Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Geschichte im steten Dialog mit dem gegenwärtigen Individuum
2. Instrumentalisierung der Geschichte anhand dreier Beispiele
2.1. Der Sinn der tschechischen Geschichte
2.2. Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion
2.3. „Kolumbus des Kosmos“ – Der Kult um Jurij Gagarin
3. Sprache und Individuum in den geschichtswissenschaftlichen Theorien
3.1. Mangelnde Objektivität bei Sprache und Individuum
3.2. Historismus und Strukturalismus
3.3. Poststrukturalismus und Historische Diskursanalyse
4. Vergleichende kritische Analyse
4.1. Wissenschaftstheoretische Einordnung der drei Texte
4.2. Einigender roter Faden und konzeptionelle Unterschiede innerhalb der drei Texte
5. Zusammenfassung
Bibliographie
1. Geschichte im steten Dialog mit dem gegenwärtigen Individuum
„Geschichte ist nicht im gleichen Sinne offen wie die Zukunft, aber offen ist sie auch.“[1] Dieser Satz stammt aus einem aktuellen Artikel zur deutschen Geschichte des Magazins Der Spiegel. Weiter heisst es darin, dass man so tue „als gäbe es historische Wahrheiten, aber die gibt es nicht. Es gibt nur einen Stand der Forschung, der Lücken hat, die mit Spekulationen gefüllt werden, mit Interpretationen.“[2] Diese Aussage verwundert nicht. Denn seit jeher speisen sich diese Spekulationen und Interpretationen bereits aus dem Wort Geschichte, welches im Deutschen eine doppeldeutige Bedeutung aufweist: Res gestae und historia rerum gestarum. Vergangenes Geschehen und der Umgang mit diesem vergangenen Geschehen. Es bezeichnet somit „sowohl das Objekt der Darstellung wie die Darstellung des Objekts“.[3] Diese Ambivalenz und die Schwere, gar Unmöglichkeit, das Gegenstandsobjekt, also das vergangene Geschehen, vom individuellen Erkenntnissubjekt, also dem Erzähler, loszulösen, lässt darauf schließen, dass die Geschichtswissenschaft verglichen mit der Naturwissenschaft „durch die jeweilige Gegenwart und ihre Interessen in besonderer Weise motiviert“ ist.[4] Die Vergangenheit steht somit im steten Dialog mit der Zeit und dem Erzähler. Positiv ausgedrückt: „Die Vergangenheit lebt; sie schwankt im Lichte neuer Erfahrungen und Fragestellungen“.[5] Negativ ausgedrückt ist die Vergangenheit jedoch tot. Sie ist vor Manipulation und Ausbeutung nicht geschützt.[6]
Die vorliegende Arbeit versucht dieser potentiellen Manipulation von Geschichte, in diesem Falle speziell durch Politiker, näher zu kommen. Dazu werden drei ausgewählte Texte untersucht, die sich mit unterschiedlichen Zeit- und Kulturräumen befassen. Kapitel 2 stellt die Protagonisten und wichtigsten Kernpunkte dieser Texte dar. Kapitel 3 widmet sich den theoretischen Grundlagen und gibt die in den Texten auftauchenden Begrifflichkeiten und Theorien wie den Historismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus, die Hermeneutik, Semiotik, die linguistische Wende und die Historische Diskursanalyse knapp wieder. Auch werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Theorien aufgezeigt. Auf Basis dessen wird in Kapitel 4 folgenden zwei Leitfragen nachgegangen:
1. Wie lassen sich die drei vorliegenden Texte wissenschaftstheoretisch einordnen?
2. Existiert ein roter einigender Faden in den Grundaussagen dieser Texte?
Kapitel 5 gibt schließlich eine kurze Zusammenfassung.
2. Instrumentalisierung der Geschichte anhand dreier Beispiele
2.1. Der Sinn der tschechischen Geschichte
Der Ursprung der 20-seitigen Schrift des Historikers Josef Pekař von 1928[7] liegt in der Aufforderung des Masaryk-Volksbildungsinstituts sich an einer Vortragsreihe über den Sinn der tschechischen Geschichte zu beteiligen.[8] Dem ging ein langwieriger, zum Teil öffentlicher und intensiv geführter Disput über die Substanz tschechischer Geschichtsschreibung mit dem ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk zuvor.[9] Diese Auseinandersetzung überrascht nicht. Rückblickend erklärte Zdeněk Nejedlý im Jahre 1949: „Es gab bei den Tschechen keine nationalere Wissenschaft als die Geschichte.“.[10] In Angesicht der wechselvollen Gegenwart in Mitteleuropa zwischen Slawen und Deutschen wurde von Historikern und Politikern „mit tiefster Hingebung und mit dem ganzen Einsatz der Persönlichkeit“ um das Geschichtsbild Tschechiens gerungen.[11] Dabei zeichneten sich zwei Lager ab, zu denen jeweils Pekař und Masaryk gehörten.
Auf der einen Seite stand die sogenannte Goll-Schule, benannt nach dem zwischen 1846 und 1929 lebendem tschechischen Historiker Jaroslav Goll. Diese Schule wendete sich konsequent von der romantischen Geschichtsauffassung ab und befürwortete mit seinen Schülern und Pekař an deren Spitze eine rationale, methodische und objektive Erforschung und Beurteilung der Quellen, die möglichst frei von parteiischen Perspektiven ist.[12] Auf der Suche nach der „echten historischen Wahrheit“ sollte keine Rücksicht auf das „Vermächtnis des Nationalstolzes“ genommen werden.[13] Demgegenüber bildete sich auf der anderen Seite ein „Sturmblock“ um Masaryk gegen die Goll-Schule.[14] Dieser Tomáš Garrigue Masaryk war Philosoph und Soziologe, bis er schließlich in die Politik wechselte. In dieser Stellung versuchte Masaryk auf eine bedenkliche Art die Vergangenheit und Gegenwart wie eine „feste Klammer“ zu verbinden um dadurch die Zukunft zu formen.[15] Als Ziel sollte das tschechische Freiheitsideal und der tschechische Nationalstolz wieder entfacht werden. Selbstverständlich entsprachen die Ergebnisse dem Zweck und so verblassten die Grenzen zwischen Geschichte und aktiver Politik, wie bereits bei František Palacký Jahre zuvor.[16]
Dieser „wissenschaftlich widersinnigen Art“ Masaryks wiederspricht Pekař[17]. In seiner Schrift zweifelt Pekař bereits die Fragestellung Masaryks nach dem Sinn der tschechischen Geschichtsschreibung als unklar an: „Was ist das, der Sinn der Geschichte?“.[18] Diese Suche nach dem Sinn impliziert immer propagandistische, ideele, mystische, wertbestimmte und metaphysische Erklärungen. Und eben diese Suche läuft Pekařs Auffassung einer empirisch-positivistischen Geschichtsschreibung auf dem Fundament wissenschaftlich sichergestellter Erkenntnisse zuwider.[19] Pekař entkräftet in seiner Schrift die von Palacký und Masaryk propagierte egozentrische Geschichtsbetrachtung, die das tschechische Volk den gesamteuropäischen Zusammenhängen entzieht und ihm eine besondere moralische Mittler- und Führerrolle in der Geschichte zuweist.[20] Nach der Goll-Schule war die tschechische Entwicklung stets ein Kind des westeuropäischen Geistes. Das ganze kulturelle, materielle und gesellschaftliche Leben wurde von Westeuropa nach Tschechien getragen.[21] Auch war dieser Prozess keine bloße Berührung, sondern das stete Erliegen der Tschechen gegenüber der germanischen und romanischen Welt. Diesen Prozess bezeichnete Pekař als „mächtigste[n] Faktor“ und „das bei weitem bedeutendste Faktum“ der tschechischen Geschichte. Ferner wird das selbstständige Erwachen des tschechischen Geistes und der tschechischen Umwelt ausdrücklich von Pekař verneint.[22] Schließlich wird auch die von Palacký gezeichnete schnurgerade Entwicklungslinie unter ständig gleichen Idealen in der tschechischen Geschichte kritisiert. Laut Pekař wurden vielmehr „die beherrschenden geistigen Erscheinungen der einzelnen europäischen Zeitalter in das tschechische Leben getragen“.[23] Die tschechischen Ideale unterlagen dem „Gesetz der Aktion und Reaktion“. Klassizistische und romantische Epochen, Epochen der „Vorherrschaft der Autorität, der Gesetzmäßigkeit, der Norm, […] des Verstandes“ und Epochen der „Vorherrschaft einer mit Inbrunst und Sehnsucht erfüllten, auf freiheitliche und idealistische Ziele gerichteten Stimmung“ wechselten einander ab.[24]
2.2. Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion
Knapp 50 Jahre später entstand die 36-seitige Fallstudie des Historikers Karl-Georg Faber als Ergebnis zweier wissenschaftlicher Veranstaltungen zum Thema Theorie der Geschichte und Instrumentalisierung historischen Wissens.[25] Dabei untersuchte Faber das Problem der „Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft“. Das geschieht anhand dreier Protokolle großer Parlamentsdebatten aus dem 19. und 20. Jahrhundert.[26] Diese Untersuchung zeigte, dass bei allen drei Parlamentsdebatten mit Hilfe der Berufung auf historische Sachverhalte Lehren, konkrete Anweisungen und moralische Verpflichtungen für politische Gegenwartsentscheidungen getroffen worden sind.[27] Dabei, so Faber, wird die „Differenz zwischen dem zukunftsorientierten Handeln und aktuellen Argumentieren des Politikers und dem retrospektiven Vorgehen des Historikers […] besonders deutlich“.[28] Konkret zeigt Faber beispielsweise auf, dass wertbesetzte Bezeichnungen zur Illustration kontroverser Sachverhalte wie der „Atompilz über dem Bikini-Atoll“ von den Parlamentariern „als Kampfbegriffe im politischen Wortstreit“ instrumentalisiert werden.[29] Bei der Art und Weise dieser Instrumentalisierungen legen die Politiker weniger Wert auf wissenschaftliche Normen, sondern primär auf ihre politische Zielsetzung.[30] Somit wird beim Debattieren mit historischen Gegebenheiten der wissenschaftliche Wert zugunsten eines illustrativen Wertes aufgegeben.[31]
Letztlich stellt Faber fest, dass „die ‘philosophische’ oder auch ‘spekulative’ Dimension des Einsatzes von Geschichte als politisches Argument auf allen Ebenen“ der untersuchten Parlamentsdebatten zugegen ist, auch wenn dies dem ungeschulten Auge nicht immer ersichtlich ist.[32] Dies überrascht nicht, denn die Geschichtswissenschaft und die Politik erfüllen unterschiedliche Aufgabenstellungen. Die Geschichtswissenschaft tritt den Versuch an, eine „objektivierende Rekonstruktion der von Menschen bewirkten oder erlittenen Verhältnisse und Veränderungen in der Vergangenheit“ herzustellen und somit „Aussagen von relativer Objektivität“ zu gewinnen.[33] Wogegen in der Politik solche objektivierenden und historischen Gegebenheiten als Fesseln empfunden werden. Politiker versuchen in Folge durch die „weitgehende Instrumentalisierung“ der Geschichte bewusst diese Fesseln zu liquidieren, um dem Ziel eines Sieges ihrer Partei im steten politischen Machtkampf näher zu kommen. Faber spricht in diesem Fall von einer „relative[n] Parteilichkeit“ im Umgang mit Geschichte.[34]
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[1] Kurbjuweit, D., Der Wandel der Vergangenheit (2014), S. 117.
[2] Kurbjuweit, D., Der Wandel der Vergangenheit (2014), S. 117.
[3] Rothfels, H., Einleitung zum Fischer-Lexikon Geschichte (1961), S. 7.
[4] Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1965), S. 269.
[5] Es handelt sich um eine vielzitierte Aussage des Historikers und Schriftstellers Golo Mann, zu welcher ich leider keine genauere Quellenangabe finden konnte.
[6] Faber, K.-G., Theorie der Geschichtswissenschaft (1978), S. 38-39.
[7] Die tschechische Originalfassung ist 1928 unter dem Titel Smysl česk ých d ějin erschienen. Diese Arbeit baut auf der deutschen Übersetzung von 1961 auf.
[8] Vgl. Pekař, J., Der Sinn der tschechischen Geschichte (1961), S. 5.
[9] Einen Überblick dieser Auseinandersetzung gibt Plaschka, R. G., Von Palacký bis Pekař (1955), S. 77-82.
[10] Nejedlý, Z., Dějiny národa českého (1949), S. 13.
[11] Plaschka, R. G., Von Palacký bis Pekař (1955), S. 1.
[12] Vgl. Pekař, J., Der Sinn der tschechischen Geschichte (1961), S. 23; Plaschka, R. G., Von Palacký bis Pekař (1955), S. 68; Stadtmüller, G., Josef Pekař und die tschechische Geschichtsschreibung (1961), S. 29.
[13] Šusta, J., Přemysl Otakar II. a Římská koruna v roce 1255 (1930), S. 119.
[14] Vgl. Plaschka, R. G., Von Palacký bis Pekař (1955), S. 69.
[15] Plaschka, R. G., Von Palacký bis Pekař (1955), S. 78.
[16] Vgl. Plaschka, R. G., Von Palacký bis Pekař (1955), S. 20 und S. 78.
[17] Pekař, J., Masarykova česká filosofie (1927), S. 30.
[18] Pekař, J., Der Sinn der tschechischen Geschichte (1961), S. 6.
[19] Vgl. Pekař, J., Der Sinn der tschechischen Geschichte (1961), S. 6-7.
[20] Vgl. Plaschka, R. G., Von Palacký bis Pekař (1955), S. 86; Stadtmüller, G., Josef Pekař und die tschechische Geschichtsschreibung (1961), S. 29.
[21] Vgl. Pekař, J., Der Sinn der tschechischen Geschichte (1961), S. 8-9 und 18.
[22] Vgl. Pekař, J., Der Sinn der tschechischen Geschichte (1961), S. 10.
[23] Pekař, J., Der Sinn der tschechischen Geschichte (1961), S. 13.
[24] Pekař, J., Der Sinn der tschechischen Geschichte (1961), S. 12.
[25] Die erste Version des Textes wurde 1975 in der Fachzeitschrift Historische Zeitschrift veröffentlicht. Diese Arbeit baut auf der leicht überarbeiteten Version von 1977 auf, erschienen in der wissenschaftlichen Reihe Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft.
[26] Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 273.
[27] Vgl. Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 282-289.
[28] Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 291.
[29] Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 291-292.
[30] Vgl. Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 293-294.
[31] Vgl. Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 300.
[32] Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 300.
[33] Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 314; Faber, K. G., Objektivität in der Geschichtswissenschaft? (1975), S. 24.
[34] Faber, K.-G., Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion (1977), S. 277 und 315-316.