Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das epische Theater
2.1 Einflüsse auf Brechts episches Theater
3. Der gute Mensch von Sezuan: Theorie des epischen Theaters
3.1 Aufbau und Setting des Stücks
3.2 V-Effekt
3.3 Brechts Arbeit am Berliner Ensemble
4. «Der gute Mensch von Sezuan»: Theorie und Praxis im Vergleich
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Tradition des Theaters diente schon seit jeher der Vermittlung von politischen, religiösen oder gesellschaftlichen Idealen und Ideen. Diese Arbeit möchte näher auf Brechts episches Theater eingehen und einen Vergleich zwischen Theorie und Praxis ziehen. Dafür bietet sich das Stück «Der gute Mensch von Sezuan» an, denn dieses eignet sich als analytisches Musterbeispiel. Anhand ausgewählter Szenen des Dramas soll das epische Theater exemplarisch vorgestellt werden, ebenso wird der Brechtsche Verfremdungseffekt - als einer der Hauptmerkmale im epischen Theater - genauer betrachtet. Für diese Analyse ist eine Auseinandersetzung mit Brechts Arbeit mit dem Berliner Ensemble unabdingbar und daher wird in dieser Arbeit darauf ebenfalls kurz eingegangen. Der Begriff «episches Theater» wird meist in direktem Zusammenhang mit Bertolt Brecht gebracht, diese Arbeit wird kurz auf die Begrifflichkeit eingehen und versucht zu ergründen, ob Brecht einerseits tatsächlich der Schöpfer des epischen Theaters ist und andererseits ob er durch seine Inszenierung eine neue Theatertheorie entwickelt hat.
Die Literatur und Forschung über Brecht im deutschsprachigen Raum ist unüberschaubar. Nichts, das über Brecht nicht geschrieben worden wäre, kein Theaterstück, kein Gedicht, kein Lied, welches nicht bis ins kleinste Detail bereits analysiert worden wäre. Die Literatur im deutschsprachigen Raum setzt sich - eine subjektive Feststellung nach Sichtung unzähliger Aufsätze, Essays und Büchern - weniger kritisch mit Brecht auseinander als die wesentlich weniger zahlreichen Schriften im angelsächsischen Raum. Um eine möglichst neutrale Arbeit verfassen zu können, wurde daher auch Literatur aus den USA und England hinzugezogen.
Film-Aufzeichnungen von Brechts Stücken (in der Brechtschen Originalinszenierung) existieren aufgrund der technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit nur wenige. Vom «Guten Menschen» ist kein audiovisuelles Material verfügbar; daher wurde für den Vergleich «Theorie - Praxis» die Theaterinszenierung von Fritz Bennewitz des Nationaltheaters Weimar 1988 (Santa Monica-Version) gewählt. Es wird hier der Frage nachgegangen, ob diese sehr eigenwillige Inszenierung formal dem Anspruch des epischen Theaters noch gerecht wird. Der Vergleich «Theorie - Praxis» wird zudem durch eine Verfilmung aus dem Jahre 1966 unter der Regie von Fritz Umgelter für das deutsche Fernsehen ergänzt und konkretisiert.
2. Das epische Theater
Bertolt Brecht, geboren 1898 in Augsburg, begann sich schon früh für Sprache und Dichtung zu interessieren. Im Alter von fünf Jahren beginnt er zu schreiben, sein erstes Stück verfasst er 1913. Im selben Jahr gründet er mit seinen Kommilitonen die Schülerzeitung «Die Ernte», in dieser Publikation erscheint bereits schon das Brecht- Stück «Die Ernte - Drama in 3 Scenen», damals aber noch unter seinem gebürtigen Namen Bertold Eugen. (Eine Neuausgabe von Brechts Erstling erfolgt dann erst 1969 im Rahmen der Gesammelten Werke).1 Der Stoff und die dramatische Situation sind in diesem Erstlingswerk noch sehr konventionell und der Konflikt wirkt etwas bemüht: Katholiken belagern in den Niederlanden eine protestantische Stadt. Damit diese nicht untergeht, müssen die Einwohner katholisch werden und ein Mädchen soll den Protestanten für eine Nacht zur Verfügung gestellt werden.2
Erste Erfolge verzeichnet Brecht mit «Trommeln in der Nacht» , die Uraufführung fand 1922 statt, kurz darauf spielt man die Revue «Die rote Zibebe» an den Münchner Kammerspielen. 1939 / 1940 schreibt Brecht im finnischen Exil eine erste Version von «Der gute Mensch von Sezuan», welches hier näher betrachtet wird. «Der gute Mensch…» wurde im Schauspielhaus Zürich am 4. Februar 1943 uraufgeführt.3 Das Stück eignet sich besonders für eine Analyse, denn es erfüllt sämtliche Kriterien des epischen Theaters und eignet sich formell und thematisch als Musterbeispiel.
Die Begriff spr ä gung «episches Theater», wie wir diese im heutigen Sinne verstehen, geht auf Brecht selbst zurück. In der angelsächsischen Literatur wird allerdings darauf hingewiesen, dass der Direktor der Berliner Volksbühne, Erwin Piscator, «the founder oft he politically epic theater»4 ist und Brecht die Begriffsprägung daher nicht alleine zuzuschreiben sei.
Waren Epik und Drama im aristotelischen Drama noch streng getrennt und beanspruchte die klassische Illusionsbühne (Brecht spricht oft auch von einem «Guckkasten») über Jahrhunderte den Begriff des Theaters für sich, versuchte Brecht mit dem gezielten Weglassen von Elementen der klassischen Dramentheorie etwas Neues zu kreieren. War die Aufgabe im klassischen Drama durch die Darstellung oft tragischer (Einzel) Schicksale das Publikum zu unterhalten und zu läutern, machte sich Brecht die Weltverbesserung zur Aufgabe. Denn für Brecht war Theater immer auch politisches Theater. Das Publikum sollte zum kritischen Denken angeregt werden und nicht nur konsumieren. Inhaltlich gelang ihm dies, indem die Figuren auf der Bühne teilweise irrational handelten und das Schicksal nicht mehr unausweichlich war, sondern von den Figuren mitgestaltet wurde. So verfügt beispielsweise Shen Te im Stück «Der gute Mensch…» über bemerkenswertes wirtschaftliches Unverständnis (sie übernimmt in einem Elendsviertel einen Tabakladen, obschon es deren viele in Sezuan gibt). Das Gleiche gilt für den Wasserverkäufer Wang: In Sezuan scheint Wasser nicht gerade ein seltenes Gut sein, es regnet dort häufig und ausgiebig.
Brecht und der Theaterintendant Erwin Piscator wollten gesellschaftliche Konflikte wie Krieg, Kapitalismus und Revolution anders als bisher darstellen: Das epische Theater arbeitet daher mit Figuren, deren Verhalten zu Kritik führen kann. Der Zuschauer wird so zum kritischen Betrachter und muss selbst aktiv Entscheidungen treffen. Daher richtet sich im epischen Theater die Spannung auf die Handlung und nicht auf deren Ausgang und die Handlung kann sich durchaus auch nichtlinear bewegen. Vor- und Rückblenden, ein ausgedehnter Zeitraum - mehrere Handlungsebenen: Stilmittel, die im klassischen Drama undenkbar waren, sind im epischen Theater nun möglich. In «Der gute Mensch…» kommt es beispielsweise sogar zu Parallelhandlungen in unterschiedlichen Universen: die Handlung der Götter und die Handlung der Bewohner von Sezuan. Ebenfalls ist es im epischen Theater möglich, dass Szenen (theoretisch) auch im Nachhinein noch komplett anders aneinandergereiht und neu arrangiert werden können oder dass jede Szene (die ja keine solche im herkömmlichen Sinne ist), einzeln und für sich alleine betrachtet wird.
Die Figuren sind oft stereotyp gezeichnet und stehen für die verschiedenen gesellschaftlichen Aspekte und Problematiken. Stereotyp bedeutet bei Brecht immer auch klare Überzeichnung. Im Falle von «Der gute Mensch…» trägt die Protagonistin Shen Te beispielsweise eine für den Zuschauer klar erkennbare Maske.
Im epischen Theater treten die Schauspieler im Idealfall aus ihren Räumen heraus, denn sie sollen die Figur zeigen und nicht nur sein. Eine Identifikation des Publikums mit den Figuren soll so verhindert werden, auch dies widerspricht in jedem Fall diametral der herkömmlichen Auffassung des (klassischen) Theaters. Die Identifikation des Publikums mit dem Geschehen auf der Bühne gelingt Brecht durch den Einsatz weiterer Elemente und Techniken: Beispielsweise indem er die Handlung an einen fernen, möglichst unbekannten Ort verlegt und das Geschehen in einer nicht näher definierten Zeit stattfindet. Durch solche einfachen Stilmittel wird das Stück zur Fabel und schliesslich zur Parabel. Ebenso kommt das Element der Zeitraffung zum Einsatz: In einer Stunde können beispielsweise zehn Jahre dargestellt werden. Während sich im klassischen Drama die Figuren idealerweise entwickeln, lernen die Bühnenfiguren im epischen Theater oftmals nichts (und schon gar nicht aus ihren Fehlern). Durch diese Vielzahl an Möglichkeiten, die das epische Theater bietet, wird der Zuschauer meist in irgendeiner Form zum Handeln aufgefordert - die zentrale Aufgabe des epischen Theaters.
Damit der Unterschied zwischen dramatischem Theater und Brechts epischer Form des Theaters klar wird, hat Brecht selbst ein Schema erstellt - welches in unzähligen Büchern gerne bemüht wird:5
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die vollständige Tabelle (das sogenannte Mahagonny-Schema) enthält 19 Punkte. Das Bild, das Brecht aufgrund dieser Tabelle von seinem eigenen dramatischen Theater zeichnet, sei - so John White im Buch «Bertolt Brecht’s Dramatic Theory» - überaus irreführend und Brechts Bild vom epischen Theater sei verwirrend.6 Er stützt sich dabei auf Aussagen, die Helge Hultberg in seinem Buch «Die Ästhetischen Anschauungen Bertolt Brechts» anstellte. Hultberg stellt weiter fest, dass das „ Mahagonny-Schema “ ein Versuch eines Kompromisses zwischen der alten und der neueren Auffassung, zwischen dem Sporttheater und dem Schultheater (ist), und es ist daher höchst misslich, dass es meist in kürzeren Darstellungen benutzt wird, um zu zeigen, was Brecht mit seinem Theater wollte. 7
Dieses Zitat lässt also die Schlussfolgerung zu, dass sich Brechts Theatertheorie nicht so einfach schematisieren lässt.
2.1 Einflüsse auf Brechts episches Theater
«Der gute Mensch von Sezuan» ist in Brechts späteren Jahren erschienen und reflektiert eindrücklich Brechts Entwicklung im Theaterschaffen. Diese Entwicklung wurde unter anderem auch durch die politische Lage im damaligen Deutschland geprägt: Brechts Berlin war das Berlin der Weimarer Republik, eine Periode der Instabilität nach dem Ersten Weltkrieg, geprägt von der Inflation 1923 und dem Börsencrash 1930, gefolgt von der grossen Depression. Brechts Weimarer Republik waren aber auch die goldenen Zwanziger, das war der Aufbruch, das war der Aufschwung der weltweiten Konjunktur.
[...]
1 Vgl. Knopf, Jan: Brecht- Handbuch: Eine Ästhetik der Widersprüche. Metzler, Stuttgart 1986, S. 12
2 Ebnd.
3 In der Literatur wird als Datum der Zürcher Uraufführung in manchen Werken der 2. Februar 1943 angegeben - eigene Recherchen im Archiv der Neuen Zürcher Zeitung zeigen aber, dass dieses Datum falsch ist. Die Uraufführung fand am 4. Februar statt. Die NZZ schrieb: « Heute Donnerstag, 19 Uhr 30, findet die Uraufführung von Bert Brechts neuestem Stück „ Der gute Mensch von Sezuan “ statt. Regie: Leonhard Steckel; Bühnenbild: Teo Otto » . (NZZ, 04.02.1943, Seite E2). Eine Theaterkritik ist über «Den guten Menschen…» in der NZZ nicht zu lesen, erst «Das Leben des Galileo Galilei» findet in der NZZ grössere Beachtung und wird wohlwohlend- verhalten kritisiert. (NZZ vom 11.09.1943, Seite a5).
4 Thompson, Bruce: Bertolt Brecht „der gute Mensch von Sezuan“, Methuen, Oxon (GB), 2005, S. 5
5 Vgl. White, John: Bertolt Brecht’s Dramatic Theory, Camden House, New York 2004, S. 51
6 Ebenda, S. 52
7 Hultberg, Helge: Die ästhetischen Anschauungen Bertolt Brechts, Munksgraad, Kopenhagen 1962, S. 107 5