Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Begriff wunderbar nach Sulzer
3. Gottsched - Bodmer - Breitinger
3.1 Gottscheds Verhältnis zum Wunderbaren in der Literatur
3.2 Die Poetologie Bodmer und Breitingers
4. Textanalyse
4.1 Wielands Position im poetologischen Diskurs
4.2 Zusammenfassung des Romans
4.3 Die Integration des Wunderbaren in „Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“
4.3.1 Wirklichkeitsebenen
4.3.1.1 Physisch-Physikalische Ebene
4.3.1.2 Physisch-Psychische Ebene
4.3.1.3 Ebene der Fiktion
4.3.1.4 Ebene des Wahns
4.3.2 Stoffliche Ebene
4.3.3 Poetologische Ebene
4.3.3.1 Diskrepanzen zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit
4.3.3.2 Unzuverlässigkeit des Erzählers
4.3.3.3 Metafiktionale Erzählerkommentare
4.3.3.4 Relativität des Wirklichkeitsbezugs
4.3.4 Das Wunderbare in der Liebe
5. Fazit: Wielands Poetik des Wunderbaren
1. Einleitung
Eine schönere und wundervollere Natur, als die er bisher gekannt hatte, schien sich vor ihm aufzuthun, und die Vermischung des Wunderbaren mit der Einfalt der Natur, welche der Charakter der meisten Spielwerke von dieser Gattung ist, wurde für ihn ein untrügliches Kennzeichen ihrer Wahrheit.1
Christoph Martin Wieland veranschaulicht in seinem 1764 erschienenen Roman „Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“, welche Wirkung das Wunderbare auf die menschliche Empfindung hat. Der Protagonist Don Sylvio findet eine Sammlung FeenMärchen, die er in schneller Geschwindigkeit liest und somit den Eindruck einer Kohärenz zwischen realer Welt und Fiktion gewinnt. Don Sylvio liest diese Märchen am liebsten im Garten oder im Wald und bezieht bald alles Gelesene auf seine Umgebung, sodass er sich einbildet, er befände sich in einer Feen-Welt. Besonders durch die Betrachtung der Natur verstärkt sich sein Eindruck, da diese nicht nur essentieller inhaltlicher Bestandteil dieses Literatur-Genres ist, sondern durch ihre beeindruckende Vielfalt und Schönheit auch selbst Wunderbares darstellt.
Doch was bedeutet eigentlich Realität und wer legt fest, was wahr und wirklich ist? Die vorliegende Ausarbeitung wird in Bezugnahme auf das Modell der möglichen Welten zeigen, dass Wirklichkeit kein feststehender, allgemeingültiger Begriff ist, sondern sich auf verschiedenen Ebenen äußern kann.
Das Modell der möglichen Welten greift zurück auf Aristoteles' Erkenntnis-Theorie und wurde zunächst durch Leibniz und Wolff wiederaufgenommen. Wolffs Theorie geht davon aus, dass die Natur „keine vorliegende, gegenständliche Wirklichkeit, sondern als ,würkende Kraft eine in den ,Dingen immanente, abstrakte Größe“2 ist. Er führt aus, dass diese Kraft schon vor Entstehung der Welt existent gewesen sei und den Raum der Welt auch anders hätte ausfüllen können, als „wir ihn erfüllet finden“ 3, wenn sie die Dinge anders verknüpft hätte. Die gegenwärtige Welt sei also in ihrer Verknüpfung „nicht nothwendig“4, sondern „zufällig in ihrem Wesen, weil noch andere Welten seyn können“5.
In Anbetracht dieser Theorie unterscheidet Wolff zwischen zwei Arten der Vorstellungskraft, die solche Welten konstruieren können:
Die erste Manier bestehet darinnen, daß wir diejenigen Dinge, welche wir entweder würcklich gesehen, oder nur im Bilde vor uns gehabt, nach Gefallen zertheilen, und die Theile von verschiedenen Dingen nach unserem Gefallen zusammensetzen: wodurch etwas herauskommet, dergleichen wir noch nicht gesehen. Auf solche Weise hat man die Gestalt der Melusine, so halb Mensch und Fisch ist; die Gestalt der Engel, wenn sie als geflügelte Menschen gemahlet werden [...] und dergleichen herausgebracht. Und hierinnen bestehet die Krafft zu erdichten, wodurch wir öffters etwas herausbringen, so nicht möglich ist, und daher eine leere Einbildung genennet wird.6
Die zweite Art
bedienet sich des Satzes des zureichendes Grundes, und bringet Bilder hervor, darinnen Wahrheit ist. Hieher gehöret das Bild, darunter sich ein Bildhauer eine Statue vorstellet, und darein er alles gebracht, was er schönes an der Art Menschen, davon sie eine vorstellet, gesehen und nach untersuchtem Fleiße angemercket.7
Der Begriff der möglichen Welten wurde im poetologischen Diskurs Mitte des 18. Jahrhunderts wieder aufgegriffen. Er findet Verwendung in der Poetik der Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, aber auch in der Theorie von deren Kontrahenten Johann Christoph Gottsched. Während Gottsched sich allerdings in Anlehnung an die Wölfische Theorie auf die Nachahmung der wirklichen Welt be- schränkt,8 behaupten die Schweizer, dass auch solche Welten möglich seien, die „nach gantz anderen Absichten und Grund-Gesetzen, als der gegenwärtigen Welt ihre sind, eingerichtet“9 sind.
Einen zentralen Aspekt des poetologischen Diskurses bildet die Integration des Wunderbaren in die Literatur. In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, in welchen Formen das Wunderbare in Erscheinung treten kann und auf welchen Wirklichkeitsebenen es sich in Wielands Roman „Don Sylvio von Rosalva“ darstellt.
Wieland bezieht mit seinem Roman deutlich Stellung zum derzeitigen poetologischen Disput. Eine eingehende Analyse des Romans wird darlegen, dass Wieland die Schwachstellen des Disputs erkennt und sie anhand seines Romans öffentlich macht. Es wird sich zeigen, dass das Gerüst des Romans auf der schweizerischen Poetik beruht und sie auf den ersten Blick ad absurdum fuhrt, was jedoch nicht als negative Wertung verstanden werden kann. Der Roman demonstriert, auf welche Hindernisse die imdifferenzierte Auffassung der beiden Kontrahenten in der Praxis trifft. Don Sylvio, der alles Unwahrscheinliche, was er sich einbildet, auf die Wirklichkeit bezieht, ohne den Referenzrahmen fiktionaler Literatur zu berücksichtigen, trifft auf Inakzeptanz in der Gesellschaft und verliert den Anschluss zu dieser.
Andererseits zeigt das Beispiel des Don Sylvio, welches Vergnügen fiktionale Literatur hervorrufen kann. Gerade seine schwärmerische Grundhaltung wird als entscheidendes qualitatives Merkmal des Romans verstanden, da diese Haltung durchaus systematischen Regeln folgt, die Don Sylvio streng an der fiktionalen Literatur orientiert. Don Sylvios einziger Fehler ist die Unfähigkeit zur Differenzierung der Referenzrahmen, wodurch er die Regeln der fiktionalen Literatur auf die Wirklichkeit bezieht. Diese undifferenzierte Haltung findet sich auch bei Gottsched und den Schweizern wieder.
2. Der Begriff wunderbar nach Sulzer
Johann Georg Sulzer, Schweizer Philosoph der Aufklärung, berichtet in seiner „Allgemeinen Theorie der schönen Künste“ im Jahr 1794, dass unter dem Begriff wunderbar „nach dem allgemeinen Sprachgebrauch alles, was Bewunderung erwekt, oder verdienet“10 verstanden wird. Laut Sulzer wird das Wunderbare insgeheim „für den höchsten poetischen Stoff gehalten“11 und äußert sich in allem, was „unsere Erwartung und unsere Begriffe, oder das gemeine Maaß, nach welchem wir die Dinge schätzen, oder für die Aufmerksamkeit abwägen, merklich übertrifft“12. Er setzt sich von der Meinung der Kunstrichter ab, die nur das Übernatürliche zu dem Wunderbaren zählen und führt aus, dass neben diesem auch natürliche Dinge „so außerordentlich und so sehr über unsere Erwartungen seyn [können], daß man sie zum Wunderbaren rechne[n könne]“13. Selbst alltägliche Dinge könnten Bewunderung erzeugen, sofern sie als Hilfsmittel dazu dienen, die Natur in einer neuen höheren Gestalt zu zeigen.14
Sulzer betont, dass eine wunderbare Darstellung in jedem Fall eine Anbindung zur Natur und zur Wahrscheinlichkeit aufweisen muss, um den Rezipienten in Erstaunen zu versetzen.15 Es kommt dabei nicht darauf an, ob das Dargestellte wirklich wahr ist, sondern ob der Rezipient das Erzählte für wahr halten kann, da sich dieser sonst aufgrund seines Zweifels nicht davon überzeugen ließe. Aus diesem Grund sei das Wunderbare nur schwer glaubwürdig zu erzeugen. Wenn der Poet die Bedingung jedoch berücksichtige, hielte er laut Sulzer ein sehr kräftiges Mittel16 zur Lenkung des Rezipienten in den Händen. Denn mit dem Wunderbaren könne er sowohl auf die Einbildungskraft als auch auf die Empfindung des Rezipienten wirken, da „der Hang zum Außerordentlichen [...] so stark bey dem Menschen [ist], daß er es nicht nur mit dem größten Wohlgefallen anhöret, sondern in der Trunkenheit der Bewunderung sich auch willig dahin leiten läßt, wohin man ihn fuhren will“ 17. Die Aufgabe des Künstlers sei also weniger zu berichten „was vorhanden oder geschehen ist“18, sondern „die Vorstellungskraft, oder die Empfindung [des Rezipienten] lebhaft zu rühren“19.
3. Gottsched - Bodmer - Breitinger
3.1 Gottscheds Verhältnis zum Wunderbaren in der Literatur
Eine für die Literaturgeschichte wesentliche und folgenreiche Bedeutung stellt der poe- tologische Disput zwischen dem Leipziger Johann Christoph Gottsched und seinen Züricher Konkurrenten Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger in der Mitte des 18. Jahrhunderts dar. Den wesentlichen Bestandteil dieser Kontroverse bilden die unterschiedlichen Auffassungen von der korrekten Art literarischen Schreibens, vor allem in Hinblick auf die Integration des Wunderbaren nach Sulzer’schem Verständnis.
Anlass zum Streit gibt Bodmers Übersetzung von John Miltons Epos „Paradise Lost“ im Jahre 1732, welches den Sündenfall Adam und Evas thematisiert. Gottsched nimmt Anstoß an diesem Werk, da sich dort keine denkbare Anbindung zur Natürlichkeit finden ließe.20 Einerseits sind es die unwirklichen Figuren wie Erzengel Michael und seine himmlischen Heerschaaren sowie Satan und sein Gefolge, über die sich Gottsched brüskiert, andererseits sind es die gewaltigen Ausmaße des geschilderten Kampfes beider Parteien. Konkret stört er sich daran, dass Michaels Engel ganze Gebirge herausreißen, um damit den übergroß dargestellten Satan zu bewerfen.21
Gottsched vertritt eine poetologisch-rationalistische Position, nach der sich die Literatur einer vemunftorientierten Regelpoetik zu unterwerfen habe, was in diesem Werk nicht der Fall sei. Dass sich nun ausgerechnet sein bislang hochgeschätzter Kollege dazu be reit erklärt, dieses Werk sogar ins Deutsche zu übersetzen, ist für ihn unfassbar. Am 17.
Oktober 1732 schreibt Gottsched in einem Brief an Bodmer:
Übrigens wünsche ich ehestens das versprochene Werk zur Vertheidigung des Miltons zu sehen. Ich gestehe, daß ich begierig bin die Regeln zu wissen, nach welchen eine so regellose Einbildungskraft, als des Miltons seine war, entschuldiget werden kann.22
Erst knapp zehn Jahre darauf, im Jahre 1740, erfolgt als ausführliche Reaktion auf Gottscheds spöttische Äußerung Bodmers „Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen in einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohmen Paradiese“.
In diesem Pamphlet bezieht Bodmer eine deutliche poetologische Position und legitimiert das Vorkommen wunderbarer Begebenheiten innerhalb der Literatur unter gewissen Voraussetzungen. Ein Jahr darauf veröffentlicht auch dessen Kollege Johann Jakob Breitinger eine Abhandlung über die „Critische Dichtkunst“ und führt Bodmers Arbeit im gleichen Sinne fort. Eine detaillierte Beschreibung der Schweizer Poetik folgt im nächsten Kapitel.
Gottsched hingegen hält fest an der aufklärerischen Ideologie der uneingeschränkten Erziehbarkeit des Menschen und scheint es als Aufgabe der Literatur zu sehen, diesen zu belehren und moralisch zu bessern. Vor allem in Hinblick auf den derzeit weitverbreiteten Analphabetismus23 macht es sich Gottsched zum Ziel, die poetische Dichtung auch dem Bürgertum und dem Proletariat zugänglich zu machen.
Vietta führt aus, dass Gottsched der Auffassung sei, dass das gebildete Bürgertum nur solche Literatur akzeptiere, die sich dessen vemunftorientierten Regeln unterwerfe und einen ständigen Bezug auf die physikalische Welt habe. Daher schwöre er „die Poetik auf die als ewig, vernünftig, natürlich vorgestellte, in Wahrheit historischen utilaris- tisch-moralistischen Normen des Bürgertums im frühen 18. Jahrhundert ein“24. Da sich gerade das Wunderbare an eben diese Regeln nicht halte, lehne er Beschreibungen solcherart in erster Linie ab.
Wie Gottsched in seinem „Versuch einer critischen Dichtkunst“ im Jahre 1751 festhält, müsse ein Poet bei seiner Arbeit stets darauf bedacht sein, dass dessen Schriftstück eine Nachahmung der Natur darstellt, damit es nachvollziehbar und somit akzeptabel wird.25 Diese Nachahmung könne auf drei Arten geschehen. Zunächst könne die Natur nachgeahmt werden, indem der Poet eine „bloße Beschreibung [...] einer natürlichen Sache [gibt], die man nach allen ihren Eigenschaften, Schönheiten oder Fehlem, Vollkommenheiten oder Unvollkommenheiten seinen Lesern klar und deutlich vor die Augen malet und gleichsam mit lebendigen Farben entwirft: so daß es fast ebensoviel ist, als ob sie wirklich zugegen wäre.“26
Eine zweite Art der Nachahmung bestünde darin, dass „der Poet selbst die Person eines anderen spielet oder einem, der sie spielen soll, solche Worte, Gebärden und Handlun- gen vorschreibt [...], die sich in solchen und solchen Umständen für ihn schicken.“27
Die dritte Art der Nachahmung findet sich in der Verfassung einer Fabel. Diese Gattung sei vor allem wirkungsvoll auf das einfache Volk, wo Gottsched dringenden Handlungsbedarf sieht, da der „einfältige Haufen“28 dringend moralische Erziehung nötig habe. Das Proletariat habe seiner Meinung nach kein Interesse an rein vemunftorientier- ten Stoffen ohne jegliches schmückendes Beiwerk, daher müsse es ihm schmackhaft gemacht werde. Einzig zu diesem Zweck legitimiert Gottsched das Wunderbare in der Literatur unter folgenden Bedingungen. Das Wunderbare dürfe nur als attraktive Hülle um den moralischen Stoff dienen und keinesfalls selbst zum literarischen Stoff werden, wie es bei „Paradise Lost“ der Fall ist: „Das Wunderbare muß noch allezeit in den Schranken der Natur bleiben und nicht zu hoch steigen.“29 Ausschließlich „an sich selbst aber ist dergleichen Mittel, die Leute aufmerksam zu machen, ganz erlaubt: wenn man nur den guten Endzweck hat, sie bei der Belustigung zu bessern und zu lehren.“30 Hier zeigt sich auch der Bezug zum aufklärerischen Wahlspruch prodesse et delectare (lat. „nützen“ und „erfreuen“), welcher sich aus der „Ars Poetica“ des Horaz ableitet und empfiehlt, dass ein literarisches Werk entweder nützen oder erfreuen sollte. Darüber hinaus führt Gottsched aus, dass der Bezug zur Wahrscheinlichkeit in keinem Fall außer Acht gelassen werden darf, „ohne welche[n] eine Fabel, Beschreibung oder was es sonst ist, nur ungereimt und lächerlich seyn würde“.31
Ich glaube derowegen, eine Fabel am besten zu beschreiben, wenn ich sage: sie sey die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt. Philosophisch könnte man sagen, sie sei eine Geschichte aus einer andern Welt.32
Wie es bereits Seidler thematisiert, akzeptiert Gottsched aus dem Grund der Attraktivitätssteigerung, dass innerhalb der äsopischen Fabel sprechende Tiere und leblose Dinge, die zur Reflexion fähig sind, als Darsteller dienen.33 Wenn auch eine solche Fabel keinen Bezug zur Wahrscheinlichkeit in der physikalischen Realität des Lesers habe, so sei doch wenigstens eine hypothetische Wahrscheinlichkeit gegeben, wenn die Voraussetzungen, wie zum Beispiel die analytische Denkfähigkeit der Tiere, entsprechend im Voraus geklärt werden.
Gottsched gibt das Beispiel einer Fliege, die auf dem Wagenrad einer Kutsche sitzt, welche während der Fahrt eine Menge Staub aufwirbelt. Nach reiflicher Überlegung gelangt die Fliege zu dem überheblichen Schluss, sie habe die Staubverwirbelung verursacht. Gottscheds Interpretation nach liegt hier die moralische Lehre verborgen, dass „ein Stolzer [...] thöricht [ist], [wenn] er sich selbst und seinen Verdiensten, Dinge zuschreibt, die von ganz andern Ursachen herrühren und seine Kraft unzähliche Mal übersteigen.“34
Es sei hier noch einmal betont, dass Gottsched sich bezüglich der Legitimation des Wunderbaren allein auf die Fabel beschränkt, da diese den Leser zur moralischen Selbstreflexion drängt. Generell sollte Literatur für Gottsched einen Teil der Wirklichkeit abbilden aber keine neue schaffen.
3.2 Die Poetologie Bodmer und Breitingers
Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass Personen, deren Auffassungen so nah beieinander liegen, miteinander in Streit geraten. Auch Bodmer und Breitinger vertreten die poetologische Position, dass es die Hauptaufgabe des Poeten sei, die Natur nachzuahmen, um dadurch stets eine Anbindung zur Wahrscheinlichkeit sicherzustellen.
Im Gegensatz zu Gottsched haben Bodmer und Breitinger kein Interesse an der rationalen Wahrheit des Verstandes, welche die gegenwärtige Welt im Wölfischen Sinne nachahmt, sondern an der Wahrheit der Einbildung, welche auch solche Welten erschaffen kann, die nicht irdischen Gesetzmäßigkeiten folgt.
Hierzu trennen sie zwei Wirklichkeitsebenen voneinander: Die sichtbare, materialistische Welt und die unsichtbare Welt.
Jene, die sichtbare und materialistische Welt, begreiffet in sich alle Cörper, die Elemente, die Sternen, den Menschen in Ansehung seiner äusserlichen Würckungen, die Thiere, die Pflanzen, die Edelsteine, und so fort, ferner alles, was die Kunst auf so verschiedene Weise nachahmet, und zum Schutz, zur Zierde und Bequemlichkeit des menschlichen Lebens erfindet; mit einem Worte alles, was der Prüffimg der Sinnen unterworffen ist. [...] Die unsichtbare Welt, fasset in ihrem Inbegriffe Gott, die Engel, die Seelen der Menschen; ihre Gedancken, Meinungen, Zuneigungen, Handlungen, Tugenden, Kräfte.35
Der Hauptunterschied der Poetiken besteht in der Umstellung von einer Regelpoetik (Gottsched) auf eine Wirkungsästhetik (Bodmer und Breitinger). Die Schweizer vertreten die Meinung, dass es nicht allein die Aufgabe des Poeten sei, die Dinge in der Welt zu beschreiben und nachzuahmen, wie sie durch den Verstand zu erfassen sind, sondern vielmehr sei es dessen Aufgabe, durch seine Dichtung die Dinge so darzustellen, wie sie auf seine Seele wirken. Er solle durch seine Phantasie und sein Einfühlungsvermögen seine Schilderungen so gestalten, dass eine Vorstellung im Rezipienten hervorgerufen wird, die dieser zwar nicht tatsächlich sinnlich wahmehmen kann, aber dennoch eine Illusion der sinnlichen Wahrnehmung weckt.
Der Poet bekümmert sich nicht um das Wahre des Verstandes; da es ihm nur um die Besiegung der Phantasie zu thun ist, hat er genug an dem Wahrscheinlichen, dieses ist Wahrheit unter vorausgesetzten Bedingungen, es ist wahres, so fern als die Sinnen und die Phantasie wahrhaft sind, es ist auf das Zeugniß derselben gebauet.36
Hieran zeigt sich laut Breitinger die wahre Qualität eines Poeten, da sich seine Kunst in einer solchen Darstellung „ungemein geschickter und verwundersamer erweiset, als in der Nachahmung der sichtbaren Wercke.“37
Der Unterschied dieser Poetik zu der Gottscheds besteht also darin, dass die Schweizer es nicht nur als Aufgabe der Literatur verstehen, die materialistische Wirklichkeit literarisch abzubilden, also deren ,,bestehende[] oder zumindest mögliche Formen“38 zu imitieren, sondern auch die wirklichen Eindrücke, die durch diese Formen auf den Men- -IQ sehen entstehen, literarisch darzustellen.39 Diese wirklichen Eindrücke sind es, die Bodmer und Breitinger als das poetisch Wahre bezeichnen, das den „Grundstein des Ergetzens“ 40 darstellt.
Ein weiterer für die Schweizer Poetik essentieller Aspekt, ist der Aspekt der Neuheit, da „uns weder das Schöne noch das Grosse, weder das Lehrreiche, noch das Bewegende im geringsten rühren kan, wenn es uns täglich vor Augen schwebet, und wir mit ihm allzu sehr bekannt werden.“41 Was den Unterschied zu Gottscheds Poetik ausmacht, ist auch hier der Bezug zum Wunderbaren. Breitinger nennt die Neuheit „die Mutter des Wunderbaren“42, da nur das ,,Neue[], Ungewohnte[], Seltzame[] und Ausserordentlichen“43 die Kraft habe, „die Sinnen und das Gemüthe auf eine angenehm-ergetzende Weise zu rühren und einzunehmen“.44 Allein durch Wahrheit und Natürlichkeit würde dies nicht erreicht.
Je neuer demnach, je unbekannter, je unerwarteter eine Vorstellung ist, desto grösser muß auch das Ergetzen seyn. Nun aber kan nichts neueres seyn, als das Wunderbare, das uns durch das blosse Ansehen entzüket und mit Verwunderung anfüllet, und folglich ist auch nichts angenehmer.45
Aus den wirkungsästhetischen Ansätzen Bodmers und Breitingers kristallisiert sich auch eine eigene Theorie des Schönen heraus, da die poetischen Schilderungen nach eigener Aussage „dem Verstände auch in sichtbaren Dingen solche verwundersame Schönheiten vor Augen legen können, die dem sinnlichen Auge gantz verschlossen sind.“46 Sie begreifen unter dem poetisch Schönen all das, „was das Gemüthe des Lesers durch die poetische Vorstellung entzüket, und mit einem süssen Ergetzen erfüllet“.47
4. Textanalyse
In der folgenden Analyse werden einige Begriffe bezüglich der Wahrnehmung verwendet, die zuvor erläutert werden müssen.
Die Begriffe Wirklichkeit und Realität werden synonym verwendet. Wirklichkeit ist abhängig von der Wahrnehmung des Subjekts, da in dieser Arbeit nicht von einer einzigen Wirklichkeit und somit Wahrheit ausgegangen wird. Vielmehr soll herausgestellt werden, dass sich Wirklichkeit auf verschiedenen Ebenen entfalten kann, die abhängig vom jeweiligen Referenzrahmen sind. Die unterschiedlichen, im Roman thematisierten Wirklichkeitsebenen werden in Kapitel 4.3.1 eingehend differenziert.
Der Begriff Wirklichkeitsebene wird teilweise ersetzt durch den Begriff der „Welt“, da dieser im Roman selbst verwendet wird. Im Unterschied zum ersten Begriff wird dieser lediglich nach sichtbar und unsichtbar unterteilt. Es gilt zu berücksichtigen, dass sich diese Unterteilungen nicht alleine darauf beziehen, ob ein Objekt mit der Sehkraft wahrnehmbar ist, sondern darauf, ob ein Objekt generell physisch wahrnehmbar ist und somit einen stofflichen bzw. materiellen Körper hat, sowie den heute bekannten physikalischen Regeln folgt oder nicht. Sollte das Objekt nicht physisch wahrnehmbar sein wird es als geistig wahrnehmbar bezeichnet.
Ein weiterer zentraler Begriff ist die Einbildung. Hiermit wird etwas bezeichnet, das keinen stofflichen Körper hat und somit der unsichtbaren Welt zuzuordnen ist. Wie sich allerdings heraussteilen wird, ist auch dieser Begriff ambivalent, was sich im weiteren Verlauf besonders deutlich am Beispiel der schwärmerischen Figur Don Sylvio veranschaulichen lässt.
Eng damit verknüpft ist der Begriff der Wahrscheinlichkeit, da dieser sich auf durch die potentielle Durchsetzbarkeit einer Einbildung bezieht - wie sich zeigen wird, ist auch diese abhängig vom Referenzrahmen.
Schwärmerei bezeichnet in dieser Ausarbeitung eine ekstatische Begeisterung für ein materielles oder immaterielles Objekt. Die Gedanken des Schwärmers sind ausschließlich mit Empfindungen gefüllt, die das umschwärmte Objekt umso begehrenswerter wirken lassen, sodass kaum Raum für andere Empfindungen vorhanden ist.
All die genannten Begriffe sind ambivalent und tragen zur Klärung des Begriffs des Wunderbaren bei, denn auch dieser ist abhängig vom Wissensstand und der Einbildungskraft des wahmehmenden Subjekts.
4.1 Wielands Position im poetologischen Diskurs
In der vorliegenden Arbeit wird die Fragestellung behandelt, welchen Standpunkt Christoph Martin Wieland, der lange Zeit (1752-1754) im Hause Bodmers zu Gast war, innerhalb des oben genannten Disputs über die Integration des Wunderbaren in die Literatur vertritt und wie sich dieser im Roman „Don Sylvio von Rosalva“ widerspiegelt. Es wird sich herausstellen, dass er keine der beiden Seiten vollständig affirmiert, sondern eine Zwischenposition einnimmt, in welcher er den poetologischen Diskurs an seine Grenzen fuhrt und aufzeigt, dass eine adäquate literaturkritische Diskussion nur geführt werden kann, wenn der jeweilige Referenzrahmen zuvor geklärt wird.
Auf den ersten Blick scheint Wieland ein Anhänger der Schweizer Poetik zu sein, da er sie mit seinem Roman „Don Sylvio von Rosalva“ in die Praxis umsetzt. Romanpoetolo- gisch schafft Wieland einen Schwärmer (Don Sylvio), welcher fiktionale Erzählungen nicht nach Vemunftaspekten, sondern nach wirkungsästhetischen Gesichtspunkten beurteilt. Allerdings wählt Wieland die Extreme und stattet den Schwärmer mit irrationaler Einbildungskraft aus, die im ersten Moment wie eine Geisteskrankheit wirkt. Don Sylvio kann aufgrund seiner Erziehung zwischen der unsichtbaren und der sichtbaren Welt nicht unterscheiden; folglich ist für ihn die reine Existenz von Etwas ein Beweis für Realität, sei es nun eine unwahrscheinliche Einbildung oder eine Abbildung der Wirklichkeit. Durch diese Einstellung verliert Don Sylvio den Anschluss zur Gesellschaft, wodurch Wielands Roman wie eine Parodie der Schweizer Poetik wirkt.
Entgegen der ersten Annahme lässt diese Interpretation Wieland als Gegenspieler Bodmer und Breitingers erscheinen, sodass eine Affirmation Gottscheds vemunftorientierter Regelpoetik als logische Konsequenz erscheint. Doch auch dieser Gedanke soll hier negiert werden. Der Roman wirkt nicht wie eine radikale Aufforderung an den Leser, fiktionale Literatur ausschließlich unter dem Aspekt der Wahrheit und Vernunft zu betrachten. Vielmehr zeigt Wielands Text, dass gerade die Literatur ein Ort ist, an dem sich die Vorstellungskraft frei entfalten darf. Wie auch bei Bodmer und Breitinger werden hier zwei Wirklichkeitsebenen veranschaulicht, zwischen denen der Rezipient differenzieren muss:
Uns [nötigt] die Wahrhaftigkeit, deren wir uns im Lauf dieser ganzen Geschichte befleißigen, zu versichern, daß Don Sylvio in seiner ganzen Erzählung nichts gesagt habe, was nicht in gewissem Sinn eben so würklich war, als es die meisten andre Geschichten aus der Geisterwelt sind. Um dieses scheinbare Paradoxum zu begreiffen, müssen wir uns erinnern, daß es eine zweifache Art von Wirklichkeit gibt, welche [] nicht allemal so leicht zu unterscheiden ist, als manche Leute denken. So wie es nemlich allen Egoisten zu trotz, Dinge gibt, die würklich ausser uns sind, so gibt es andre, die blos in unserm Gehirn existiren. Die erstem sind, wenn wir gleich nicht wissen, daß sie sind; die andre sind nur, in so fern wir uns einbilden, daß sie seyen. Sie sind für sich selbst nichts, aber sie machen auf denjenigen, der sie für würklich hält, die nehmliche Würkung, als ob sie etwas wären; und ohne daß die Menschen sich deswegen weniger dünken, sind sie die Triebfedern der meisten Handlungen des menschlichen Geschlechts, die Quelle unsrer Glückseligkeit und unsere Elends, unsrer schändlichen Laster und unsrer glänzenden Tugenden. (64) [Hervorhebungen von S.T.]
An dieser Stelle wird die Schweizer Wirkungsästhetik affirmiert, denn wie der Erzähler ausfuhrt, sind vor allem die unsichtbaren Dinge die wahren „Triebfedern“ menschlicher Handlungen. Aus dieser Äußerung kann eine Ermutigung des Rezipienten zur Schwärmerei geschlossen werden, solange sich dieser der Grenze zwischen den Wirklichkeitsebenen bewusst ist. Damit ist gemeint, dass sich seine Schwärmerei innerhalb seiner Vorstellungskraft und vor allem innerhalb der gelesenen Literatur frei entfalten darf, sich aber nicht mit der materialistischen Realität vermischen sollte, da der Rezipient sonst den Bezug zur sichtbaren Wirklichkeit und somit den Zugang zur Gesellschaft verliert.
Es zeigt sich, dass gerade die schwärmerische Grundhaltung des Don Sylvio ein entscheidendes Qualitätsmerkmal des Textes ist. Obwohl Don Sylvio den Blick für die sichtbare Realität verliert, lässt sich ein gewisser Bezug zur Wahrscheinlichkeit nicht verleugnen. Don Sylvio referiert nicht auf den Rahmen sichtbarer Realität, sondern auf den Rahmen fiktionaler Literatur, in welchem seine Überlegungen durchaus schlüssig sind.48 Er bezieht die Kausalitäten aus rezipierten Feen-Märchen auf seine imaginäre Wirklichkeit und leitet daraus ein eigenes Regelsystem ab: „Denn, dachte er, ist die Prinzeßin Burzeline eine Heuschrecke gewesen, so kann eine andre eben so gut ein Sommer-Vogel [sc. Schmetterling] seyn.“ (37)
Diese Wenn-Dann-Verknüpfungen wirken vermutlich aus dem Grund amüsant, dass Don Sylvio in seiner logischen Schlussfolgerung nicht widersprochen werden kann, obwohl die Grenzen zur Realität ignoriert werden. Der Protagonist bemisst die Wahrscheinlichkeit seiner Einbildungen nicht an den Regeln der sichtbaren Realität, sondern an den Regeln, die in der fiktionalen Literatur gelten. Wahrscheinlichkeit ist also immer abhängig vom jeweiligen Referenzrahmen. Folglich konstituiert Wieland romanpoeto- logisch ein System des Wunderbaren, das zwar nicht in der gegenwärtigen, materialistischen Realität existieren kann, aber dennoch in sich schlüssig ist, da es sich an die Regeln seines Referenzrahmens hält.
[...]
1 Wieland, Don Sylvio, S. 28. Im Folgenden werden diese Zitate unter Angabe der Seitenzahl im Text nachgewiesen.
2 Ebd., S. 338.
3 Oettinger, Phantasie und Erfahrung, S. 36.
4 Wolff, Vemünfftige Gedancken, S. 342.
5 Ebd., S. 354.
6 Ebd., S. 134f.
7 Ebd., S. 136.
8 Vgl. Oettinger, Phantasie und Erfahrung, S. 40.
9 Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 264.
10 Sulzer, Theorie der schönen Künste, S. 744.
11 Ebd., S. 744.
12 Ebd., S. 744.
13 Ebd., S. 744.
14 Vgl. ebd., S. 744.
15 Vgl. ebd., S. 746.
16 Vgl. ebd., S. 746.
17 Ebd., S. 746.
18 Ebd., S. 722.
19 Ebd., S. 722.
20 Vgl. Horch / Schulz, Frühaufklämng, S. 129.
21 Vgl. Gottsched (1751), Critische Dichtkunst, S. 182.
22 Wolff, Briefwechsel, S. 354.
23 Vgl. Seidler, Reiz der Lektüre, S. 38-42. Seidler gibt einen Überblick über die Hintergründe der geringen Alphabetisierung der Gesellschaft Anfang des 18. Jahrhunderts und fuhrt als Hauptgrund hierfür die agrarische Prägung der unteren Bevölkerungsschichten an, die eine schulische Bildung nicht zwingend voraussetzt.
24 Vietta, Literarische Phantasie, S. 121f.
25 Gottsched (1751), Critische Dichtkunst, S. 92.
26 Ebd., S. 142.
27 Ebd., S. 144f.
28 Gottsched (1972), Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, S. 104, in: J. Chr. Gottsched: Schriften zur Literatur. Hrsg. v. Horst Steinmetz, Stuttgart, S.12-196. Hier fallt auf, dass die von Horst Steinmetz im Jahre 1972 herausgegebene Edition zu Gottscheds Schriften den Begriff „menschliche Geschlecht“ ersetzt durch „einfältigen Haufen“. Da dieser Begriff zu einem besseren Verständnis der Ausführungen beiträgt, wird hier auf die Studienausgabe verwiesen.
29 Gottsched (1751), Critische Dichtkunst, S. 190.
30 Ebd., S. 170.
31 Ebd., S. 129.
32 Ebd., S. 150.
33 Vgl. Seidler, Reiz der Lektüre, S. 54.
34 Gottsched (1751), Critische Dichtkunst, S. 151.
35 Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 54f.
36 Bodmer, Critische Abhandlung, S. 47.
37 Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 56.
38 Seidler, Reiz der Lektüre, S. 56.
39 Vgl. Vietta, Literarische Phantasie, S. 181. Vietta fügt hinzu, dass bei Bodmer neben der Argumentation verschiedener Welten eine zweite „theologische Begründungsebene bei Verteidigung der Poesie Miltons nie aufgegeben wird.“
40 Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 110.
41 Ebd., S. 121.
42 Ebd., S. 123.
43 Ebd., S. 123.
44 Ebd., S. 123.
45 Ebd., S. 124f.
46 Ebd., S. 131.
47 Ebd., S. 131.
48 Vgl. Seidler, Reiz der Lektüre, S. 62.