§ 20.
Wer während der Frei-Viertelstunden und während der Freistunde Mittags ohne Erlaubniß in den Garten geht, wird mit ¼ Tag und wer im Garten Vögel fangt, mit 1 Tag Lohnabzug bestraft.
In obigem – auf den ersten Blick amüsant anmutenden – Paragraph von 1872 aus den Vorschriften und Anordnungen für die Arbeiter der Bleistiftfabrik von A.W. Faber in Stein konstituieren sich die Verhaltensansprüche, die an Fabrikarbeiter des 19. und 20. Jahrhunderts gerichtet waren. Sie sind Ausdruck des großen sozialen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses im Europa dieser Jahrhunderte – der Industrialisierung – und damit verbundener Normengenese. Der vielschichtige und vieldiskutierte Epochenbegriff Industrialisierung beschreibt die „Ausweitung des industriellen Wirtschaftsbereichs in einer Volkswirtschaft im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen wie dem Handwerk oder dem Handel“ , wie sie für den – nach heutigem Verständnis – deutschen Raum schon vielfach untersucht und dargestellt wurde.
So durchlief Bayern – seit 1806 Königreich und vor der Aufgabe sich als souveräner Staat zu organisieren – lediglich eine punktuelle Industrialisierung, die sich primär auf die großstädtischen Räume wie Augsburg, Nürnberg, Fürth, Hof und München konzentrierte. Vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich für diese Verdichtungszonen ein Übergangsprozess von agrarischer hin zu industrieller, technisierter Produktion nachvollziehen, basierend auf Innovationen wie Eisenbahn, Dampfmaschine oder mechanischem Webstuhl.
Natürlich bedingten diese Veränderungen im Wirtschaftsbereich auch umfassende Umwälzungen in Produktion und Arbeitsstruktur, sowie eine Veränderung der traditionellen Arbeitsgewohnheiten weg von zünftischem Gewerbe,Manufaktur und Verlagswesen hin zum Fabrikwesen und es entstand die neue Gesellschaftsschicht der Fabrikarbeiter. Die bayerische Fabrikarbeiterschaft in den Industriezentren entwickelte sich als ein Konglomerat von Zuwanderern aus den ländlichen Unterschichten, verarmten Handwerkern oder aus gescheiterten Heimgewerben. Anpassungsschwierigkeiten jenes neuen sozialen Milieus der arbeitenden Klasse an die neue Organisationsform Fabrik und damit einhergehende Disziplinprobleme bedingten eine Neustrukturierung der Arbeitswelt, welche sich in sogenannten Fabrikordnungen manifestierte.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Grundlagen der Themenbearbeitung
- 2.1 Vorüberlegungen
- 2.1.1 Zur Arbeitssituation in der Industriearbeiterschaft
- 2.1.2 Mögliche Analysekriterien
- 2.2 Fragestellung und Aufbau der Studie
- 2.3 Ein Forschungsüberblick und bibliographische Hinweise
- 2.4 Quellenlage
- 2.4.1 Probleme
- 2.4.2 Möglichkeiten
- 2.5 Norm und Devianz – Zugriff auf die Lebenswirklichkeit?
- 2.6 Entwicklung der Gesetzgebung zur Arbeitsordnung
- 2.7 Untersuchungszeitraum
- 2.1 Vorüberlegungen
- 3. Sozialdisziplinierung
- 3.1 Eine Begriffsbestimmung
- 3.2 Fabrikordnungen im Kontext der Sozialdisziplinierung
- 4. Analyse der Arbeitsordnung im Hinblick auf Sozialdisziplinierung – Kontrollieren, Überwachen und Strafen?
- 4.1 Arbeitsordnung, Fabrikordnung, Fabrikreglement und Fabrikgesetze
- 4.1.1 Vorläufer der Arbeitsordnung
- 4.1.2 Eine Begriffsbestimmung
- 4.1.3 Fabrikordnung als Arbeitsvertrag?
- 4.1.4 Omnipräsenz der Ordnung?
- 4.2 Untersuchungen zum Inhalt der Arbeitsordnungen
- 4.3 Inhalte der Quellen im Vergleich
- 4.4 Wirkungsbereiche der sozialen Disziplinierung
- 4.4.1 Zeit
- 4.4.1.1 Festsetzung der Arbeitszeit
- 4.4.1.2 Einhaltung der Arbeitszeit
- 4.4.1.3 Kontrolle der Arbeitszeit
- 4.4.2 Raum
- 4.4.3 Privatleben der Arbeiter
- 4.4.4 Normen zum Arbeitsverhalten
- 4.4.5 Anforderungen an das Betragen
- 4.4.6 Treue und Kündigungsnormen
- 4.4.1 Zeit
- 4.5 Hierarchie und Kontrolle durch Vorgesetzte und Mitarbeiter
- 4.5.1 Fabrikherren als höchste Instanz
- 4.5.2 Wirkungsbereich von Vorgesetzten
- 4.5.3 Kollegen als Disziplinatoren
- 4.6 Sanktionspotenzial
- 4.6.1 Strafe
- 4.6.2 Belohnung
- 4.7 Verhaltensmodifikation als Folge?
- 4.8 Ein Kurswechsel? Arbeitsordnungen nach 1891
- 4.1 Arbeitsordnung, Fabrikordnung, Fabrikreglement und Fabrikgesetze
- 5. Schlussbemerkung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Studie untersucht die Arbeitsordnungen in Fabriken in Nürnberg, Fürth und Augsburg im 19. Jahrhundert, um die Entwicklung der sozialen Disziplinierung in der industriellen Produktion zu beleuchten.
- Die Entstehung und Entwicklung der Arbeitsordnungen im Kontext der Industrialisierung
- Die Rolle von Fabrikordnungen als Instrument der sozialen Disziplinierung
- Die Kontrolle von Zeit, Raum und Verhalten der Arbeiter
- Die Durchsetzung von Normen durch Hierarchie und Sanktionen
- Die Auswirkungen der Arbeitsordnungen auf das Leben der Arbeiter
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Sozialdisziplinierung in industriellen Fabrikordnungen ein und stellt die Forschungsfrage und die Methodik der Studie dar. Die Grundlagen der Themenbearbeitung umfassen eine Analyse der Arbeitssituation in der Industriearbeiterschaft, mögliche Analysekriterien, eine Übersicht der Forschungsliteratur und der Quellenlage, eine Einordnung der Arbeitsordnungen in den Kontext der Gesetzgebung und die Definition des Untersuchungszeitraums. Das Kapitel über Sozialdisziplinierung beleuchtet die Entstehung und Entwicklung des Begriffs sowie die Bedeutung von Fabrikordnungen in diesem Kontext. Die Analyse der Arbeitsordnungen im Hinblick auf Sozialdisziplinierung untersucht die Inhalte der Arbeitsordnungen, die Wirkungsbereiche der sozialen Disziplinierung, die Hierarchie und Kontrolle durch Vorgesetzte und Mitarbeiter sowie die Sanktionspotenziale. Es wird auch der Frage nachgegangen, ob und inwiefern sich die Arbeitsordnungen im Laufe des 19. Jahrhunderts verändert haben.
Schlüsselwörter
Industrielle Fabrikordnungen, Sozialdisziplinierung, Arbeitszeit, Arbeitsverhalten, Hierarchie, Kontrolle, Sanktionen, Nürnberg, Fürth, Augsburg, 19. Jahrhundert.
- Quote paper
- Bernhard Weidner (Author), 2012, Sozialdisziplinierung im Spiegel industrieller Fabrikordnungen. Nürnberg, Fürth und Augsburg im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277521