Differenzierung und Individualisierung als Kern einer neuen Lernkultur und Basis nachhaltiger Lernprozesse


Master's Thesis, 2013

115 Pages, Grade: gut


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

ABKÜRZUNGEN

Hinweise:

1 Einleitung

2 Das österreichische Bildungssystem
2.1 Geschichte der Sekundarstufe
2.2 Die Hauptschule
2.2.1 Äußere Differenzierung in Form von Leistungsgruppen
2.3 Die Neue Mittelschule
2.3.1 Ziele der Neuen Mittelschule
2.3.2 Organisatorisches Konzept der NMS
2.3.2.1 Bildung von Schwerpunkten in der NMS
2.3.2.2 Lehrplan, Berechtigungen und Abschlüsse
2.3.2.3 Die Rolle des Lerndesigners
2.3.2.4 Probleme für die Rolle des Lerndesigners
2.3.3 Pädagogisches Konzept der NMS
2.3.3.1 Individualisierung und Differenzierung
2.3.3.2 Die Schwerpunkte der NMS- Unterrichtsentwicklung

3. Differenzierung und Individualisierung - eine neue Lernkultur
3.1 Ein neuer Lernbegriff ist notwendig
3.2 Lernen – Versuch einer Definition
3.3 Die Lerntheorien
3.3.1 Behaviorismus
3.3.2 Kognitivismus
3.3.3 Konstruktivismus
3.4 Das neue Lernen – Individualisierung und Differenzierung
3.4.1 Individualisierung
3.4.2 Differenzierung

4. Eine „Gute Schule“ braucht Qualitätsentwicklung
4.1 Der Blick auf die Einzelschule
4.2 Was ist eine gute Schule?
4.2.1 Ergebnisse der Schulqualitätsforschung
4.2.1.1 Schulklima und Schulkultur
4.2.1.2 Schuleffektivitätsforschung
4.2.1.3 Kriterien einer guten Schule
4.2.1 Qualitätsbereiche und Merkmale einer guten Schule – ein Resümee
4.3 Schulprofil, Leitbild und Schulprogramm
4.3.1 Leitbild:
4.3.2 Schulprogramm:
4.3.3 Schulprofil
4.3.4 Zeitpunkt und Implementierungsstrategie
4.4 Qualitätsmanagement
4.4.1 Qualitätssysteme
4.4.1.1 Exkurs: Das St. Galler Management- Konzept
4.4.2 Qualitätsentwicklung in Schulen – der Qualitätskreislauf
4.4.2.1 Bestandsaufnahme – Ziele klären – Prioritäten setzen
4.4.2.2 Planung und Umsetzung von Maßnahmen
4.4.2.3 Evaluation
4.4.2.4 Auswerten – Reflektieren - Nachbessern
4.4.3 Qualitätsmanagement im österreichischen berufsbildenden Schulwesen (QIBB)
4.5 Differenzierung und Individualisierung als konkreter Aufgabenbereich von Qualitätsentwicklung
4.5.1 Handlungsfelder: Organisationsentwicklung (OE), Personalentwicklung (PE), Unterrichtsentwicklung (UE)
4.5.1.1 Organisationsentwicklung:
4.5.1.2 Personalentwicklung:
4.5.1.3 Unterrichtsentwicklung:
4.5.2 Die Rolle der Leitung

5 Guter Unterricht durch Differenzierung und Individualisierung
5.1 Merkmale guten Unterrichts
5.1.1 Meyers zehn Merkmale guten Unterrichts
5.1.2 Guter Unterricht nach Helmke
5.1.3 Das QAIT – Modell von Hartmut Ditton
5.1.4 Hans Haenisch: 16 Merkmale erfolgreichen Unterrichts
5.2 Differenzierung und Individualisierung als Kernaufgabe guten Unterrichts

6 Die Dr.- Karl- Köttl- Schule
6.1 Die Situierung und Geschichte der Schule
6.2 Von den Leistungsgruppen zur Autonomen Schule mit Stammklassen
6.3 Evaluation des Schulversuchs
6.3 Rückmeldungen der Absolventen
6.4 Probleme setzen dem Modell zu

7. Entwicklungsmaßnahmen an der Dr.- Karl- Köttl- Schule
7.1 Die Einführung Neuen Mittelschule (NMS)
7.1.1 Schwierigkeiten bei der Umsetzung und Widerstände im Lehrkörper- ein subjektiver Erfahrungsbericht
7.1.2 Planung und Beschlussfassung neuer Entwicklungsvorhaben hinsichtlich Individualisierung und Differenzierung an der Dr.- Karl- Köttl- Schule
7.2. Entwicklungsmaßnahmen im Fachunterricht
7.2.1. Teamteaching: Assistenzlehrersystem besser nutzen
7.2.2 Überfachliche Kompetenzen – Methodentraining
7.2.3 Feedback und Reflexion
7.2.4 Kooperation und Teamarbeit – schulinternes Methodencurriculum
7.2.5 Am Bedarf orientierte schuleigene Fortbildung
7.2.6 Implementierung
7.2.7 Das Zertifikat „OÖ Schule innovativ“
7.3 Maßnahmen zur Entwicklung überfachlicher Kompetenzen:
7.3.1 Das Lernen lernen
7.3.2 Lesekompetenz fördern: Rotierende Lesestunde
7.3.3 Soziales Lernen
7.3.4 Sichere Schule: Schülerbeteiligung und Schülerparlament
7.3.5 Basiserfahrungen ermöglichen: Biologieunterricht als Naturerlebnis
7.4 Wahlpflichtfächer
7.4.1 Wahlpflichtfächer(WPF) in der siebten Schulstufe
7.4.1.1 Der Wahlvorgang
7.4.1.2 Evaluation der Wahlpflichtfächer der siebten Schulstufe
7.4.2 Wahlpflichtfächer in Modulform in der achten Schulstufe
7.4.2.1 Der Wahlmodus
7.4.2.2 Das Angebot
7.5 Auf dem Weg zu Leitbild und Schulprogramm

8 Fazit

LITERATURVERZEICHNIS

ANHANG

ABBILDUNGEN

Abb. 1: Entwicklung der Schülerströme in der Sekundarstufe I seit 1956/57; Quellen: Österreichische Schulstatistiken; Stockhammer et al. (2001).

Abb. 2: „Haus des Lernens

Abb. 3: Was ist guter Unterricht

Abb. 4: Befragung der Absolventen der HS St. Georgen im Attergau 1

Abb. 5: Befragung der Absolventen der HS St. Georgen im Attergau 2

ABKÜRZUNGEN

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Hinweise:

Aus Vereinfachungsgründen zum Zwecke der besseren Lesbarkeit haben wir uns entschieden, die männliche Form (Lehrer/ Schüler) zu verwenden. Diese Bezeichnung schließt selbstverständlich auch die weibliche Form (Lehrerin/ Schülerin) ein.

Autorenschaft:

Die Kopfzeile auf der jeweiligen Seite informiert über den Verfasser des jeweiligen Kapitels.

1 Einleitung

Herbert Altrichter stellt in seinem Buch „Innenansichten guter Schulen“ die Frage, ob wirklich immer alles anders werden müsse und ob Schulen, an denen es keine Missstände gäbe, nicht einfach so bleiben könnten, wie sie eben seien. Er beantwortet diese Frage auch gleich, indem er sagt: „… wer sich nicht von sich aus entwickelt, steht in Gefahr, durch die Bewegung seines Umfeldes verändert zu werden. Wer Bestehendes erhalten will, kann das nur, indem er es transformiert, indem er durch Entwicklungsmaßnahmen konstruktiv und verstehend auf die Bewegungen seiner Umgebung in einer zukunftsorientierten Strategie antwortet.“ [1]

In der vorliegenden Arbeit geht es um den kontinuierlichen Prozess der Schulentwicklung, um die Notwendigkeit, auf die sich ständig ändernden Bedingungen und Voraussetzungen zu reagieren. Es geht auch um die Frage, wie Differenzierung und Individualisierung als zentraler Kern einer neuen Lernkultur und Basis für nachhaltige Lernprozesse am Beispiel der Dr.-Karl-Köttl-Schule verwirklicht werden können. Wie ist es möglich, Lehr- und Lernformen, die diesen Aspekt betreffen, so in die Praxis einfließen zu lassen, dass nicht nur einzelne Lehrer sondern eine ganze Schule Differenzierung und Individualisierung als wichtiges Anliegen erkennt, entsprechende Strukturen schafft und Lehrer motiviert kontinuierlich ihren Unterricht diesbezüglich zu verbessern.

Zunächst bringen wir einen kurzen Überblick über die Entwicklung des österreichischen Schulsystems, wobei wir den Schwerpunkt auf die letzten 30 Jahre bis zur Einführung der Neuen Mittelschule im Jahr 2008 setzen. Das pädagogische Konzept hinter dieser Entscheidung geht von einer neuen Lernkultur aus, die auch den Umgang mit Differenzen als zentrales Anliegen sieht.

Das Kapitel 3 beschäftigt sich genauer mit dieser neuen Lernkultur und stellt die bekanntesten Lerntheorien vor. Was eine gute Schule ausmacht und welche Ergebnisse die Forschung dazu bereitstellt, das ist das Thema von Kapitel 4. Dabei kommt auch der Bereich Qualitätsmanagement zur Sprache. Ein Zyklus aus Planen, Umsetzen, Evaluieren und Nachbessern soll der ganzen Schule bei der Weiterentwicklung zur lernenden Organisation verhelfen und es werden Implementierungsstrategien zu Leitbild und Schulprogramm vorgestellt. Der Leitung der Schule kommt bei diesen Prozessen eine zentrale Rolle zu.

Dass Unterrichtsentwicklung ein zentrales Anliegen von Schulentwicklung sein muss, soll im 4. Kapitel nachgewiesen werden, in dem untersucht wird, woran man guten Unterricht erkennen kann und welche Rolle Individualisierung und Differenzierung dabei spielen.

In den letzten Kapiteln der vorliegenden Arbeit steht die Dr.-Karl-Köttl-Schule im Zentrum; ihr Werdegang wird dokumentiert bis hin zur Implementierung der Neuen Mittelschule. Vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse und der organisationsspezifischen Verhältnisse vor Ort gehen wir schließlich der Frage nach, in welcher Weise diese spezielle Schule weiterentwickelt werden kann. Unser besonderes Anliegen ist dabei die Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts durch unterschiedliche Maßnahmen. Sie betreffen sowohl die Verbesserung und Professionalisierung bestehender Ansätze als auch Vorschläge der Autoren für neue Maßnahmen, die kurz vor der Realisierung stehen sowie Visionen für die Zukunft.

2 Das österreichische Bildungssystem

Das österreichische Bildungssystem ähnelt sehr stark jenem in der Schweiz und in Deutschland. In der vorliegenden Arbeit wollen sich die Verfasser auf die Sekundarstufe I, also auf die 10 – 14-Jährigen, beschränken.

2.1 Geschichte der Sekundarstufe I

Die Geschichte der Sekundarstufe I in Österreich ist eine Geschichte der äußeren Differenzierung. Das Bildungssystem in Österreich, Deutschland und in Teilen der Schweiz sieht eine Aufteilung der Schüler in verschiedene Schultypen eines mehrgliedrigen Schulsystems vor, sobald diese ein Alter von 10 Jahren erreicht haben. Trotz mehrmaliger Anläufe eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen einzuführen, scheiterten diese Versuche, meistens aus parteipolitischen Gründen.

Die ersten Ansätze finden sich bereits in den Jahren 1922-1926, während der Amtszeit von Otto Glöckel als Unterstaatssekretär für Kultus und Unterricht, in Form eines Schulversuchs unter dem Namen “Allgemeine Mittelschule”. Das damals angedachte Schulsystem gliederte sich in eine für alle Schüler einheitliche Volksschule und eine anschließende Separierung in einen 1. Klassenzug für Höherbegabte und einen 2. Klassenzug für Schüler unter dem Mittelmaß. Dieser Schulversuch konnte sich jedoch nicht behaupten. 1927 wurde das Hauptschulgesetz erlassen, welches vorsah, dass alle Schultypen der Mittelschule – mit Ausnahme des Gymnasiums – mit der Hauptschule, die sich wieder in zwei Klassenzüge teilte, zusammengelegt werden sollten. Weitere Anläufe, eine Gesamtschule einzuführen, gab es im Jahr 1971, als im Rahmen der 4. SchOG Novelle Schulversuche mit Gesamtschulcharakter ermöglicht wurden.[2]

Keiner dieser Versuche glückte jedoch. Wie der Name Gesamtschule schon vermuten lässt, sollte es sich um eine Schule für alle 10 – 14-jährigen Schüler handeln. Gibt es daneben aber noch Hauptschule und Gymnasium, so besteht nicht, wie im Konzept einer Gesamtschule vorgesehen, ein eingliedriges, sondern ein dreigliedriges Schulsystem (in Deutschland durch die Realschule sogar viergliedrig!), was den Gedanken einer Gesamtschule per se ad absurdum führt. Es tritt besonders im städtischen Bereich, wo Gymnasien für alle Schüler leicht erreichbar sind, der sogenannte „Creaming Effekt”[3] ein. Gymnasien „sahnen” die leistungsfähigsten Schüler ab. Während in ländlichen Gebieten, wo Gymnasien oft verkehrstechnisch schwer erreichbar sind, Hauptschulen sehr gut funktionieren, verkommen diese im städtischen Bereich immer mehr zu Restschulen.

Die Entwicklungsgeschichte der Wiener Hauptschule weist Ähnlichkeit mit jener der Deutschen Hauptschule auf. In der Konkurrenz zur Allgemeinbildenden Höheren Schule (AHS) entscheiden sich nach wie vor immer mehr Eltern gegen die von den genannten negativen Effekten betroffene Hauptschule (HS). Die Verteilung der Schüler in der Sekundarstufe I verläuft dementsprechend entlang der sozialen Herkunft der Kinder.[4] Wo es möglich ist, wird die Hauptschule vermieden. Waren es in Wien im Jahre 1982 noch 53 % der Schüler eines Jahrgangs, die die Hauptschule besuchten, so fiel dieser Prozentsatz bis ins Jahr 1998 auf 33 %. Die Übergangsquote zur AHS betrug damit satte 67%. Der Trend setzt sich bis heute fort und ist in allen größeren Städten gleich. Die AHS-Unterstufe im städtischen Bereich mutierte somit zur Gesamtschule.[5]

Der Effekt dieser Zweigliedrigkeit ist soziale Segregation. Kindern, besonders solchen mit Migrationshintergrund, werden Bildungschancen genommen. Sie bilden das Potential der Risikoschüler ohne Schulabschluss und Perspektive am Arbeitsmarkt.

Zahlreiche internationale Studien belegen die sozialen, pädagogischen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten dieses Systems. Nicht zuletzt haben die schlechten Ergebnisse der letzten PISA – Testungen eine breite Diskussion über die Schulqualität, besonders in Österreich, ausgelöst. Obwohl die OECD immer wieder zur Gesamtschule rät, weigern sich konservative Teile der Bundesregierung strikt, diese in Österreich einzuführen.[6]

K. H. Gruber hat die Problematik des Schulbereichs der 10 -14 -Jährigen mit folgender Aussage auf den Punkt gebracht:

„Die österreichische Verdrängungsgesellschaft bringt es fertig, die massiven internationalen wie österreichischen Forschungsbefunde zur psychosometrischen Unverlässlichkeit, sozialen Unfairness und bildungstheoretischen Unhaltbarkeit der frühen schulischen Auslese, die eineinhalb Jahrzehnte lang aufwendig betriebenen österreichischen Schulversuche, deren Ergebnisse durchwegs für die Integration der Sekundarstufe I gesprochen haben und über jeden Verdacht der schulversuchsfreundlichen Manipulation erhaben waren, den seit dem Zweiten Weltkrieg europaweiten Trend zur Integration der nebeneinander bestehenden Sekundarschulen und die Hinausschiebung von schulorganisatorischer Differenzierung bis ans Ende der Schulpflicht nach wie vor nicht zur Kenntnis zu nehmen.”[7]

Nach dem gegliederten österreichischen Schulsystem sollte nach Beendigung der Volksschule die Wahl des Schultyps sich am bisherigem Schulerfolg und der Begabung orientieren. Je nach Zeugnisabschluss werden Hauptschule oder Gymnasium gewählt. Dass dabei Schüler aus bildungsfernen Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund stark benachteiligt sind, belegen unter anderem zahlreiche Untersuchungen der OECD, der Bildungsbericht der Zukunftskommission aus dem Jahre 2005[8] und nicht zuletzt die ganz aktuelle Überprüfung über Bildungsstandards in Mathematik aus dem Jahre 2012[9].

In Deutschland sind die Probleme ähnlich gelagert: Die Gründe für die politische Verweigerung sind hauptsächlich in einem geschichtsbelasteten Standesdenken zu suchen.[10] Eltern aus höheren Schichten schicken ihre Kinder in Gymnasien. In die Gesamtschule werden diese Kinder nur geschickt, wenn sie als Problemkinder gelten, für die alternative Unterrichtsmethoden vielleicht als letzter Ausweg scheinen.[11] Rolff schildert dieses Problem aus deutscher Sicht und spricht in diesem Zusammenhang von der Gesamtschule als „gefesselten pädagogischen Riesen”.[12]

Dass das Thema der Gesamtschule eines ist, das ständig wiederkehrt, wird auch im Kapitel über die Neue Mittelschule klar.

2.2 Die Hauptschule

Das Hauptschulgesetz aus dem Jahre 1927 sah, wie in Kapitel 2.1 berichtet, eine Trennung der Schüler in einen ersten und zweiten Klassenzug vor. Den Schülern des zweiten Klassenzugs war im Alter von zehn Jahren ihr Bildungsweg mehr oder minder vorgezeichnet: Da die Ausbildung auf minderem Niveau stattfinden sollte und den Schülern des zweiten Klassenzugs vor allem die im ersten Klassenzug unterrichtete Fremdsprache (Englisch) vorenthalten wurde, war ein Umstieg in eine weiterführende Schule so gut wie unmöglich.

Diese Form der Segregation wurde, ungeachtet der Tatsache, dass die meisten europäischen Staaten zu dieser Zeit schon gesamtschulartige Organisationsformen eingeführt hatten, auch nach der Beschlussfassung des Schulorganisationsgesetzes 1962, beibehalten. Es wurde lediglich die Möglichkeit zur Erprobung von Schulversuchen geschaffen. Diese waren unter anderem:

- Additive Gesamtschule - Bildung von Schulverbünden der AHS und der Hauptschule (mit I. und II. Klassenzug): Es wurden drei nebeneinander laufende Klassenzüge geschaffen, die zu jedem Jahresquartal die Möglichkeit einer Umstufung vorsahen.

- Integrierte Gesamtschule: Aufhebung der AHS und HS- Zuteilung der Schüler. Schüler wurden in den Realien in heterogenen Stammklassen geführt, in den Gegenständen Deutsch, Englisch und Mathematik erfolgte eine Zuteilung in Leistungsgruppen.

Zahlreiche Evaluierungen hinsichtlich Repetentenquoten, Lernerfolgsvergleichen, Lernmotivation und sozialer Zufriedenheit der Schüler bestätigten die Sinnhaftigkeit dieser Schulversuche[13].

Die Ergebnisse dieser Evaluationen konnten die bildungspolitischen Positionen der Regierungsparteien ÖVP und SPÖ jedoch nicht verändern. Während die Sozialdemokraten (SPÖ) nun auf eine Einführung einer Gesamtschule der 10 -14 -Jährigen drängten, bestand die konservative Volkspartei (ÖVP) auf eine Beibehaltung des dualen Systems und damit auf eine Aufrechterhaltung von Gymnasium und Hauptschule. Da zu dieser Zeit noch eine Zweidrittelmehrheit für die Beschlussfassung über schulorganisationsgesetzliche Regelungen im Parlament notwendig war, kam es, wie so oft in Österreich, zu einer Kompromisslösung.

In der 7. SchOG- Novelle 1982 [14] wurde beschlossen:

- Die Reform der Sekundarstufe I bezieht sich ausschließlich auf die Hauptschule.
- Der Unterricht ist in den Realien in heterogenen Stammklassen mit den Möglichkeiten der inneren Differenzierung zu führen.
- In den Fächern Deutsch, Mathematik und der ersten lebenden Fremdsprache (Englisch) sind die Schüler mittels äußerer Differenzierung in drei Leistungsgruppen zu führen.

Dies stellte gegenüber der in zwei Klassenzügen geführten Hauptschule auf Grund der Beseitigung des “Sackgassencharakters” immerhin einen Fortschritt dar. Allerdings setzte sich die Österreichisch Volkspartei in der Regierung mit der Beibehaltung der AHS gegenüber den regierenden Sozialdemokraten durch. Kritische Stimmen behaupteten schon zu diesem Zeitpunkt, dass diese Kompromisslösung keinen wirklichen Fortschritt in der Entwicklung des österreichischen Schulsystems darstelle.[15]

Repräsentative Evaluationen einer langen Phase von Schulversuchen zeigten deutliche Vorteile von integrativen Gesamtschulen[16] gegenüber einem Schulsystem der äußeren Differenzierung auf. Wider besseres Wissen wurden diese Ergebnisse lange unter Verschluss gehalten. Im Jahre 1981 wurde in Hauptschulen das System der Leistungsgruppen eingeführt. Diese Regelung ermöglichte es, die bestehende AHS zu erhalten.[17]

2.2.1 Äußere Differenzierung in Form von Leistungsgruppen

In § 3 des Schulorganisationsgesetzes (SchOG) wurde geregelt, dass Schüler nicht nur in Alters- und Reifestufen, sondern auch nach verschiedenen Begabungen und hinsichtlich ihrer Berufsziele zu differenzieren seien. [18] Schüler in der AHS und in den drei Leistungsgruppen der Gegenstände Deutsch, Englisch und Mathematik sollten demnach inhaltlich dasselbe Lernanagebot erhalten, das sich jedoch im Hinblick auf das Niveau des vermittelten Lernstoffes unterscheiden sollte. Die Anforderungen der ersten Leistungsgruppe sollten denen der AHS entsprechen und eine vertiefte und selbstständigere Auseinandersetzung mit den Bildungsinhalten ermöglichen. Die Inhalte der zweiten Leistungsgruppe zielten auf die Erarbeitung und Festigung grundlegender Fähigkeiten und Fertigkeiten ab. Die dritten Leistungsgruppen beschränkten sich auf Fähigkeiten und Fertigkeiten in einfacher und erleichterter Form.

Damit würde, nach Meinung des Gesetzgebers, das Prinzip der Durchlässigkeit gegeben sein, das den Schülern ermöglichte, entweder in die nächsthöhere Leistungsgruppe aufzusteigen, oder auch von der HS in die AHS zu wechseln. Den einzigen Unterschied zwischen den Lehrplänen der AHS und HS stellte die zusätzlich festgelegte und oben dargelegte Differenzierungsstrategie in den Hauptschulen dar. In allen anderen Punkten waren die Lehrpläne beider Schultypen ident.

Die Umstufungen in den Leistungsgruppen sollten ein- bis dreimal pro Jahr erfolgen. Die Praxis zeigte:

- Die Wahrscheinlichkeit, abgestuft zu werden war um ein Vielfaches größer, als die Chance, in die nächsthöhere Leistungsgruppe aufzusteigen.
- Ein inhaltlich geringeres Lernangebot in den unteren Leistungsgruppen reduzierte grundsätzlich die Durchlässigkeit des Systems.
- Die negativen Etikettierungen der dritten Leistungsgruppe hatten determinierende Wirkung auf die schulischen Leistungen.
- Der Schereneffekt und der dadurch entstehende Leistungsunterschied zwischen den Leistungsgruppen wurde immer deutlicher.
- Weniger die Begabung, als mehr die Anstrengung waren die Garanten für schulischen Erfolg.
- Der Leistungsdruck in den ersten Leistungsgruppen war enorm[19].

Dazu kamen die Ergebnisse aus soziometrischen Untersuchungen, die auf die Entwicklung der sozialen Beziehungen der 10 -14 -Jährigen abzielten. Die Hauptfrage war, inwieweit sich die Leistungsgruppenzugehörigkeit auf die Freundschafts-beziehungen der Schüler auswirkte.

F. Eder zitiert Rothschedl, der 1987 – 1994 soziometrische Analysen an insgesamt ca. 4100 Schülern der HS aus allen Leistungsgruppen durchführte, um die Entwicklung der sozialen Beziehungen zwischen den drei Leistungsgruppen zu erfassen.[20] Die Ergebnisse zeigten:

- Soziale Interaktionen wurden von der Zugehörigkeit zur Leistungsgruppe gesteuert.
- Je niedriger der Leistungsgruppenstatus, desto höher war die Ablehnung der Mitschüler.
- Schüler der ersten Leistungsgruppe wollten unter sich bleiben.
Intelligenz- und Konzentrationstests, die ebenfalls bei dieser Untersuchung durchgeführt wurden, ergaben, dass die Leistungsgruppenzuteilung der Schüler oft nicht deren Intelligenz- oder Konzentrationsniveau entsprach.
Eder stützte sich weiters auf eine Untersuchung von Grogger und auf die ausgewerteten Daten der PISA und TIMSS- Testung und kam zu folgenden Ergebnissen:
- Die Förderung durch eine Aufteilung in Leistungsgruppen führt nicht zu einer Annäherung der Leistungen zwischen den einzelnen Leistungsgruppen.
- Es kann auf Grund der Ergebnisse allenfalls eine Förderung der ersten Leistungsgruppe angenommen werden, die zweite und die dritte Leistungsgruppe werden hinsichtlich des Aspekts der Lernförderung stark benachteiligt.
- Die Zugehörigkeit zur 2. oder 3. Leistungsgruppe bedeutet damit mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Beeinträchtigung des fachlichen Lernens.
- In den naturwissenschaftlichen Fächern, die in innerer Differenzierung unterrichtet werden, drehen sich diese Ergebnisse um.[21]

Er kommt damit zu dem Schluss:

„Die verschiedenen Zugänge zur Frage der Lernförderung haben somit keinen Hinweis erbracht, dass die Leistungsgruppenorganisation der Hauptschule generell förderlich ist. Allenfalls finden sich Hinweise, dass die Schüler/innen der 1. Leistungsgruppe keinen Nachteil haben und insgesamt für vergleichbare Leistungen bessere Noten erhalten. Die Zugehörigkeit zur 2. oder 3. LG bedeutet hingegen mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Beeinträchtigung des fachlichen Lernens und eine deutliche Benachteiligung im Hinblick auf die weitere Laufbahn.”[22]

Da aus diesen Daten keine Förderwirkung des Leistungsgruppensystems ersichtlich ist, ist die Führung von Leistungsgruppen nicht zu rechtfertigen.

Die Folge der Reformen der 7. SchOG- Novelle 1982 führten in den 80-er und 90-er Jahren in mehreren Teilen Österreichs zur Erprobung von Schulversuchen. In städtischen Ballungsräumen konnte der Abgang der Schülerströme in Richtung AHS jedoch nicht eingedämmt werden. Das Gegenteil war der Fall, wie folgende Abbildung belegt.[23]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Entwicklung der Schülerströme in der Sekundarstufe I seit 1956/57; Quellen: Österreichische Schulstatistiken; Stockhammer et al. (2001).[24]

Während die AHS einen stetigen Zuwachs verzeichnen konnte, verlor die HS auf Grund sinkender Akzeptanz der Schulform und eines großen Geburtenrückgangs immer mehr an Schülern. Hauptschulen in ländlichen Gebieten kämpfen auch heute noch mit rückgängigen Schülerzahlen. Städtische Hauptschulen verkommen zudem, insbesondere in Wien, immer mehr zu Restschulen (die Darstellung rechts zeigt die Gesamtanzahl der Schüler getrennt nach Bundesländern und Wien).

Kleiner Exkurs - eine erste Stellungnahme:

Die evaluierten Ergebnisse der Leistungsgruppenschule ließen bisher folgende Punkte unerwähnt: Äußere Differenzierung bedeutet für den Lehrer in den meisten Fällen einen Unterricht mit einer nur scheinbar homogenen Schülerpopulation. Es wird nicht selten über einen Kamm geschoren, in der Meinung, eine Gruppe von Schülern mit gleichen geistigen und kapazitiven Voraussetzungen und gleichem Leistungspotential zu unterrichten. Fallen einzelne Schüler dabei gegenüber den anderen in Bezug auf ihre Leistung ab, gilt oft die Meinung, sie wären für die gewählte Leistungsgruppe nicht leistungsfähig genug bzw. zu faul. Sind Schüler dahingegen mit dem Unterricht unterfordert, zeigen sich oft Verhaltensauffälligkeiten als Folge. Eine derartige Gleichschaltung von Kindern ist pädagogischer Unsinn. Da jedes Kind anders ist, ist es auch notwendig, auf die Bedürfnisse, Wünsche, Begabungen, Talente, Schwächen, kurz, auf die Person des Kindes einzugehen. Äußere Differenzierung bedeutet für Kinder, die aus einer Leistungsgruppe aussortiert werden, dass sie dort unerwünscht sind. Die dadurch empfundene Ablehnung führt zu einer Verminderung des Selbstwertgefühls. Die Abkapselung in den ersten Gruppen bewirkt dahingegen oft ein Elitedenken und Kindern, insbesondere in der dritten Leistungsgruppe, fehlen die positiven Vorbilder. Auf den einzelnen Schüler einzugehen, bedeutet demgegenüber in jedem Kind Stärken zu sehen und Beziehungen zu schaffen. Solch eine Personalisierung des Unterrichts erfordert neben einer breiten Methodenpalette vor allem soziale Intelligenz und Empathie des Lehrers. Eine intensive Auseinandersetzung mit den Grundlagen der verschiedenen Lerntheorien ist unumgänglich, um zu verstehen, wie Lernen funktionieren könnte. Differenzierung und Individualisierung sind die Kernthemen eines modernen und schülergerechten Unterrichts. Diesen Themen werden die Autoren in den folgenden Kapiteln näher ausführen.

Schulversuch am Standort St. Georgen im Attergau

Im Jahr 1992 führte die Hauptschule St. Georgen im Attergau den Schulversuch “Autonome Schule mit Stammklassen” ein und orientierte sich dabei auch am Vorbild zahlreicher anderer österreichischer Schulen, die einen Unterricht in Leistungsgruppen ablehnten.

Der Schulversuch stellte, wie andere Versuche besonders im städtischen Raum (Schulverbünde in der Steiermark, Kooperative Mittelschule in Wien), eine Vorwegnahme der Neuen Mittelschule dar, die fast zwanzig Jahre später, im Schuljahr 2008 vom Bundesministerium (bm:ukk) flächendeckend in ganz Österreich als Schulversuch eingeführt und mit dem Schuljahr 2012/ 2013 ins Regelschulwesen übernommen wurde.

Der Schulversuch einer „Humanen Schule” in St. Georgen im Attergau und seine Weiterentwicklung werden als Thema dieser Arbeit in späteren Kapiteln noch ausführlich besprochen.

2.3 Die Neue Mittelschule

Im Jänner 2007 wurde Claudia Schmied als Bildungsministerin der SPÖ-geführten Regierung unter Alfred Gusenbauer angelobt. Unter ihren Agenden wurde offensiv eine Schulreform in Angriff genommen, deren Ziel die Einführung einer gemeinsamen Schule der 10 - 14-Jährigen ist. Unterstützung erhielt sie dabei von einer „ExpertInnenkommission”, die die strategische Ausrichtung der neuen Schule erarbeiten sollte.

Schon unter ihrer Vorgängerin, Bildungsministerin Elisabeth Gehrer, wurde, als Reaktion auf die schlechten PISA- Ergebnisse aus den Jahren 2000 und 2003, eine „Zukunftskommission” eingerichtet, die, kurz zusammengefasst, folgende Empfehlungen für die Schulentwicklung abgab: (Diese Ergebnisse werden hier angeführt, weil sie in wesentlichen Punkten auch von den Nachfolgern im Ministerium übernommen wurden.)

- Die Ergebnisse von PISA 2003 bestärken die Notwendigkeit einer Veränderung im österreichischen Schulsystem.
- Sorge bereiten dabei vor allem die ansteigende Anzahl an Risikoschülern, die Sicherung der nachhaltigen Kompetenzen der Schüler, ein niedriges Interesse an Naturwissenschaften und Mathematik und die niedrige Leistungsfähigkeit der Schüler allgemein.
- Oberste Priorität muss dabei die Verbesserung des Unterrichts als Herzstück der Schulentwicklung haben.
- Diese Unterrichtsentwicklung muss einhergehen mit Schulentwicklung, Qualitätssicherung und Fortbildung der Lehrer.[25]
Zur Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen bei der Entwicklung des österreichischen Schulsystems gibt die Zukunftskommission folgende Expertise ab:
- Integrative Schulsysteme gewähren eine Durchlässigkeit der Bildungsgänge.
- Ein Verzicht auf frühzeitige Zuweisung der Schüler in Form von äußerer Differenzierung und ein gemeinsamer Unterricht aller Schüler bis zu einem Alter von vierzehn Jahren wirken sozial ausgleichend.
- Schwächere Schüler werden in heterogenen Gruppen besser gefördert.
- Heterogene Gruppen üben Druck auf die Veränderung des Unterrichts aus.
- Das Einzelkämpfertum der Lehrer kann durch die Notwendigkeit von Teamarbeit besser überwunden werden. Unterschiedliche Lernvoraus-setzungen bei Schülern erfordern die Arbeit im Team und die Kooperation zwischen Lehrkräften, um sich mit unterschiedlichen Kompetenzen die Verantwortung und die Arbeit zu teilen.[26]
Gesamtschulen funktionieren nur dann:
- wenn sie Regelcharakter haben und
- wenn sie eher flexible und horizontale, als starre vertikale Leistungs-differenzierung praktizieren.[27]

Auf Grund des gegliederten Schulsystems sind viele Lehrer in Österreich der Ansicht, homogene Gruppen zu unterrichten, zu diesem Eindruck kommt man bei Diskussionen auf Fortbildungsveranstaltungen oder nach Vorträgen. Deshalb müssen die Autoren von der Annahme ausgehen, dass viele Lehrpersonen keine Notwendigkeit sehen, sich um Methoden für den Umgang mit heterogenen Gruppen zu bemühen. Außerdem herrscht bei vielen Lehrpersonen noch immer die Annahme, homogene Gruppen seien leichter zu unterrichten. Das erklärt nach Einschätzung der Autoren einen Teil der Ablehnung einer gemeinsamen Schule der 10 - 14-Jährigen.

Die Lehrer an den Pflichtschulen und die Lehrer der AHS haben unterschiedliche Ausbildungssysteme und ein unterschiedliches Dienstrecht (auch verschiedene Besoldung). Eine Verbesserung der Lage könnte nur eine flächendeckende Vereinheitlichung von Ausbildung und Dienstrecht darstellen. Das Fazit der Zukunftskommission lautet folglich: „Angesichts der erwähnten historisch-kulturellen Voraussetzungen erscheint eine so weitgehende Umgestaltung jedoch derzeit ohne realistische Durchsetzungschance”.[28]

Nachdem dieser Bericht der Zukunftskommission unter Bildungsministerin Gehrer lange unter Verschluss gehalten wurde, griff die ExpertInnenkommission unter der neuen Führung der Sozialdemokratin Claudia Schmied viele Reformvorschläge auf und versuchte diese bis zum heutigen Zeitpunkt nach und nach in die Praxis umzusetzen. Eine wichtige Empfehlung der Zukunftskommission, nämlich die Gesamtschule nicht neben dem bestehenden dualen Schulsystem einzuführen, wurde nicht befolgt.

So startete die Neue Mittelschule im Schuljahr 2008/2009, in 5 Bundesländern mit 67 Standorten, als Schulversuch neben den bestehenden Gymnasien.

Im Schuljahr 2009/2010 wuchs die Anzahl der Schulen, die an dem Schulversuch teilnahmen, bundesweit auf 244 Standorte. Was als Schulversuch begann, wurde überraschend früh, nämlich im Jahr 2012 verpflichtend: Alle Hauptschulen müssen ihr System bis zum Schuljahr 2015/ 2016 auf die Neue Mittelschule umstellen.[29] Im Schuljahr 2018/ 2019 wird damit mit der letzten Hauptschulklasse diese Schulform der Vergangenheit angehören.

Die Neue Mittelschule verfolgt als Modellversuch ein europaweit erfolgreiches Schulprinzip: Eine pädagogische und organisatorische Neugestaltung des gemeinsamen Lernens der 10- bis 14- Jährigen. Durch den Modellversuch Neue Mittelschule wird eine neue gemeinsame Schule geschaffen, die allen Schülern nach der 4. Klasse Volksschule offen steht.

2.3.1 Ziele der Neuen Mittelschule

Die Neue Mittelschule ist eine Schule für alle 10 - 14-Jährigen. Sie bietet eine breite Palette von Lernangeboten und soll ein gemeinsames Lernen aller Schüler dieser Altersstufen ermöglichen. Dies soll unter dem Aspekt der Differenzierung und Individualisierung geschehen.

Die Neue Mittelschule bekennt sich zu Leistung und Förderung. Förderung bedeutet Unterstützung, um Lerninhalte im eigenen Lerntempo erfassen zu können. Das soll mit ausreichender Hilfe durch Pädagogen geschehen, die, unterstützt durch zusätzlich zur Verfügung gestellte Ressourcen, individuell auf den Schüler eingehen können. Leistung heißt, die bestmögliche Erkennung und Förderung von Talenten und Begabungen. Die Kinder müssen sich nicht im Alter von zehn Jahren für einen Schultyp entscheiden und haben somit mehr Zeit ohne Druck ihre Talente und Begabungen zu entdecken.[30]

2.3.2 Organisatorisches Konzept der NMS

Die Aufnahmebedingung in die NMS ist ein positiver Abschluss der vierten Klasse Volksschule. Die Schüler werden in heterogene Klassen aufgeteilt, die Klassenschülerhöchstzahl beträgt 25 Schüler.

Die Schüler sollen in den sogenannten Hauptgegenständen Deutsch, erste lebende Fremdsprache (vorwiegend Englisch) und Mathematik von meistens zwei Lehrern (Teamteaching) unterrichtet werden. Für jede Klasse und jedes Hauptfach werden dazu je sechs Stundeneinheiten (Lehrerstunden) zusätzlich zur Verfügung gestellt. Gewünscht ist eine Kooperation mit einer Allgemeinbildenden Höheren Schule oder mit einer Berufsbildenden Höheren Schule. Lehrer dieser Schulen sollten, je nach der standortbezogenen Anforderung der NMS, gemeinsam mit den Pflichtschullehrern unterrichten. In den Versuchsjahren 2008 und 2009 war die Besetzung der zusätzlichen Ressourcen durch AHS- oder BHS- Lehrer noch Pflicht. Mittlerweile hat sich diese Verordnung gelockert. Grund dafür ist, dass die AHS-Lehrer auf Grund zahlreicher Pensionierungen an ihren Stammschulen benötigt werden. Zudem sind zum jetzigen Zeitpunkt, da der Schulversuch im Jahr 2012 ins Regelschulsystem übergeführt wurde, bereits 698 Schulstandorte[31] von Hauptschulen in Neue Mittelschulen umgewandelt worden. Damit wären rein rechnerisch die Personalressourcen aus dem AHS- und BHS- Bereich bereits ausgeschöpft. Dennoch werden nach wie vor von Bundesministerin Schmied auch AHS- Standorte eingeladen, sich am Projekt Neue Mittelschule zu beteiligen. Dies würde eine Öffnung des starren dualen Systems mit sich bringen. Es haben bis dato jedoch nur sehr wenige AHS-Standorte von diesem Angebot Gebrauch gemacht.

2.3.2.1 Bildung von Schwerpunkten in der NMS

Schulen können ihre Stundentafel nach eigenen Interessen und Schwerpunkten gestalten. Es gibt lediglich ein Mindestmaß von Pflichtstunden, das in den verschiedenen Pflichtgegenständen nicht unterschritten werden darf. So kann sich jede Schule für einen musischen, technischen oder sportlichen Schwerpunkt entscheiden. Besonders für solche Schwerpunktschulen ist eine Kooperation mit einer BHS von großem Vorteil. Da die an der Universität ausgebildeten Lehrer in ihren Disziplinen große Fachkompetenzen mitbringen, sind sie für diese Schwerpunktschulen meist eine große Bereicherung.

2.3.2.2 Lehrplan, Berechtigungen und Abschlüsse

Unterrichtet werden die Schüler nach dem Lehrplan der AHS. Bis zur 6. Schulstufe werden alle Schüler nach dem sogenannten vertieften Bereich unterrichtet. Es bekommen also, wie in der Volksschule, alle Schüler das gleiche Lernangebot. Negative Abschlüsse und Klassenwiederholungen sollten dabei vermieden werden und alle Schüler in diesen ersten zwei Jahren im Klassenverband bleiben.

Mängel und Schwächen von Schülern werden durch gezielte Fördermaßnahmen und Förderpläne abgefedert. Ab der siebten Schulstufe können Schüler, um einer möglichen Überforderung entgegenzuwirken, im heterogenen Klassenverband in die sogenannte “Grundlegende Allgemeinbildung” abgestuft werden, um dieses Wort als Andenken an die Leistungsgruppen noch einmal zu verwenden. Beendet ein Schüler die vierte Klasse der NMS mit dem Vermerk einer „vertieften Allgemeinbildung” in den Gegenständen Deutsch, erste lebende Fremdsprache und Mathematik, so berechtigt ihn dies in eine weiterführende Schule mit Matura zu wechseln, sein Zeugnis ist dabei dem der der AHS gleichgestellt. Ist dieser Schüler in einem Gegenstand nach der „grundlegenden Allgemeinbildung” beurteilt worden, so entscheidet die Klassenkonferenz oder eine Prüfung über die Aufnahme an der betreffenden Schule.

Für einen Unterricht des Förderns und Forderns in einem heterogenen Klassenverband ist es natürlich notwendig, dass die betreffenden Lehrer ihren Unterricht und ihre Denkweise an diese neue Philosophie anpassen. Es sollte nicht passieren, dass lediglich ein neues Türschild für die Neue Mittelschule angebracht wird. Um diese neue Denkweise in den Schulen zu implementieren hat man sich seitens der Projektgruppe für die Entwicklung der NMS dazu entschlossen, sogenannte „Lerndesigner” in bundesweiten Lernateliers auszubilden. Diese sollten als Multiplikatoren an der eigenen Standortschule eine neue Philosophie des Unterrichts und des Lernens verbreiten.

2.3.2.3 Die Rolle des Lerndesigners

Die Funktion des Lerndesigners wurde im Rahmen der NMS neu eingeführt. Es bestehen, auf Grund der Neuartigkeit dieses Amtes, keine wissenschaftlichen Abhandlungen über dieses Thema. Die Autoren beziehen sich deshalb im folgenden Kapitel auf Vorträge im Rahmen der NMS – Entwicklungsbegleitung.

Christoph Hofbauer, ein NMS – Entwicklungsbegleiter, beschreibt die Rolle des Lerndesigners im Rahmen eines Symposiums in Schlierbach (Oberösterreich) folgendermaßen:[32]

Lerndesigner haben drei Rollen zu erfüllen:

- Sie arbeiten „im System“ – als Kollegen. Sie sind als Lernende Mitglied eines Kollegiums und bringen neue Ideen in die Schule mit, probieren Neues aus und reflektieren darüber.
- Sie arbeiten „am System“ und tragen Mitverantwortung an der Entwicklung der Schule in den Bereichen Lehren und Lernen. Dies heißt auch im Zentrum der Schulentwicklung zu stehen und erfordert „shared leadership“ im Sinne von Demokratisierung und Professionalisierung.

„Shared leadership“ bedeutet eine neue Sicht auf die Arbeit des Schulleiters. Arnold definiert das Prinzip der „geteilten Führung“ als eine Führung zur Selbstführung. „Betroffene“ werden dabei zu „Beteiligten“ gemacht, indem man ihnen Führungsaufgaben abtritt, die Führung gewissermaßen teilt. Die Leitung folgt dabei dem Subsidiaritätsprinzip und greift nur dort ein, wo die Eigenkräfte des Teams nicht ausreichen. Dies stellt hohe Anforderungen an die Sensibilität, Empathie, soziale Intelligenz und Kommunikationsfähigkeit der Führungspersönlichkeit. Wichtige Voraussetzungen für shared leadership sind auch der wertschätzende Umgang im Lehrkörper, reflexives, fehlertolerantes Arbeiten der Beteiligten und ein angenehmes Schulklima.[33]

Arnold schreibt weiter: „Moderne Führung erhält somit in lernenden Organisationen die Aufgabe, für die Moderation der Selbstorganisation zuständig zu sein. Grundlage für ein in diesem Sinne sensibles prozess- sowie entwicklungsförderliches Führen ist zunächst ein Abschied von der Illusion der Machbarkeit und Allzuständigkeit.“[34]

- Moderne Schulleiter arbeiten im Team als Mitglied und Moderator. Diese Teamarbeit kann Entwicklung fördern, wenn mit positiver Energie, hohem Commitement an gemeinsam ausgewählten Aufgaben gearbeitet wird.

2.3.2.4 Probleme für die Rolle des Lerndesigners

Der Verfasser dieses Kapitels besuchte selbst zahlreiche bundesweite Lernateliers und bekleidet dieses Amt seit Einführung der NMS an der Dr.-Karl-Köttl-Schule in St. Georgen im Attergau. Der folgende Abschnitt bezieht sich deshalb auf subjektive Praxiserfahrungen, auf Gespräche und Diskussionen, die mit Lerndesignern anderer Schulen geführt wurden.

Lerndesigner verfügen weder über Weisungsbefugnisse, noch sind sie als Amt in der Schulhierarchie deklariert. Sie sind einzig und allein auf die unbedingte Unterstützung des Schulleiters und auf die wohlwollende Akzeptanz der Kollegen angewiesen. Dieser Umstand bringt schwerwiegende Probleme mit sich:

- Schulentwicklungsmaßnahmen voranzutreiben bedeutet immer die Gefahr, in Schulleitungskompetenzen einzugreifen. Die Erfahrung vieler Lerndesigner zeigt, dass die Kommunikation zwischen Lerndesigner und Schulleiter selten perfekt funktioniert. Oft fehlt die Rücksprache und die Rückenstärkung seitens der Schulleitung, der Lerndesigner nimmt eine Art „Sandwichposition“ zwischen Leitung und Lehrkörper ein. Veränderungsvorschläge werden mit Kopfschütteln bedacht, Leitung und Kollegenschaft sind nur sehr schwer zu motivieren. Veränderung erzeugt Unsicherheit – Widerstände sind vorprogrammiert. Viele Lerndesignerkollegen berichten in den Lernateliers von negativen Erfahrungen, die in Extremfällen zu Mobbingsituationen führen. Nicht selten geben Lerndesigner auf und es kommt zu einem Wechsel in der Funktion.

- Michael Schratz, einer der kompetenten Begleiter bei der Ausbildung, äußerte sich zu den Problemen der Lerndesignerpraxis im Rahmen eines bundesweiten Vernetzungstreffens in St. Johann/Pongau (Salzburg) folgendermaßen:

„Unter den Lehrern herrscht die Ansicht, dass alle Lehrer gleich sind und alle gleich zu behandeln sind. Lehrer lassen sich nicht gerne dreinreden und belehren.“[35] Er spricht in diesem Sinne von einem „Autonomie-Paritäts-Muster“, das die Lerndesigner sehr bei ihrer Arbeit behindert, da sie ständig aus dieser Paritätsrolle heraus handeln müssen.[36]

Lerndesigner werden im Übrigen auch weder finanziell entschädigt, noch wird ihre Arbeit vom Gesetzgeber mit Abschlagstunden bedacht. Ein Umstand, der die Motivation für diese Tätigkeit nicht gerade zusätzlich fördert. Wie lange dieses System trotz großem Engagement und Idealismus seitens der Beteiligten noch aufrechterhalten werden kann, ist äußerst fragwürdig. Es zeigen sich unter den Lerndesignern schon große Widerstände, viele fühlen sich von Seiten der Bundesregierung nicht wertgeschätzt, ja sogar ausgebeutet. Auch der Idealismus scheint Grenzen zu haben. Die Einführung einer mittleren Managementebene am Schulstandort und die Abgeltung wertvoller Entwicklungsarbeit scheint das Gebot der Stunde zu sein.

2.3.3 Pädagogisches Konzept der NMS

Oberste Prämisse der NMS ist die Implementierung einer neuen Lernkultur. Im Mittelpunkt steht die Personalisierung und als Kerngeschäft die Entwicklung des Unterrichts.

2.3.3.1 Individualisierung und Differenzierung

Sollen Schüler, gemäß ihrer Begabungen gefördert und gefordert werden, müssen Lern- und Stoffangebote differenziert werden. Eine „lernseitige Orientierung“[37] des Unterrichts stellt den Schüler in den Mittelpunkt des Geschehens. Warum Individualisierung und Differenzierung so wichtig für nachhaltiges Lernen sind, werden die Autoren in Kapitel drei wissenschaftlichen beleuchten.

Das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur beschreibt in einer Aussendung die Wege zur Umsetzung von Individualisierung und Differenzierung inhaltlich folgendermaßen:[38]

- Der Unterricht kann zeitlich begrenzt in Kleingruppen erfolgen. Generell sollte der Klassenverband aber nicht aufgelöst werden, um eine äußere Differenzierung zu vermeiden.
- Jeder Schüler hat seine Stärken. In einer heterogenen Gruppe mit Unterstützungssystem lernen Schüler voneinander- solche die erklären und solche die erklärt bekommen- so profitieren alle.
- Stoffgebiete werden themenzentriert, fächerübergreifend und projektorientiert in verschiedensten Organisationsformen aufbereitet und schließen an das Vorwissen und an die Interessen der Schüler an.
- Sport und Bewegung, kreative Fächer wie Musik, Bildnerische Erziehung, Textiles und Technisches Werken und Schauspiel bilden einen wichtigen Baustein zur Allgemeinbildung. Für diese Fächer sollte sich die Schule auch externen Experten öffnen.
- Ganztägige Schulformen sollten am besten in verschränkter Form des Unterrichts angeboten werden, um berufstätige Eltern zu unterstützen und Nachhilfestunden zu vermeiden.
- Neue Medien und E-Learning sollten ein fixer Bestandteil des Unterrichts sein.
- Integration und Inklusion helfen als Wegbereiter in die Gesellschaft, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen.

2.3.3.2 Die Schwerpunkte der NMS- Unterrichtsentwicklung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: „Haus des Lernens“ NMS-EB 3. Regionales Lernatelier G2 Ost, Parndorf 16.-17. September 2010

Die obige Grafik zeigt das Konzept der NMS-Unterrichtsentwicklung, präsentiert auf einer Fortbildungsveranstaltung zur NMS-Entwicklungsbegleitung, erstellt vom Team Schratz/ Schley/ Westfall-Greiter/ Hofbauer, auf das sich der Verfasser inhaltlich im Folgenden beziehen möchte.[39]

Das Haus des Lernens kann folgendermaßen interpretiert werden:

Differenz bildet mit der Kompetenz die Basis für das “Haus des Lernens”. Differenz bedeutet, dass jeder Mensch seine eigene Persönlichkeit hat, keine Person der anderen gleicht. „Jeder ist anders anders.“ Differenzen machen das Leben und den Schulalltag bunt. Man sollte sie nicht als Belastung, sondern als Bereicherung und Herausforderung sehen. Um den vielen Begabungen, Interessen und Wünschen der Schüler gerecht zu werden, muss sich auch die Rolle des Lehrers verändern: Er wandelt sich vom „Vormacher” und „Alleinherrscher” zum „Ermöglicher”.

Der Unterricht muss sich, um die Schüler auf die Anforderungen einer modernen Welt vorzubereiten, von einer „Behaltensschulung“ zu einem Aneignen von Kompetenzen verändern. Es genügt heute nicht mehr, bei dem Wissen, das die Welt täglich produziert, Fakten auswendig zu lernen, sondern der Schüler muss wissen, wie und wo er das Gelernte auch anwenden kann. Kompetent zu sein, heißt wissen, verstehen, anwenden können und dadurch auch zu einer neuen Haltung zu kommen. Mit dieser Haltung ist jedoch kein behavioristisches Verhaltenstraining, sondern eine positive Einstellung für lebenslanges Lernen, Selbstvertrauen und ein Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit gemeint. Der Begriff des Lernens wird in Kapitel drei noch ausführlicher behandelt.

Über der Basis der Differenz und Kompetenz steht das Dach der “lernseitigen Orientierung”: Es stellt die Philosophie des neuen Lernbegriffs dar, der über allem steht: die Sicht auf den Unterricht, gesehen von der Seite des Schülers. Nicht mehr der Lehrer, sondern der Schüler ist das Zentrum des Unterrichts. Durch Individualisierung und Differenzierung wird auf die Bedürfnisse und Wünsche der Schüler eingegangen und ihnen somit ein nachhaltiger Lernprozess erst ermöglicht.

Gestützt wird das Dach von drei Säulen: Differenzierung, „Rückwärtiges Lerndesign” und Leistungsbeurteilung.

Wenn sich der Unterricht weg von einer frontalen „Behaltensschulung“ hin zu einer lernseitigen Gestaltung ändert, muss man auch die Form der Leistungsbeurteilung überdenken. Traditionellerweise sind Lehrer es gewohnt, Schüler summativ zu beurteilen: Das heißt, zu einem vereinbarten Zeitpunkt werden in Form von Tests oder Schularbeiten Fakten abgeprüft und beurteilt. Der Lehrer stellt die Qualität der Leistung nach bestimmten Kriterien fest. Diese Art der Überprüfung gibt dem Schüler zu wenig Freiraum, um Neues auszuprobieren, weil er ja dabei Fehler machen könnte. Er sollte aber aus Fehlern lernen, weil sie wichtig sind um nachhaltige Kompetenzen zu erwerben – Fehler sind Helfer.

Formative Leistungsbeurteilung hingegen bedeutet, Beobachtung der Leistungen des Schülers über einen längeren Zeitraum. Der Lehrer schaut hin, adaptiert den Unterricht, gibt Rückmeldung und ermöglicht dem Schüler, sein Lernen nach Sachkriterien selbst zu kontrollieren. Dies schafft Freiräume, nimmt den Druck und schafft die Atmosphäre einer positiven Fehlerkultur.

Die höchste Form der Individualisierung würde eine konstitutive Leistungsbeurteilung bedeuten. Sie gibt dem Schüler das Recht bei der Beurteilung seiner Leistungen mitzureden. Er denkt dadurch kritisch und selbstreflexiv über sein Lernen und seine Arbeitshaltung nach.

Man könnte die drei Beurteilungsformen in der Reihenfolge summativ, formativ und konstitutiv auch als eine Leistungsbeurteilung von Lernen, Leistungsbeurteilung für das Lernen und Leistungsbeurteilung als Lernen bezeichnen.

Rückwärtiges Lerndesign heißt Gestaltung des Unterrichts vom großen Ziel her. Verschiedene Lernziele oder Fertigkeiten werden dabei nicht einzeln und losgelöst voneinander behandelt. Das Ziel ist, Prozesse und Gedankengänge sichtbar zu machen. Um diesen Gedanken an einem einfachen Beispiel in Mathematik zu verdeutlichen:

Die Schüler sollen addieren/subtrahieren können, also

- Geld kennen (Scheine und Münzen unterscheiden und Wert zuordnen können),
- Mengen einschätzen können,
- Warenwert einschätzen/wahrnehmen,
- Hilfsmittel für Addieren/Subtrahieren verwenden können,
- Vorstellung von anderen Währungen haben,

damit sie auf lange Sicht in der Lage sind, eigenständig einzukaufen, ohne betrogen zu werden.

Die Frage ist: Wie kann ich Lehrinhalte so thematisieren, damit sie zu Lerninhalten werden? Wie passt diese Idee zu meinem Lehrplan und was ist die Kernidee? Die Beispiele, die dazu ausgesucht werden, sollten an die Lebenswelt der Schüler anschließen, damit das Lernen vorhandenes Vorwissen mit neuen Inhalten verknüpft werden kann. Die Beispiele sollten lebensnah und authentisch sein, damit Beziehungen hergestellt werden können.

Der obige Abschnitt nimmt viele Begriffe vorweg, die einer näheren Erklärung und Definition bedürfen. Dazu müssen wir uns dem Lernbegriff aus wissenschaftlicher Sicht nähern, um eine Begründung dafür zu suchen, warum Differenzierung und Individualisierung notwendig ist, warum diese Art des Unterrichts nachhaltiges Lernen ermöglicht und fördert.

Weiters soll in den nachfolgenden Kapiteln versucht werden, aufzeigen, wie die neue Rolle des Lehrers aussieht, welche Kompetenzen für diese neue Lehrerrolle notwendig sind und schließlich, wie die Rahmenbedingungen an einer Schule beschaffen sein müssen, damit sie eine gute Schule mit guter Schulkultur werden kann.

3. Differenzierung und Individualisierung - eine neue Lernkultur

Im Zentrum von Schulentwicklung steht nach Meinung vieler Experten die Entwicklung des Unterrichts als Kernbereich der Lehrertätigkeit, Innovationsfeld und Problemfeld zugleich.

Zum Beispiel meint Klippert, der Unterricht sollte im Zentrum jeder schulischer Innovation und Entwicklung stehen.[40] Seiner Ansicht nach sollte es das Ziel sein, auf Seiten der Schüler Motivation und Interesse für lebenslanges Lernen zu schaffen, sie beim Erwerb verschiedenster Kompetenzen zu unterstützen und ihnen damit den Zugang zur aktiven Nutzung des vorhandenen Wissens zur Bewältigung von Problemen des täglichen Lebens zu öffnen. Diese Kompetenzen bilden zugleich die Grundlage, um zuversichtlich in jenen Prozess des lebenslangen Lernens und ständiger Weiterbildung einzutreten, der für ein erfolgreiches und befriedigendes berufliches und privates Leben in der „Wissensgesellschaft“ als Voraussetzung angesehen wird.[41]

Klippert spricht hier von „Qualifikationen mit Zukunft”. Er nennt unter anderen Begriffen auch Selbstständigkeit, Eigeninitiative, Durchhaltevermögen, Kreativität, Selbstkritik-fähigkeit, Organisationsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und mehr. Fachwissen nimmt hier nur einen Platz unter vielen ein. Mit „Einheitsunterricht” und „Gleichmacherei” werden diese Kompetenzen bei Schülern sicher nicht gefördert werden können.

Der Weg in die Wissensgesellschaft scheint mit einer Bedeutungsrelativierung des Wissens einherzugehen. Die Fülle an Stoff wird immer größer, was heute in den Schulen gelehrt wird, ist vielleicht morgen schon „Schnee von gestern”. Der Bedeutung des Lernstoffs wird zu viel Bedeutung beigemessen. Rolf Arnold spricht von einem Ende der „Behaltensschulung”: Er fordert: „Das Wissen verlangt nach einer Gebrauchsanweisung: Arbeitstechniken, Lernen- lernen, Strategien für kreative Problemlösung, Denken und Handeln in Zielen und Wegen, Sensibilisieren für Vernetzung und Zusammenhänge, Selbstdisziplin, Team- und Konsensfähigkeit, zupackendes Handeln, Eigenverantwortung, Eigeninitiative, Eigenaktivität lösen das Belehrt- Werden ab.(…)[42]. Die Frage, die sich uns stellt, ist: Wie können wir als Lehrer bei unseren Schülern nachhaltiges Lernen fördern, wie können wir in ihnen die Lust und Freude, ihren Forscherdrang und ihre Neugierde wecken?

Dazu ist es notwendig den Begriff des Lernens aus der Sicht der Wissenschaft näher zu beleuchten.

3.1 Ein neuer Lernbegriff ist notwendig

Seit der Einführung der Schulpflicht unter Maria Theresia herrscht im deutschen Sprachraum eine schulische Kultur der Inputsteuerung vor. Das heißt curricularer Lernstoff, den der Lehrer für wichtig erachtet, wird für die Schüler noch immer häufig in frontaler Form dargebracht, um ihn nach einiger Zeit in Form von Tests oder Schularbeiten summativ abzuprüfen. Seit Pisa ist auch in Österreich Schule zum Inhalt populärer Debatten geworden. Kritiker und nicht näher bezeichnete Bildungsexperten sprechen dabei von „überliefertem Wissen, das in unsere Schüler hineingestopft werde, um es nach einer gewissen Zeit wieder zu erbrechen”. Diesen Umstand bezeichnen sie mit dem Begriff der „Bulimiepädagogik”. Obwohl die meisten Lehrer wüssten, dass ein Großteil des dargebotenen und abgeprüften Stoffes nach wenigen Wochen vergessen sein werde, seien viele nicht dazu bereit ihren Unterricht zu überdenken. Im Gegenteil: Faulheit oder Unvermögen der Schüler werde oft als Grund des Misserfolgs angesehen.

Natürlich ist diese Kritik zum Teil berechtigt. Den Schülern bleibt oft gar keine andere Möglichkeit, als die herkömmliche Art des Auswendiglernens. Sie müssen, um Prüfungen zu schaffen, Berechtigungen zu erwerben oder bloß um Sanktionen und Misserfolge abzuwehren, bei diesem Spiel mitmachen. Klaus Holzkamp bezeichnet diese Einstellung als „defensives Lernen”[43].

Er meint weiter, dass Schüler, von denen defensives Lernen verlangt wird, eine Abneigung gegen das Lernen aufbauen würden, die dem Gedanken des lebenslangen Lernens, der in unserer Gesellschaft überlebensnotwendig ist, diametral gegenübersteht. Es kommt zu einem Vortäuschen von Leistungen, um den Prüfer zufriedenzustellen. Dass dieses Lernen auch nicht nachhaltig sein kann, liegt auf der Hand. Klaus Holzkamp stellt darum dem defensiven Lernen den Begriff des „expansiven Lernens” gegenüber. Beim expansiven Lernen kommt das Bedürfnis zu lernen aus dem Subjekt heraus, es übernimmt Verantwortung für sein Lernen, hat Interesse, weil es Beziehungen zu seinen eigenen Erfahrungen knüpfen kann. Der Lernende ist emotional motiviert, weil er Sinn sieht, in dem, was er macht. Holzkamp schreibt: „Sofern vom Subjektstandpunkt eine Lernhandlung aus der damit zu erreichenden Erweiterung/ Erhöhung meiner Verfügung/ Lebensqualität begründet und in diesem Sinne motiviert realisierbar ist, muss von mir angesichts einer bestimmten Lernproblematik der innere Zusammenhang zwischen lernendem Weltaufschluss, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität unmittelbar zu erfahren bzw. zu antizipieren sein.”[44]

Der Schweizer Reformpädagoge Andreas Müller führt dieses Thema sehr leicht verständlich aus und meint, unter Lernen verstehe man meistens „auswendig lernen“ und ein Ausrichten auf Prüfungen[45]. Diese Ausrichtung an äußeren Anforderungskriterien verhindere es oft, den Stoff zu verstehen. Das Ziel solle es also demnach sein, den Stoff zu verstehen, den Informationen, die in ihm stecken auch eine Bedeutung zu geben, diese Informationen anzuwenden, zu transferieren und an Bekanntem anzudocken.[46] Daraus folgt dann der Kompetenzbegriff, das bedeutet, das Gelernte zu verstehen, anwenden zu können und in weiterer Folge zu einer anderen inneren Haltung zum Lernstoff und zum Lernen generell zu gelangen.

Auf welche wissenschaftlichen Hintergründe stützen sich nun die oben genannten Theorien? Dazu müssen wir den Lernbegriff aus der Sicht der Forschung näher definieren.

3.2 Lernen – Versuch einer Definition

Wir lernen Rad fahren, Fußballspielen, Essen mit Messer und Gabel, uns in verschiedenen Umweltsituationen richtig zu verhalten, aber auch Sprachen, mathematische Fertigkeiten, Rechtschreibung. Lernen findet ständig statt und ist für den Menschen überlebensnotwendig. Nach Bower/ Hilgard bedeutet Lernen eine „Veränderung im Verhalten oder Verhaltenspotential eines Organismus in einer bestimmten Situation, die auf eine wiederholte Erfahrungen des Organismus in dieser Situation zurückgeht…”.[47] Man lernt über Erfahrungen, die man in Lebenssituationen gemacht hat und die sich aus bestimmten Arbeitssituationen ergeben.

In der wissenschaftlichen Literatur findet man eine Vielzahl von Definitionen zum Begriff „Lernen”. Exemplarisch seien hier zwei genannt:

Gudjons definiert den Begriff wie folgt:

“…Lernen ist also – anders als Erziehung – ein wertneutraler Begriff. Es geht um die Kennzeichen von Veränderungen (nicht wie beim Erziehungsbegriff um Verbesserungen) menschlicher Verhaltensdispositionen, die durch Verarbeitung von Erfahrungen erklärt werden können.”[48]

In ähnlicher Weise, aber ein bisschen ausführlicher, schreiben Göhlich und Zirfas:

„Lernen bezeichnet die Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen sowie Verhältnissen zu anderen, die nicht aufgrund von angeborenen Dispositionen, sondern aufgrund von zumindest basal reflektierten Erfahrungen erfolgen und die als dementsprechend begründbare Veränderungen von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten, von Deutungs- und Interpretationsmustern und von Geschmacks- und Wertstrukturen vom Lernenden in seiner leiblichen Gesamtheit erlebbar sind; kurz gesagt: Lernen ist die erfahrungsreflexive, auf den Lernenden sich auswirkende Gewinnung von spezifischen Wissen und Können.“[49]

Wenn Lernen eine Veränderung von Selbst- und Wertverhältnissen bedeutet, wenn sich auf Grund von Lernerfahrungen Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten weiterentwickeln, dann ist der Lernprozess ein sehr intimer und persönlicher Prozess. Lernen bedeutet die Entwicklung und das Zusammenspiel emotionaler, sozialer und fachlicher Aspekte und läuft individuell verschieden ab. Daraus ergeben sich für Lehrende folgende Forderungen:

- Im Unterricht sind Situationen zu schaffen, die den Schülern das Lernen ermöglichen.
- Dazu ist eine starke Lernumgebung notwendig.
- Nicht nur der Schüler, sondern auch der Lehrer und im weiteren das gesamte System, alle müssen sich als Lernende sehen.

Den Fokus auf Lernen zu legen bedeutet also, dass jeder Einzelne sich als Lerner sieht und die Bereitschaft dazu zeigt. Lehrer, die den Schülern Lernvorbilder sind, haben großen Einfluss auf die Motivation des Kindes und steigern dadurch auch seine Leistungsbereitschaft.[50]

3.3 Die Lerntheorien

Schon früh haben Psychologen und Erziehungswissenschaftler versucht zu ergründen, wie Lernen funktioniert und die Erkenntnisse zu systematisieren. Daraus ergaben sich Lerntheorien, die sich grob in drei Bereiche einteilen lassen: Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus. Diese drei Theorien werden, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, in den folgenden Absätzen ganz kurz umrissen. Die Verfasser beziehen sich dabei auf Baumgartner/ Payr.[51]

3.3.1 Behaviorismus

Diese Lerntheorie geht davon aus, dass Lernenden ein bestimmter „Stimulus“ präsentiert werden muss, um bestimmte „Reaktionen“ hervorzurufen. Begründet wird diese Theorie auf Versuche des russischen Arztes und Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow, der mit dem Begriff des „Klassischen Konditionierens” allgemein bekannt ist. Auf einen ausgesendeten Reiz folgt immer eine bestimmte Reaktion. Auf diese Weise können bestimmte Abläufe und Verhaltensweisen trainiert und automatisiert werden. Die didaktische Aufgabe besteht darin, durch passendes Feedback die richtigen Verhaltensweisen zu verstärken. Neurobiologische Erkenntnisse werden dabei nicht berücksichtigt, das Gehirn stellt nur einen passiven Behälter, eine „black box” dar, die gefüllt werden muss.

Da menschliches Lernen unendlich komplexer ist, kann diese Technik nur ein kleines Spektrum abdecken, wie zum Beispiel das Erlernen trivialer Fähigkeiten, das Auswendiglernen von Vokabeln, oder das Üben mathematischer Algorithmen. Der Umstand, dass Menschen nicht auf passive Stimuliempfänger reduziert werden können, hat diese Lerntheorie heute stark in Misskredit gebracht.[52]

3.3.2 Kognitivismus

Neurobiologische Forschung versucht zu ergründen, was im Gehirn abläuft, wenn Lernen passiert. Sie versucht im Gehirn ablaufende Prozesse zu unterscheiden und miteinander in Beziehung zu bringen. Das Gehirn wird nicht mehr als „black box” gesehen, sondern als Verarbeiter und Transformator von Wissen.

Es geht, im Gegensatz zum Behaviorismus, nicht mehr um Reproduktion und die Reaktion auf Reize, im Mittelpunkt des Kognitivismus steht das Problemlösen: Wie lernt man am Effizientesten, welche Verfahren und welche Methoden sind anzuwenden, um befriedigende Ergebnisse zu erreichen. Problemlösestrategien bilden den Kern kognitivistischer Lerntheorien. In Anlehnung an Edelmann kann man verkürzt fünf Konzepte unterscheiden:

Problemlösen durch Versuch und Irrtum, Problemlösen durch Umstrukturierung (Gestaltpsychologie), Problemlösung durch Anwendung von Strategien, Problemlösen durch Systemdenken und Problemlösen durch Kreativität.[53]

Kritik am Kognitivismus entsteht, wenn man nach den Bedürfnissen der Lernenden fragt. Probleme müssen von den Lernenden zuerst einmal gesehen werden, um sie einer Lösung zuführen zu können. Um Nachhaltigkeit zu erzielen, darf das Problem selbst und die Problemlösemethode nicht einseitig, nämlich auf der Seite des Lehrers sein. Erst wenn das Subjekt selbst sich mit dem Problem identifiziert, wenn es „intrinsisch motiviert”[54] ist, wenn an Bekanntes angeknüpft wird, wenn es dem Lernenden ein Bedürfnis wird, ein Problem zu lösen, werden, vereinfacht gesagt, im Gehirn Verknüpfungen geschaffen, die wiederum nachhaltig sind.

3.3.3 Konstruktivismus

Mit dem soeben skizzierten Problem beschäftigt sich der Konstruktivismus. Er geht in seiner radikalen Form auf die beiden Naturwissenschaftler Maturana und Varela zurück. Schüssler definiert den Begriff des Konstruktivismus folgendermaßen:

“Konstruktivismus bezeichnet eine erkenntnistheoretische Richtung in der Wissenschaft, die davon ausgeht, dass der Mensch die von ihm angenommene Wirklichkeit selbst im Akte des Erkennens konstruiert. Der radikale Konstruktivismus geht sogar so weit zu behaupten, dass dem Menschen eine objektive Sicht auf Gegebenheiten nicht möglich ist und jeder sozusagen Gefangener seiner eigenen Konstruktionen und Deutungen ist.”[55]

Jeder Mensch bildet sich demnach seine eigene Wirklichkeit ab, die abhängig ist von seinen eigenen Erfahrungen, Wertvorstellungen, von seiner emotionalen und sozialen Situation. Jeder ist ein in sich abgeschlossenes System, in dem sich Wissen nicht nach dem Maßstab der Wahrheitsfindung, sondern nach dem „Viabilitätsprinzip” konstruiert, d.h. nach dem Grundsatz, ob das zu Lernende zur jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion des Lernenden passt.[56] Lernen ist demnach ein aktiver Prozess, bei dem Menschen ihr Wissen in Beziehung zu ihren früheren Erfahrungen in komplexen Lebenssituationen konstruieren.[57]

Genaugenommen ist eine Instruktion als eine „Vermittlung von Wissen” nach dieser These unmöglich. Individuen können nur von außen pertubiert, d.h. zum Lernen angestoßen werden. Persönliche Erfahrungen der Lernenden stehen im Vordergrund. Sie sollen komplexe Situationen bewältigen und generieren dabei erst die notwendigen Aufgaben- und Problemstellungen. Als Schlussfolgerung ändert sich, auf die schulische Situation bezogen, die Rolle des Lehrers ganz fundamental. Auf diesen Umstand soll aber erst in späteren Kapiteln Bezug genommen werden.

3.4 Das neue Lernen – Individualisierung und Differenzierung

Beleuchtet man den Schulalltag aus der Sicht der Lernforschung, werden folgende Punkte evident:

Behavioristische Lerntheorien zeigen uns, wie begrenzt die zu erwartenden Lernerfolge bei Schülern sind. Frontalunterricht und der weit verbreitete fragend- entwickelnde Unterricht stellen eine Art von Belehrung dar und sprechen nur einen kleinen Teil der Schüler an. Der Lehrer wählt die Stoffgebiete aus, gibt die Methode vor und bestimmt das Lerntempo. Schüler werden zu passiven Konsumenten degradiert. Der zu vermittelnde Stoff steht im Zentrum des Unterrichts. Es werden Inputs gegeben und zu einem bestimmten Zeitpunkt die richtigen Outputs erwartet. Zu wenig geht es meist um die Frage, wie gelernt wird, was in der sogenannten „black box”, den Gehirnen der Schüler, passiert.

Mit der Frage, „wie gelernt wird” und welche Abläufe im Gehirn der Lernenden zu beobachten sind, beschäftigt sich der Kognitivismus. Lernpsychologen und Neurobiologen versuchen eine neue Sicht auf das Lernen wissenschaftlich zu belegen. Die Erkenntnisse der Neurobiologie verbessern sich von Jahr zu Jahr, dennoch lassen sich die Ergebnisse der Forschungen noch nicht allgemeingültig evaluieren.

Interessant erscheint den Verfassern die Sicht der Subjektwissenschaftler, unter ihnen Klaus Holzkamp, der neben seiner These des „defensiven und expansiven Lernens” auch eine Trennung von Lernen und Lehren postuliert. Er spricht von einem „Lehr- Lernkurzschluss“. Lehren heißt demnach nicht, dass man dabei lernt und um zu lernen muss man nicht belehrt werden.[58] John Holt formuliert diesen Umstand folgendermaßen: „Lehren erzeugt kein Lernen. Lerner erzeugen Lernen. Lerner erschaffen Lernen.“[59] Der Schweizer Pädagoge Andreas Müller formuliert es noch drastischer: “Lehren verhindert Lernen.”[60]

Auf den Schulalltag umgelegt heißt das: Vom Lehrer Vorgetragenes oder Dargebotenes muss nicht unbedingt auch beim Schüler ankommen. Es hängt davon ab, in welcher geistigen Verfassung der Schüler ist, wie hoch seine Aufnahmebereitschaft und Konzentration ist, ob die Inhalte auch an sein Vorwissen anknüpfen, ob er ein auditiver, visueller oder anderer Lerntyp ist, ob der Vortragende das richtige Tempo wählt, ohne einen Teil der Schüler zu überfordern, einen anderen Teil vielleicht zu unterfordern, ob dem Schüler der dargebotene Lernstoff auch ein Anliegen ist und viele Begleitumstände mehr.

Erweitert werden diese Ansätze in der konstruktivistischen Didaktik. Hat sich der Lehrer bisher allein im Besitz der richtigen Methoden befunden, so versucht diese Theorie den Schüler in Richtung Eigenverantwortung, Eigenständigkeit und Selbstreflexion zu bewegen. Das Interesse soll aus dem Individuum selbst kommen, es soll sich für sein eigenes Lernen und die daraus resultierenden Ergebnisse selbst verantwortlich fühlen. Zentrum dieses Unterrichts ist plötzlich nicht mehr der Lehrer mit seinen dargebrachten Stoffgebieten, sondern der Schüler.

Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel. Die Verantwortung für das Lernen wandert vom Lehrer zum Schüler. Der Lehrer wird zum Begleiter, zum Coach, der dem Schüler ermöglicht, durch geeignete Rahmenbedingungen, wie einer vorbereiteten Lernumgebung, einem angenehmen Lernklima oder Fehlertoleranz, um hier nur einige Faktoren zu nennen, zu lernen. Erziehung zur Selbstverantwortung, Stärkung des Selbstbewusstseins (affektives Lernen) sind weitere zentrale Themen einer neuen Unterrichtskultur.

Für diese neue Art des Unterrichts ist es notwendig, Schüler darauf vorzubereiten, sie für diese Art des Unterrichts kompetent zu machen. Fachkompetenz steht dabei nicht mehr so uneingeschränkt im Mittelpunkt. Gefordert werden jetzt Schlüssel-qualifikationen wie Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Kommunikations-kompetenz und der Aufbau spezifischer Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Eigeninitiative und Durchhaltevermögen.[61]

Lernen vom Schüler aus bezeichnet Schratz als „lernseitige Orientierung”.[62] Dies bedeutet, den Schüler in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken und jeden Schüler als Persönlichkeit zu sehen.

3.4.1 Individualisierung

Die Zusammensetzung der Schülerpopulation einer Klasse ist sehr unterschiedlich – Heterogenität ist Tatsache, auch wenn es Lehrer manchmal nicht wahrhaben wollen. Ahrens und Mecheril weiten diesen Begriff noch aus und sagen: „Jedes Kind ist anders anders.”[63] Um vielen Kindern gerecht zu werden, ist es ein Gebot, den Schüler als Persönlichkeit zu sehen und auf seine Bedürfnisse einzugehen. Es bedeutet auch, den Mut zu haben, in Chancen und nicht in Grenzen zu denken. Heterogenität zu akzeptieren und darauf zu reagieren bedeutet, mit Lernvoraussetzungen, Lernmöglichkeiten und Lerninteressen der Kinder möglichst kreativ umzugehen.[64]

Unter Lernmöglichkeiten versteht man vor allem das intellektuelle Leistungsvermögen, die Ausdauerbereitschaft und das Lerntempo. Mit Lerninteressen sind die fachlichen Vorlieben der Kinder gemeint, die Lernvoraussetzungen, das Alter oder Geschlecht, die außerschulischen Erfahrungen, das Sozialverhalten und das Vorwissen der Schüler, an das unbedingt angedockt werden sollte.

Jeder Mensch ist einzigartig, jeder lernt auf seine eigene Art und Weise und Lernen bedeutet Anstrengung des Lernenden. „Lernen ist kein Zuschauersport, wie es Andreas Müller so treffend formuliert ”[65], sondern eine aktive, sehr persönliche Tätigkeit. Für den Lehrenden bedeutet dies, den Schülern Rahmenbedingungen zu schaffen, um ihnen eine selbstständige Auseinandersetzung mit den Inhalten zu ermöglichen.

[...]


[1] Altrichter, H./ Radnitzky, E./ Specht, W. (1994): Innenansichten guter Schulen. Portraits von Schule in Entwicklung, Ergebnisse eines Forschungsberichtes für die OECD im Rahmen der internationalen Studie „Teacher Quality“, Fallstudienteil im Auftrag des BMUK, Wien, S.335.

[2] Schnell, H. (1980): Die neue Mittelschule als Gesamtschule. Wien – München. S. 45 -51.

[3] Rolff, H. G. (1984): Schule im Wandel. Kritische Analysen zur Schulentwicklung. Essen. S. 53

[4] Schnell (1980): S. 45 -51.

[5] Gröpel, W. (2001): Soziologische, bildungspolitische und erziehungswissenschaftliche Überlegungen zur Situation der Sekundarstufe I in Ballungszentren am Beispiel Wien. In: Eder et al. (Hrsg.): Sekundarstufe I, Probleme – Praxis – Perspektiven, S. 74 – 75.

[6] Haider, G. (2007): Chancengerechtigkeit – Anspruch und Realität. In: XY gelöst. 99 Thesen zur Schulpolitik, S. 91 – 92.

[7] Gruber, K. H. (1998): Das Unbehagen mit der Schulkultur. Erziehung und Unterricht, 142. Jg., S. 80.

[8] Haider, G. et al. (2005): Abschlussbericht der Zukunftskommission, Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien.

[9] Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung: Ergebnisse der Standardüberprüfung Mathematik 8. Schulstufe, online im Internet: www.bifie.at, (zugegriffen am 13.12.2012).

[10] Schilcher, B. (2007): „Vererbte“ Argumente bei der gegenwärtigen Reform der Mittelstufe. In: XY gelöst. 99 Thesen zur Schulpolitik, S. 57.

[11] Rolff (1984): S. 53.

[12] Ebd., S. 52.

[13] Seel, H. (2001): Die Entwicklung der Sekundarstufe I des österreichischen Schulsystems in der Zweiten Republik. In: Eder et al. (Hrsg.): Sekundarstufe I, Probleme – Praxis – Perspektiven, Innsbruck. S. 20 – 32.

[14] 7. SchOG-Novelle. Bundesgesetz vom 30. Juni 1982. BGBl. Nr. 365/1982, Art. I.

[15] 7. SchOG-Novelle. Bundesgesetz vom 30. Juni 1982. BGBl. Nr. 365/1982, Art. I, S. 31 – 32.

[16] Petri, G. (1982): Evaluation der Schulversuche im Bereich der Schulen der Zehn- bis Vierzehnjährigen. Gesamtbericht über die erste Evaluationskohorte - Teil 1: Lernerfolgsvergleiche, Schülerlaufbahnen. Graz: ZSE, Arbeitsbericht der Reihe II Nr. 16, 1982.

[17] Vgl. Eder, F. (2002): Fördern Leistungsgruppen das Lernen? Der Förderanspruch von Leistungsgruppen im Lichte von PISA und TIMSS, In: Erziehung und Unterricht, 152, Heft 7-8, Salzburg, S. 979.

[18] 14. SchOG-Novelle. Bundesgesetz, mit dem das SchOG und die 12. SchOG-Novelle geändert werden. BGBl. Nr. 323/1993, Art. I, Z 2.

[19] Buschmann, I. (2001): Die Trennung der Schülerinnen und Schüler nach ihren intellektuellen Begabungen in den schulgesetzlichen Bestimmungen und in der Praxis. In: Eder et al. (Hrsg.): Sekundarstufe I, Probleme – Praxis – Perspektiven. Innsbruck, S. 160.

[20] Eder (2002): S. 979 – 1000.

[21] Eder (2002): S. 979 – 1000.

[22] Ebd., S. 999.

[23] Seel (2001): S. 30.

[24] Eder, F. (2009): Die Schule der 10- bis 14-Jährigen als Angelpunkt der Diskussion um Struktur und Qualität des Schulsystems, online im Internet: www.bifie.at, (zugegriffen am 14.12.2012).

[25] Haider G. et al. (2005): Abschlussbericht der Zukunftskommission, Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien, S. 11 -15.

[26] Ebd.

[27] Ebd.

[28] Haider et al. (2005): S. 17.

[29] Österreichisches Parlament (2012): Regierungsvorlage. Änderung des Schulorganisationsgesetzes, Artikel 1, Wien.

[30] Projektteam Neue Mittelschule (2012): Die Neue Mittelschule, Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hrsg.), S. 3.

[31] Projektteam Neue Mittelschule (2012): S. 7.

[32] Hofbauer, Ch. (2010): Die Rolle des Lerndesigners, Vortrag im Rahmen des NMS – Vernetzungstreffens in Schlierbach (Oberösterreich), Oktober 2010, online im Internet : http://www.nmsvernetzung.at/pluginfile.php/9448/mod_page/content/10/Dokumentation/NMS_Doku_1._RLA_G3_Schlierbach_Oktober10.pdf (zugegriffen am 7. 1. 2013).

[33] Arnold, R. (2008): Leadership und Lernkulturwandel I, Studienbrief Nr. SMO110 des Master- Fernstudiengangs Schulmanagement der TU Kaiserslautern, S. 39 - 45.

[34] Ebd., S. 40.

[35] Schratz, M.(2010): Vortrag im Rahmen eines bundesweites Vernetzungstreffen zur NMS in St. Johann/Pongau vom 8. - 10. 6. 2010, online im Internet: http://www.nmsvernetzung.at/course/view.php?id=143 , (zugegriffen am 7. 1. 2013).

[36] Ebd.

[37] Schratz, M. (2010): „Lernseits“. Powerpointvortrag im Rahmen einer NMS- Entwicklungsbegleitung vom 16.-17. September 2010, 3. Regionales Lernatelier G2 Ost, Parndorf.

[38] Projektteam Neue Mittelschule (2012): Die Neue Mittelschule, Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hrsg.), S. 4 – 5.

[39] Schratz, M. et al. (2010): Unsere Schwerpunkte unter einem Dach, Powerpointvortrag im Rahmen einer NMS- Entwicklungsbegleitung vom 16.-17. September 2010, 3. Regionales Lernatelier G2 Ost, Parndorf.

[40] Klippert, H. (2000) : Pädagogische Schulentwicklung. Planungs- und Arbeitshilfen zur Förderung einer neuen Lernkultur, 2. unveränderte Auflage, Weinheim, S.46 ff.

[41] Haider, G. et al. (2005): Abschlussbericht der Zukunftskommission an Frau Bundesministerin Elisabeth Gehrer, Bundesministerium für Unterricht und Kultur, S. 24- 26.

[42] Arnold (2008): S. 6- 7.

[43] Holzkamp, K. (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt. S 190 ff.

[44] Holzkamp (1993): S 190 ff.

[45] Müller, A. (2006): Eigentlich wäre Lernen geil. Wie Schule auch sein kann: alles außer gewöhnlich, Bern. S. 10 – 11.

[46] Ebd.

[47] Gudjons, H. (2008): Pädagogisches Grundwissen, zitiert nach Bower/ Hilgard, Bad Heilbrunn, S. 211.

[48] Ebd., S.212.

[49] Göhlich M./ Zirfas J.(2007): Lernen. Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart, S. 17.

[50] Schratz, W. (2009): „Lernseits“ von Unterricht. Alte Muster, neue Lebenswelten – was für Schulen? S. 6 – 7.

[51] Baumgartner P./ Payr S.(1997): Erfinden Lernen. In Konstruktivismus und Kognitionswissenschaft. Kulturelle Wurzeln und Ergebnisse. Wien- New York, S 89- 106.

[52] Ebd.

[53] Edelmann,W. (1986): Lernpsychologie- Eine Einführung. Weinheim, S.279 ff.

[54] Holzkamp, K. (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt. S 191.

[55] Schüßler, I. (2008): Lernkulturwandel II und Projektmanagement. Studienbrief Nr. SMO120 des Master- Fernstudiengangs Schulmanagement der TU Kaiserslautern, Kaiserslautern, S. IX.

[56] Schüßler (2008): S. 46.

[57] Baumgartner/ Payr (1997): S 92.

[58] Holzkamp, K. (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt. S 391 ff.

[59] Holt, J. (2009). In jeder wachen Stunde. In: Holt, J. (Hg). Das Freilerner-Buch. Winsen (Luhe): S. 93 – 96.

[60] Müller, A. (2007): Lernen steckt an. Bern, S 18.

[61] Klippert (2000): S.42.

[62] Schratz (2009): S 16- 19.

[63] Arens, S. u. Mecheril, P. (2010): Schule – Vielfalt – Gerechtigkeit. Schlaglichter auf ein Spannungsverhältnis, das die politische und erziehungswissenschaftliche Diskussion in Bewegung gebracht hat. In: Die Lernende Schule. Keinen aufgeben. Heft 49/2010, S. 9 – 11.

[64] Lang, C. (2012): Heterogenität- Individualisieren- Differenzieren- Differenzfähigkeit. In: ph publico. Impulse aus Wissenschaft und Forschung. Heft 2, S. 17.

[65] Müller, A. (2006): Eigentlich wäre Lernen geil. Wie Schule auch sein kann: alles außer gewöhnlich, Bern. S. 27.

Excerpt out of 115 pages

Details

Title
Differenzierung und Individualisierung als Kern einer neuen Lernkultur und Basis nachhaltiger Lernprozesse
College
University of Kaiserslautern  (Human Ressources)
Grade
gut
Authors
Year
2013
Pages
115
Catalog Number
V276655
ISBN (eBook)
9783656699163
ISBN (Book)
9783656699958
File size
3962 KB
Language
German
Keywords
differenzierung, individualisierung, kern, lernkultur, basis, lernprozesse
Quote paper
Klaus Hubelnig (Author)Eleonore Hubelnig (Author), 2013, Differenzierung und Individualisierung als Kern einer neuen Lernkultur und Basis nachhaltiger Lernprozesse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/276655

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