Bin ich auf der Höhe des Romans?“[31] Gleichzeitig ist ihm aber klar, dass eine Eins-zu-Eins-Übertragung nicht möglich ist: „Ein Buch ist eine Sache, ein Film eine andere. Mit der Übertragung ins andere Medium verändert sich der Stoff.“[32]

Schlöndorff versucht also dem Autor entsprechend zu übersetzen (dafür spricht auch seine enge Zusammenarbeit mit Frisch), ist sich jedoch bewusst, dass die Form des Mediums immer Auswirkungen auf den narrativen Diskurs, sowie die Struktur des Werkes hat.

Wie schon in der Einleitung erwähnt, kann ein Regisseur aus rein pragmatischen Gründen manchmal gezwungen sein, die Erzählhandlung zu reduzieren, und so entschied sich Schlöndorff, den Hauptakzent auf die Liebesgeschichte zu legen. Diese Reduzierung wird im Weiteren noch genauer analysiert werden.

3. Formale Aspekte

3.1 Erzählstruktur des Romans

Homo faber präsentiert sich als Bericht, der, stark verschachtelt, mehrere Zeitschichten behandelt. Petersen unterscheidet drei Handlungsphasen: Die erste ist Fabers Zeit als Assistent in Zürich (1933) bis zum 04.06.1957, dem Todestag Sabeths. Es folgt Fabers Reise von New York über Caracas, Kuba, Düsseldorf und Zürich, die in Athen endet. Der dritte Abschnitt umfasst seinen Aufenthalt im Krankenhaus von Athen (19.07.1957 – 25.07.1957)[33].

Bei näherem Hinsehen wird zudem klar, wann Faber wo die einzelnen Teile seines Berichts abfasst. So fällt die „Erste Station“ (21.06.1957 – 08.07.1957) in die Zeit, in der Faber in Caracas seine Erlebnisse bis zu Sabeths Tod fixiert. Der zweite Teil, graphisch durch den Schrifttyp „Antiqua“ markiert, entsteht während der Reise nach New York und zurück nach Athen. Der dritte Teil, die handschriftlichen Aufzeichnungen (kursiv), schreibt Faber im Krankenhaus in Athen, es besteht also Deckung mit der dritten Handlungsphase.

Die verschiedenen Zeitebenen gibt Faber aber nicht in chronologischer Reihenfolge wieder. Die „Erste Station“ schreibt er erst in der zweiten Phase. Die Aufzeichnungen im Krankenhaus (dritte Phase) verbindet er mit der zweiten. Hinzu kommen Vorausdeutungen, Rückblenden und Nachträge, welche die Retrospektive unterschneiden. Wie schon erwähnt, bereitete diese komplexe Struktur nicht nur den Lesern Schwierigkeiten, Frisch selbst musste einige Daten korrigieren.[34]

3.1.1 Rückblenden, Vorausdeutungen

Die Rückblenden, Vorwegnahmen und Vorausdeutungen zeigen sich nicht nach der Chronologie der Handlung geordnet, sondern folgen eher dem psychischen Prozess Fabers. Die Mitteilungen Herberts etwa lassen Faber sich an Hanna erinnern. Als er auf dem Schiff Sabeth kennen lernt, muss er über Hanna nachdenken. Auffällig ist auch, dass „die Erinnerung immer wieder die schlimmsten Ereignisse überspringen will, um dann doch zwanghaft zu ihnen zurückzukehren.“[35]

Als aufschlussreiche Episode ist hier der Unfall Sabeths zu nennen: Drei Rückblenden umschreiben den Hergang des Unfalls; das zentrale Ereignis, Sabeths Tod, kommt erst ganz zum Schluss zum Vorschein.

Diese psychologisch motivierte Erzählfolge präsentiert sich zudem als Klimax.

Wenn wir uns die zeitlichen Abstände der Aufzeichnungen ansehen, zeigt sich wiederum ein Verweis der äußeren Struktur auf das Innenleben Fabers: Je näher Fabers Tod rückt, desto kürzer werden die Abstände der Eintragungen. Das Erlebte rückt zusehends an das Berichtete. Stunden und Minuten werden nun wichtig. Faber: „Ich hänge an diesem Leben wie noch nie, und wenn es nur noch ein Jahr ist, ein elendes, ein Vierteljahr, zwei Monate (...)“[36]. Auch die Zeitstruktur bietet hier einen Klimax.

Die verschachtelte Erzählstruktur verhält sich komplementär zum Protagonisten. Faber ist keine Erzählerfigur, die dem Leser aufgrund ihrer Überlegenheit und Konsequenz einen sicheren Rückhalt bietet. Die Erzählstruktur spiegelt Fabers Wesen wider; einen Charakter, der sich in stetigem Wandel befindet, der erst kurz vor seinem Tod seine technokratische Lebensauffassung überwindet: „Auf der Welt sein: im Licht sein.[37]

Dass der Leser keine eindeutige Perspektive erhält, an der er sich orientieren könnte, zeigt auch, dass der Bericht, der zunächst als Rechenschaft angelegt wird, in der „Verfügung für den Todesfall“ komplett aufgehoben wird: „(...) alle Zeugnisse von mir wie Berichte (...) sollen vernichtet werden, es stimmt nichts.“[38]

3.1.2 Tagebuchform des Romans

Frisch (1961):

„(...) schließlich der Roman „Stiller“, vorgelegt als Tagebuch eines Gefangenen, der sich selbst entfliehen will, auch der Roman „Homo faber“, vorgelegt als Tagebuch eines Moribunden: Man kann wohl sagen, die Tagebuchform ist eigentümlich für den Verfasser meines Namens (...)“[39]

Die Tagebuchform des Homo faber untermauert Fabers positivistische Auffassung eines dokumentierbaren Ablaufs des Lebens. Für den Techniker Faber besteht die Welt nur aus der de facto-Wirklichkeit. Faber ist zunächst ein Mann ohne Vergangenheit, denn diese hat er nicht durch technische Mittel aufarbeiten können. So zeigt sich stringent, dass ihn die „Wirklichkeit als Ahnung von Zusammenhängen“[40] in Gestalt seiner Tochter, sozusagen von hinten, als die Zukunft seiner Vergangenheit überrascht.

[...]


[1] Vgl. Das Oberhausener Manifest. In: Gast 1993, S. 46.

[2] Vgl. Schmitz 1983, S. 63.

[3] 1978 wurden die Datumsangaben aufgrund ihrer Inkonsistenz revidiert. In der Werksausgabe finden sich jedoch auf Wunsch Frischs die von 1957.

[4] Petersen 1989, S. 119

[5] Vgl. Schmitz 1983, S. 68: „Von Aspen aus besuchte er abermals San Francisco, Los Angeles und Mexico City (...) – darüber hinaus noch die Halbinsel Yucatan und Habana.”

[6] Arnold 1973, S. 89.

[7] Frisch, Montauk, S. 640.

[8] Vgl. Frisch, Tagebuch 1946 – 1949. S. 163.

[9] Vgl. Homo faber, S. 22.

[10] Vgl. hierzu: Schmitz 1983, S. 69.

[11] Frisch, Tagebuch 1946 – 1949, vgl. auch: Heidenreich 1994, S. 103.

[12] Frisch, Tagebuch 1946 – 1949, S. 463f.

[13] „Wem wird man schon fehlen?“ Homo Faber-Regisseur Volker Schlöndorff über seinen Film und seine Begegnungen mit Max Frisch. In: Der Spiegel 12/1991.

[14] ebenda.

[15] ebenda.

[16] ebenda.

[17] ebenda.

[18] Vgl. „Bauchlandung eines Machers“ in: Der Spiegel, 24 / 1990.

[19] Deutsch-französiche Co-Produktion mit griechischer Beteiligung.

[20] USA, Deutschland, Tschechische Republik.

[21] Der Spiegel, 11.06.1991. Titel unbekannt.

[22] „Unter „Homo faber“ kann sich der durchschnittliche amerikanische Kinobesucher allenfalls einen kuriosen Schwulenfilm vorstellen.“ In: „Bauchlandung eines Machers“. In: Der Spiegel: 24 /1990.

[23] Vgl.: „Homo factus. >Homo faber< – Volker Schlöndorffs Bild von Max Frischs Text“. In: Neue Züricher Zeitung. 11.04.1991.

[24] „Wem wird man schon fehlen?“ Homo Faber-Regisseur Volker Schlöndorff über seinen Film und seine Begegnungen mit Max Frisch. In: Der Spiegel 12/1991.

[25] Vgl.: „Wir scheitern alle am Ausleben unserer Liebe“. Regisseur Volker Schlöndorff über seine Frisch- Adaption Homo Faber (sic!). AZ München, 21.03.1991.

[26] Schlöndorff, in: Pflaum 1978, S. 115.

[27] Vgl. II.2.

[28] Schlöndorff in: Head, David: „Der Autor muss respektiert werden – Schlöndorff / Trotta`s Die verlorene Ehre der Katharina Blum and Brecht`s critique of film adaptation“. GLL, 32, (1978/9), 254.

[29] „Mich ärgern bedeutungsschwangere Künstler.“ In: Der Stern, 9 (1991), 144.

[30] Vgl. II.2.2.

[31] Schlöndorff in: Schelbert, Corinne: „Der Filmemacher als ewiger Abiturient.“, Wochenzeitung, 19.04.1991.

[32] Head 1978/9.

[33] Vgl. Petersen, S. 121.

[34] Vgl. FN Nr. 18.

[35] Meurer 1988, S. 72.

[36] Homo faber, S. 198.

[37] ebenda, S. 199.

[38] ebenda.

[39] Bienek 1962, S. 24.

[40] Steinbach 2002, S. 22.

Fin de l'extrait de 55 pages

Résumé des informations

Titre
Literaturverfilmung im neuen deutschen Film. Schlöndorffs „HOMO FABER“
Note
1,7
Auteur
Année
2003
Pages
55
N° de catalogue
V275385
ISBN (ebook)
9783656676379
ISBN (Livre)
9783656676386
Taille d'un fichier
803 KB
Langue
allemand
Mots clés
literaturverfilmung, film, schlöndorffs, homo, faber
Citation du texte
M.A. Helmut Wagenpfeil (Auteur), 2003, Literaturverfilmung im neuen deutschen Film. Schlöndorffs „HOMO FABER“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275385

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