Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Definitionen
2.1 Etymologische Definitionen
2.1.1 Schuld
2.1.2 Sünde
2.2 Theologische Definitionen
2.2.1 Schuld
2.2.2 Sünde
2.3 Normen kirchlicher und gesellschaftlicher Doktrin
3 Die Sünden des Gregorius’
3.1 Gregorius’ Abstammung
3.2 Abkehr vom klösterlichen Leben und Ergreifen der Ritterschaft
3.3 Die Heirat mit seiner Mutter
3.4 Gregorius’ Zweifel an Gottes Plan
4 Gregorius’ Sicht auf seine Sündenlast
5 Die Buße des Gregorius’
5.1 Das klösterliche Leben
5.2 Die Bedeutung seiner Tafel
5.3 Die Felseninsel
5.4 Das Papsttum als seine Erlösung
6 Die Vorzeichnung seines Weges durch Gott
7 Fazit
1 Einleitung
In vorliegender Hausarbeit möchte der Verfasser auf die Brisanz und Aktualität der Schuldfrage in der Reimpaardichtung Gregorius von Hartmann von Aue hinweisen, indem er der Frage nachkommt, inwieweit Gregorius selbst schuld an seinen und den ihm anhaftenden Verfehlungen trägt. Dabei soll ein Bild Gregorius’ gezeichnet werden, das ihn als Sünder ohne eigene Schuld darstellt, wie bereits der Autor selbst in dessen Bezeichnung eines „guoten sündære“[1] anklingen lässt.
Die Thematik erscheint dem Verfasser besonders interessant vor dem Hintergrund eines Vergleiches der heutigen Gesellschaft, in der immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren und die Begriffe Schuld und Buße aus dem alltäglichen Sprachgebrauch nahezu verschwunden sind, mit jener aus der Zeit Hartmanns von Aue, die geprägt war von einer gottesfürchtigen Weltanschauung und einer vermeintlich engeren und strikteren Kontrolle durch die Instanz der Kirche und ihrer geistlichen Vertreter. So nehmen heutzutage immer weniger Christen die Beichte als Sakrament und reflektiertes Bekenntnis zur eigenen Schuld in Anspruch, denn die Kategorie der Sünde fehlt in der öffentlichen Sprache. Thomas Halik, Psychotherapeut und Priester, behauptet: „Die Sünde ist etwas Lächerliches geworden.“[2] Das zeigt, welche Aktualität und Parallelität in Hartmanns Gregorius stecken und, wie wichtig auch heute noch die Beschäftigung mit der Frage nach der eigenen Schuld ist.
So ist es das Ziel dieser Arbeit, Gregorius als unverschuldeten aber dennoch reuigen Sünder darzustellen, indem seine vermeintlichen und tatsächlichen Sünden unter Zuhilfenahme des Textes erklärt werden und die fromme Aufrichtigkeit seiner Reue benannt wird. Die Erklärung und Auflösung des Paradoxons des Sünders ohne Schuld sind dabei von entscheidender Bedeutung. Ferner wird davon ausgegangen, dass Gregorius sich selbst als größten Sünder seiner Zeit betrachtet, obwohl die Wahrnehmung seiner Situation konträr zu einer heutigen Perspektive ist.
Zu Beginn der Untersuchung nennt der Verfasser einige Arbeitsdefinitionen, deren teilweise widersprüchliche Aussagen in die Analyse der Schuldfrage einfließen. Zusätzlich wird die kirchliche Doktrin des Mittelalters in diese Überlegungen miteinbezogen. In Kapitel 3 werden darauf die konkreten Vergehen Gregorius’ chronologisch aufgezählt und bewertet, bevor in Kapitel 4 Gregorius’ Ansichten dargelegt und in Kapitel 5 die Stationen seiner Buße vor dem Hintergrund seines Gottesbildes betrachtet werden.
2 Definitionen
Im Folgenden listet der Verfasser einige Arbeitsdefinitionen auf, die in der vorliegenden Arbeit Anwendung finden. Diese sind bewusst so gewählt, dass sie ein gewisses Konfliktpotential aufweisen, um eben dieses zur Erklärung der verschiedenen Perspektiven, die durch Gregorius und die heutige Gesellschaft vertreten werden, heranzuziehen.
2.1 Etymologische Definitionen
2.1.1 Schuld
Kluges Etymologisches Wörterbuch benennt die Schuld als das Verbalabstraktum zu sollen.[3] Letzterem wird wiederum die Ausgangsbedeutung »schulden« zugeschrieben, das noch lange in der Kaufmannssprache Anwendung findet, da das buchhalterische Soll darauf zurückzuführen ist.[4] Demnach kann man die Schuld, die vorerst wie Sünde wertfrei ist, als eine Art Verpflichtung verstehen, der aber gleichwohl nachgekommen werden muss.
2.1.2 Sünde
Kluges Etymologisches Wörterbuch definiert den Begriff der Sünde wie folgt: „Die christliche Bedeutung »Sünde« [...] ist abgeleitet von einem germanischen Rechtswort für »Schuld an einer Tat«, was bezeugt ist in anord. syn »Leugnung«.“[5] Letzteres ist eigentlich ein Abstraktum zu sund, einem alten Partizip zu sein, das eigentlich bedeutet: der es gewesen ist; das Abstraktum: das Gewesensein.[6] Die Sünde unterliegt der reinen Wortherkunft nach also zunächst einmal einer wertneutralen Beschreibung, die lediglich feststellt, dass etwas geschehen ist. Nicht aber ist etwa die Rede von Vergehen gegen Gott oder Mitmenschen.
2.2 Theologische Definitionen
2.2.1 Schuld
Die folgende Definition entstammt dem Neuen Theologischen Wörterbuch:
Schuld als religiöser und theolog. Begriff läßt sich von Sünde unterscheiden. Wenn Sünde eher einen Akt meint, bezeichnet Sch. die daraus entspringende Schuldverhaftung, das Geschuldete, dasjenige, dem der Schuldspruch des Gewissens gilt. Der Begriff der Sch. hat in den heutigen säkularisierten Gesellschaften nicht die gleiche Erosion erfahren wie der Begriff der Sünde. Wenn die These auch richtig sein mag, dass »Unschuldswahn« u. »Entschuldigungsmechanismen« weit verbreitet sind, so fehlt es doch nicht an vielfältigen Schuldgefühlen u. an dem Bedürfnis, sich Geschädigten oder Beleidigten gegenüber zu entschuldigen. [...] Psychologie u. Psychiatrie befassen sich mit krankhaftem Schuldbewusstsein, wie es nicht zuletzt durch perverse kirchliche Verkündiger, die Menschen in permanenten Anklagezustand zu versetzen suchen eingeimpft wird [...]. Sch. kann, wo die Möglichkeit der Vergebung nicht (mehr) erscheint, als ausweglos erfahren werden.[7]
Interessant in dieser Definition ist der Aspekt des krankhaften Schuldbewusstseins, der sich sicherlich in der Figur der Gregorius’ wiedererkennen lässt, der in übertriebener Härte mit sich selbst ins Gericht geht, wie in Kapitel 5 näher erläutert wird.
2.2.2 Sünde
Auch diese Definition ist o. g. Wörterbuch entnommen.
Sünde ist ein spezifisch religiöser u. theolog. Begriff, der die freie u. bewusste, also voll verantwortliche u. existentiell radikale Entscheidung gegen den eindeutig erkannten Willen Gottes bezeichnet. [...] Sie kann in Gedanken oder im Tun begangen werden. Begrifflich wird die S. oft gleichbedeutend mit Schuld verwendet; es wäre im Interesse begrifflicher Klarheit, S. für den Akt selber u. Schuld für die daraus resultierende «Schuldverhaftung» vor Gott u. den Menschen zu reservieren. [...] Ihrem Wesen nach besteht die S. in der Verweigerung der Gottes- u. Nächstenliebe in ihrer Einheit oder in gegen sie gerichteten Handlungen. [...] Die Befreiung »der S.« geschah u. geschieht aus reiner Gnade, indem Gott dem Sünder die Rechtfertigung, die Gerechtigkeit Gottes schenkt. [8]
Insbesondere die Prämisse einer freien und bewussten Entscheidung gegen Gottes Willen lässt in Bezug auf die Situation Gregorius’ den Schluss zu, dass jener ohne Sünde sein muss, da er in seinem Handeln doch stets bestrebt ist, gottgefällig zu sein.
2.3 Normen kirchlicher und gesellschaftlicher Doktrin
Christoph Cormeau geht davon aus, „daß die Normen christlicher Religion im Mittelalter im allgemeinen mehr Autorität besaßen als in neueren Epochen.“[9] Er stellt aber im selben Atemzug fest, dass es verfehlt wäre anzunehmen, „daß religiöse Praxis laikaler und klerikaler Kreise, [...] kirchenamtlich propagierte Theologie [...] bis hin zum magisch gefärbten Brauchtum miteinander eine homogene Einheit gebildet hätten“.[10] Somit lässt sich nicht gänzlich klären, wie eine damalige Gesellschaft vor dem theologisch-kirchlichen Hintergrund die Schuldfrage des Gregorius’ beantwortet hätte. Des Weiteren weist Cormeau darauf hin, dass der Inzest zwar eine Todsünde darstellt, aber diese eben keiner religiösen Oktroyierung durch die Kirche unterliegt, sondern letztere vielmehr ein gesellschaftlich vorgegebenes Verdikt theologisch sanktioniert.[11] Zudem wird das Kind aus einer inzestuösen Verbindung rechtlich benachteiligt, indem es als „gesellschaftliche Unperson, der der Stempel der Schande (rechtlich infamia) aufgeprägt bleibt“[12], angesehen und geächtet wird. Dies ist jedoch nicht als versteckte Schuldzuweisung dem Kind gegenüber zu verstehen, sondern dient als Sanktion zum Schutz der gesellschaftlichen Norm, die durch den Inzest verletzt wird.[13] Ein solches Kind ist ferner vom Erbe und jeglicher ständischen Position ausgeschlossen.[14] Diese weitreichenden Folgen für das schuldlose Kind sind demnach als Abschreckung für dessen Eltern zu verstehen und sollen in ihrem Ausmaß einer inzestuösen Verbindung vorbeugen.
[...]
[1] Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. v. Waltraud Fritsch-Rößler. Stuttgart: Reclam, 2011 (= Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 18764), Z. 176, im Folgenden zitiert als ‚Gregorius’.
[2] Halik, Thomas: Brauchen wir die Beichte noch? Ein Interview mit Thomas Halik. In: Christ und Welt (2012), Ausgabe 33, S. 1.
[3] Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 24., durchges. u. erw. Aufl. bearb. von Elmar Seebold. Berlin: de Gruyter, S. 827, im Folgenden zitiert als ‚Etymolog. Wörterbuch’.
[4] Vgl. ebd., S. 856
[5] Ebd. 898
[6] Vgl. ebd.
[7] Vorgrimmler, Herbert (2000): Neues Theologisches Wörterbuch. Freiburg im Breisgau: Herder, S. 562f.
[8] Ebd., S. 599
[9] Cormeau, Christoph; Störmer, Wilhelm (2007.): Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. 3. Aufl. Mit bibliographischen Ergänzungen (1992/93 bis 2006) von Thomas Bein. München: Beck, S. 114, im Folgenden zitiert als ‚Cormeau’.
[10] Ebd.
[11] Vgl. ebd. S. 115
[12] Ebd., S. 120
[13] Vgl. ebd.
[14] Vgl. ebd.