4 oder 6 Jahre? Der Streit um die 'richtige' Dauer der Grundschule


Trabajo Escrito, 2010

21 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhalt

1. Einleitung

2. Die soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems

3. Internationaler Vergleich

4. Subjektive Einschätzungen zur Dauer der Grundschule

5. Die Element-Studie
5.1. Voraussetzungen in Berlin
5.2. Ergebnisse der ELEMENT-Studie
5.3. Ergebnisse der Reanalyse der Daten
5.4. Vergleich der Schüler grundständiger Gymnasien

6. Zusammenfassung und Fazit

7. Literatur

1. Einleitung

Die nur vierjährige Dauer der Grundschule und die sich daran anschließende frühe Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Sekundarschulformen wird, als eines der umstrittensten Strukturmerkmale des deutschen Schulwesens, seit Jahren vielfach diskutiert (vgl. Baumert u.a. 2009, S.190). Deutschland liest seine Schüler dabei im internationalen Vergleich sehr früh aus und weist sie stark selektierenden Schulformen zu. Der Übergangszeitpunkt am Ende der vierten Klasse, also mit 10 Jahren, ist in den meisten Bundesländern der Regelfall. Nur in Berlin und Brandenburg vollzieht sich dieser Wechsel zur Sekundarschule nach der sechsten Klasse, also im Alter von 12 Jahren (vgl. Kramer u.a. 2009, S.17ff.). Auch Hamburg versuchte im vergangenen Jahr eine sechsjährige Grundschule und ein daran anschließendes zweigliedriges Schulsystem einzuführen. Allerdings mobilisierte sich eine Initiative unter der Parole „Diese Reform darf keine Schule machen!“ gegen die Einführung der sechsjährigen Primarschule in Hamburg. Am 18.07.2010 wurde per Volksentscheid gegen die neue Grundschuldauer entschieden (vgl. www.sueddeutsche.de, Stand 14.04.2011).

Die Verfechter der vierjährigen Grundschule sind der Ansicht, durch längeres gemeinsames Lernen erhöhe sich der soziale Unterschied zwischen den Kindern eher, als dass er sich ausgleiche und leistungsstarke Schüler würden gebremst, wenn sie nicht frühzeitig auf das Gymnasium wechseln würden. Anhänger der sechsjährigen Grundschule argumentieren, längeres gemeinsames Lernen fördere alle und eine Selektion bereits nach der vierten Klasse wäre zu früh, um Prognosen über die Schullaufbahn und die Entwicklung eines Kindes abzugeben. In der aktuellen Debatte um die „richtige“ Dauer der Grundschule stehen sich somit zwei Seiten mit konträren Ansichten gegenüber. Im Rahmen dieser Arbeit soll anhand verschiedener Ergebnisse aus der Forschung der Frage nachgegangen werden, ob die Schüler in der vierjährigen oder sechsjährigen Grundschule eher gebremst werden, oder sich Fördereffekte zeigen, also ob sich für die Argumente der beiden Seiten empirisch abgesicherte Nachweise finden lassen.

Hierfür soll zunächst auf die hohe soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems eingegangen werden, durch welche massive Bildungs- und Chancenungleichheiten unter den Schülern entstehen und die einen zentralen Punkt in der Diskussion um den Übergangszeitpunkt darstellt. Anschließend wird das deutsche Schulsystem hinsichtlich seines Aufbaus und der Leistungen der Schüler im internationalen Vergleich betrachtet, um hieraus Schlussfolgerungen zu Vor- oder Nachteilen einer längeren oder kürzeren Dauer der Grundschule schlussfolgern zu können. Hierauf folgt die Vorstellung der Ergebnisse zweier Untersuchungen, die die subjektive Einschätzungen der Schüler, ihrer Eltern und der Lehrkräfte zur “richtigen“ Dauer der Grundschule verdeutlichen, um daran anschließend, anhand der Auswertung der Studie „Erhebungen zum Lese- und Mathematikverständnis – Entwicklungen in den Jahrgangsstufen 4 bis 6 in Berlin“ (nachfolgend ELEMENT-Studie genannt), empirische Befunde zu der Fragestellung zu betrachten, ob Schüler, die eine sechsjährige Grundschule bereits nach der vierten Klasse verlassen, um ein grundständiges Gymnasium zu besuchen, einen Vorsprung in den Leistungen zeigen oder sich für sie Nachteile ergeben.

2. Die soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems

Die institutionelle Ausdifferenzierung des deutschen Bildungssystems führt zu verschiedenen individuellen Bildungsprofilen, unterschiedlichen Abschlüssen und differenten Karrierepfaden. Die Bildungs- und Lebenschancen der Schüler werden stark vom jeweiligen Zugang in die Sekundarstufe geprägt (vgl. Denner/Schumacher 2004, S.11), da dieser den weiteren Bildungsweg entscheidet. Dem Übergang von der Grundsschule zur Sekundarschule ist in diesem Zusammenhang ein hoher Stellenwert einzuräumen und daher ebenso der Frage nach dem richtigen Zeitpunkt des Übergangs. Ein Übergang bereits am Ende der vierten Klasse stellt dabei eine sehr frühe Statusvorentscheidung für die spätere Entlohnung und gesellschaftliche Position dar (vgl. ebd., S.115), was Verfechter der sechsjährigen Grundschule oft kritisieren. Eine einmal getroffene Schulwahl ist trotz der formal gegebenen Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems auch größtenteils von Dauer (vgl. ebd., S.11), denn nur selten wird später auf eine andere Schulform gewechselt, vor allem nicht auf eine höhere. Der Zeitpunkt des Übergangs und somit der Selektion der Schüler nach dem vierten oder sechsten Schuljahr und die damit einher gehende Prägung von massiven Chancen- und Bildungsungleichheiten stellen, sind somit ein wichtiges bildungspolitisches Streitthema in Deutschland.

Beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarschulen zeigen sich drei Stufen der sozialen Auslese (nach Tillmann 2009): die Stufe der sozialen Auslese nach Sozialgruppen, die Stufe des Lehrerurteils und die Stufe der Elternentscheidung. Bei der ersten Stufe, der sozialen Auslese nach Sozialgruppen, kommt es zu Bildungs- und Chancenungleichheiten zwischen den Schülern aufgrund unterschiedlicher Lern- und Fördermöglichkeiten in bildungsnahen und bildungsfernen Familien. Je nach Sozialgruppe, weisen die Kinder also unterschiedliche Voraussetzzungen auf. Die zweite Stufe, das Lehrerurteil, bezieht sich vor allem auf die Schullaufbahnempfehlung und wird durch die soziale Ungleichheit der ersten Stufe stark beeinflusst und verstärkt. Hier zeigt sich, dass Kinder aus oberen Sozialgruppen, die nur mittelmäßige Leistungen zeigen, häufiger eine Gymnasialempfehlung von den Lehrkräften erhalten, als Kinder aus niedrigeren Sozialgruppen, die bei gleicher Testleistung die Empfehlung nicht erhalten. Letztere müssen eine um 50% höhere Testleistung erbringen, um ebenso eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Es zeigt sich demnach eine doppelte Benachteiligung für Kinder aus einfachen Verhältnissen: durch die mangelnde Förderung im bildungsfernen Elternhaus fällt es ihnen schwerer gute Leistungen in der Schule zu erbringen, gelingt es ihnen dennoch, müssen diese Leistungen höher liegen, als bei Kindern aus höheren Sozialgruppen, um gleiche Bildungschancen wie diese zu erhalten. Daran schließt sich die dritte Stufe der sozialen Selektion, die der Elternentscheidung, an. Eltern aus der oberen Mittelschicht und der Oberschicht treffen ihre Schullaufbahnentscheidungen für das Kind relativ ungeachtet der eigentlichen Leistungen des Kindes. Sie tendieren verstärkt zum Gymnasium, auch wenn das Kind nicht unbedingt die Leistungen hierfür erbringt. Diese drei Stufen der sozialen Auslese führen zur massiven Bildungsungleichheiten am Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schulform. Hier zeigt sich eine soziale Benachteiligung, die die pädagogischen Prinzipien der Förderung und Gleichbehandlung massiv ignoriert (vgl. Tillmann 2009, S.16ff.).

Die frühe Auslese nach der vierten Klasse wird von den Kritikern des gegliederten Schulsystems als eine der maßgeblichen Ursachen für die starke soziale Ungleichheit zwischen den Schülern in Deutschland gesehen. Die sechsjährige Grundschule und somit die zeitliche Verschiebung dieser Auslese, sehen sie als einen Schritt zu einem gerechteren Schulwesen. Betrachtet man die Argumentation von der anderen Seite, so sehen die Verfechter der vierjährigen Grundschule im längeren gemeinsamen Lernen eine Erhöhung der Selektivität und der sozialen Unterschiede zwischen den Schülern. Diese gelangen erst später in homogenere Lerngruppen, in denen sie individuell gefördert werden können und in denen dadurch besserer Unterricht möglich sei, ebenso durch die besser ausgebildeten Gymnasiallehrer. Allerdings lernen auch die Schüler in diesen neuen Lerngruppen aufgrund ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen und Lernerfahrungen nicht völlig gleichförmig, so dass diese Gruppen nicht lange homogen bleiben (vgl. Denner/Schumacher 2004, S.110). Und auch hier ist ebenso das Gegenteil belegt, nämlich das heterogene Gruppen den Schülern bessere Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten, von denen nicht nur Schüler im unteren Leistungsbereich profitieren, sondern alle Schüler einen höheren Bildungserfolg erzielen können (vgl. Schuck 2009, S.7). Grundschullehrer haben im Gegensatz zu den Gymnasiallehrern einen engeren Kontakt zu den Kindern und kennen ihre persönlichen Stärken und Schwächen (vgl. Denner/Schumacher 2004, S.112f.), was wiederum hier für eine bessere Fördersituation für das Kind spricht und somit für eine längere gemeinsame Schulzeit. Gleiches gilt für das vielfach angeführte Argument, dass aus entwicklungspsychologischer Sicht die kognitiven Fähigkeiten der Viertklässler noch nicht soweit ausgebildet und die Lernausgangslagen zu unterschiedlich sind, als dass Prognosen über ihre Schullaufbahn vorhersagbar wären (vgl. Büchner/Koch 2001, S.25). Auch können Kinder nach der vierten Klasse, wie weiter argumentiert wird, nicht den Anforderungen der Sekundarschule gerecht werden und könnten aufgrund größerer Reife nach der sechsten Klasse die risikoreiche Übergangssituation besser bewältigen (vgl. ebd., S.103). Ob die Auslese nach der sechsten Klasse einen für die Vorhersage der Entwicklung ausreichend späten Zeitpunkt darstellt und es nicht auch dann noch Kinder gibt, die aufgrund unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeiten den Übergang nicht bewältigen können, bleibt zu diskutieren. Andererseits kann der frühere Schulwechsel für einzelne Kinder eine frühere Erholung von eventuellen negativen Erfahrungen in der Grundschule bedeuten (vgl. Kramer u.a. 2009, S.222). Führt man diese Diskussion auf der individuellen Stufe des Schülers, kann die Entscheidung für einen früheren oder späteren Übergang immer mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen für den Einzelnen verbunden sein und führt nie zu allgemein gültigen Argumenten. Durch die Heterogenität der Lerngruppe und die individuelle Entwicklung der Schüler erfolgt der Übergang für einzelne Kinder immer zum falschen Zeitpunkt. Die meisten Kinder freuen sich auf den Übergang in die Sekundarschule, als Schritt in die Welt der Großen, jedoch kann er sich für das individuelle Kind vielfach gestalten: als völlig unproblematisch, als neue Chance, aber auch als problematischen Bruch, als Belastung oder als Angstsituation (vgl. Denner/Schumacher 2004 S.114).

3. Internationaler Vergleich

Nachfolgend soll untersucht werden, ob es für diese angeführten Argumente beider Seiten in der bisherigen Forschung Belege gibt und wie Deutschland mit seiner sehr frühen Differenzierung nach der vierten bzw. sechsten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich einzuordnen ist. In den letzten Jahren haben internationale Leistungsvergleichsstudien wie PISA und IGLU die Diskussion über den Zeitpunkt des Übergangs zwischen verschiedenen Bildungseinrichtungen noch verstärkt.

In allen bisherigen PISA Studien lagen auf den ersten fünf Plätzen Länder mit einem integrierten Schulsystem, das die Schüler nicht schon so früh wie in Deutschland trennt, sondern erst nach der achten oder neunten Klasse. Allerdings gibt es neben diesen „PISA-Siegern“ auch mehrere Länder mit integriertem Schulsystem, die im internationalen Vergleich hinter früh selektierenden Ländern wie Deutschland liegen. Diese Länder zeigen, dass ein integriertes Schulsystem mit späterer Aufteilung im internationalen Vergleich zu sehr guten Leistungsergebnissen im oberen Bereich und zu einer guten Basisqualifizierung im unteren Bereich führen kann (vgl. Tillmann 2009, S.14, nach Prenzel u.a. 2007). Sehr gute Leistungen mit geringer sozialer Selektivität zeigen sich somit nur in integrierten später selektierenden Schulsystemen, mittlere und schlechtere Leistungen im internationalen Vergleich treten bei spät selektierenden integrierten und früh selektierenden Schulsystemen auf (vgl. ebd.) Dieses im internationalen Vergleich sehr gute Abschneiden der führenden Länder mit integrativem Schulsystem ist aber nicht völlig eindeutig auf das integrative System zurückzuführen, sondern kann vielfache länderspezifische Ursachen haben. Die Ergebnisse liefern jedoch bedeutsame Anhaltspunkte für einen Zusammenhang in diese Richtung und sind somit eher ein Argument für eine längere Grundschulzeit mit späterer Trennung der Schüler.

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Final del extracto de 21 páginas

Detalles

Título
4 oder 6 Jahre? Der Streit um die 'richtige' Dauer der Grundschule
Universidad
University of Potsdam  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Curso
Seminar Bildung im schulischen Kontext
Calificación
1,0
Autor
Año
2010
Páginas
21
No. de catálogo
V275787
ISBN (Ebook)
9783656682820
ISBN (Libro)
9783656682813
Tamaño de fichero
541 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
jahre, streit, dauer, grundschule
Citar trabajo
Bachelor of Arts Erziehungswissenschaft/Soziologie Ricarda Albrecht (Autor), 2010, 4 oder 6 Jahre? Der Streit um die 'richtige' Dauer der Grundschule, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275787

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