Leseprobe
Adalbert Stifter wird gerne auch als „der Walddichter“ beschrieben. In seinen Texten suggeriert er gewollt Kleinigkeit und Oberflächlichkeit. Die Abgründe allerdings lauern im Detail.
„Granit“ erschien erstmals im Jahr 1853 im Rahmen des Erzählbandes „Bunte Steine“. Als konventionell aufgebaute Novelle verfügt die Erzählung über eine äußere Rahmenhandlung, in der ein erwachsener Mann sich an ein Erlebnis in seiner Knabenzeit erinnert (innere Rahmenhandlung). Er wird als Kind von seiner Mutter dafür bestraft, mit Füßen voller Wagenschmiere in die saubere Wohnung getreten zu sein. Die Tatsache, mit seiner „teuersten Verwandten dieser Erde in dieses Zerwürfnis geraten“[1] zu sein, zerbricht dem Jungen beinahe das Herz. Der Großvater nimmt sich daraufhin seiner an und zusammen gehen sie auf eine Wanderung, auf der er dem Jungen die Natur um sie herum erklärt und auch die Geschichte (hier: die Binnengeschichte) einer Pechbrenner-Familie während der Zeit der Pest erzählt.
Im Folgenden soll genauer auf die erwähnte Wanderung des Großvaters und des Jungen eingegangen, und insbesondere Stifters Verhältnis zu Kultur und Natur untersucht werden.
Stifter beschreibt in seinen Landschaftsdarstellungen die Heimat seiner Kindheit, die Gegend des Böhmerwaldes. Der Großvater lässt seinen Enkel die Natur um ihn herum benennen, von Ortsbezeichnungen bis hin zu Pflanzen. Doch er betreibt mit seinen Worten weitaus mehr als Naturkunde. So erklärt er unter anderem die Etymologie des Wortes „Dürrschnäbel“:
Das, worauf wir jetzt gehen«, sagte der Großvater, »sind die Dürrschnäbel, es ist ein seltsamer Name, entweder kömmt er von dem trockenen dürren Boden, oder von dem mageren Kräutlein, das tausendfältig auf dem Boden sitzt, und dessen Blüte ein weißes Schnäblein hat mit einem gelben Zünglein darin.[2]
Seine Worte zeigen auf, dass die Sprache in der Natur begründet ist. Die Benennung jedes Gegenstandes ist kulturell geprägt. Dem Wort liegt aber eine einfache, natürliche Erklärung zugrunde, die sich bereits an der Oberfläche sehen lässt. Damit erklärt er eigentlich nicht nur ein bloßes Wort, sondern die Sprache selbst. Auf diese Weise stellt der Großvater die Ordnung wieder her. Das ist typisch für Stifter. Seine Texte zielen immer darauf, die Kultur in der Natur zu verankern und die moderne, entfremdete Welt somit zu renaturalisieren.
Dies lässt sich auch in der vom Großvater erzählten Binnengeschichte ablesen. Hierin geht es um eine Pechbrenner-Familie, die sich durch Flucht aus dem Dorf auf einen Berg in Sicherheit vor der Pest bringen möchte. Sie machen mit den Menschen in der Stadt ein Zeichen aus, das ihnen Bescheid geben soll, wenn die Gefahr vorüber ist. Doch nach vielen Jahren der Pest ist das Zeichen vergessen, niemand kann es mehr deuten. Der Großvater möchte dem entgegenwirken, indem er den Enkel den Ursprung der Worte nicht vergessen lässt. Er bringt dem Jungen bei, die Kultur nicht als etwas Gegebenes zu sehen, sondern die Natur in der Kultur zu verstehen. Es ist das „kulturelle Gedächtnis“ das erhalten bleiben muss und welches sich daran erinnern muss, dass ohne Natur keine Kultur möglich ist.
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[1] Stifter, Adalbert, Granit, S.21
[2] ebd., S. 28