Der Wandel der Erinnerung

Die Aufarbeitung der Vergangenheit in der spanischen Gegenwartsliteratur anhand eines Vergleichs zweier Romane über das Attentat auf Carrero Blanco


Bachelorarbeit, 2013

45 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG

2 HISTORISCHER HINTERGRUND
2.1 Carrero Blanco - die Graue Eminenz des Regimes
2.2 Das Attentat auf Carrero Blanco und seine Folgen

3 THEORETISCHER RAHMEN - ERINNERUNGSKULTURELLE KONZEPTE
3.1 Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses und seine Eigenschaften
3.2 Das kommunikative und kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann li
3.3 Erinnerungskultur i
3.4 Funktion und Rolle der Literatur im erinnerungskulturellen Kontext i
3.5 Analyseinstrumentarium - die fünf Modi des kollektiven Gedächtnisses nach Erll i

4 DARSTELLUNG DES ATTENTATS IM ROMAN DEMASIADO PARA GÁLVEZ
4.1 Handlungsübersicht i
4.2 Detektivroman als Spiegelbild der Gegenwart - Entstehungshintergrund und wesentliche Gattungsmerkmale
4.3 Auberliterarische Bezüge
4.4 Paratextuelle Gestaltung
4.5 Erzählerische Vermittlung
4.6 Sprachliche Gestaltung/Intermedialität
4.7 Literarische Darstellungsverfahren
4.8 Perspektive des Ich-Erzählers-der Anschlag als Teil eines Korruptionsnetzwerks

5 ANALYSE DER DARSTELLUNG IM ROMAN VIVÍ AÑOS DE TORMENTA
5.1 Handlungsübersicht
5.2 Erinnerungsroman als literarische Vergangenheitsaufbereitung - gesellschaftlicher Entstehungshintergrund und wesentliche Gattungsmerkmale
5.3 Auberliterarische Bezüge 3i
5.3.1 Paratextuelle Gestaltung
5.3.2 Erzählerische Vermittlung - die reflexive Ich-Erzählerin
5.4 Die kontrastierende Perspektivendarstellung
5.4.1 Die Perspektive der franquistischen Elite
5.4.2 Die Perspektive der baskischen Bevölkerung

6 ZUSAMMENFASSUNG UND VERGLEICH DER ERGEBNISSE

7 FAZIT

8 LITERATURVERZEICHNIS

1 Einleitung

„Quien vivió con una cierta edad el día del asesinato de Carrero Blanco ha guardado del acontecimiento una huella perdurable en sus recuerdos.“ (Tusell 1993: 433)

Das oben angeführte Zitat des Historikers Javier Tussel bringt den gravierenden Einschnitt, den das Attentat auf den designierten Franco-Nachfolger in der Erinnerung der zeitgenössischen spanischen Gesellschaft hinterlassen hat, zumAusdruck. Im Dezember 2013 jährt sich zum vierzigsten Male der Anschlag auf den franquistischen Hardliner, der von der baskischen Untergrundorganisation ETA ausgeübt und unter dem Namen „Operación Ogro“ bekannt geworden ist (vgl. Casanova 2008: 145).

Als einschneidendes, zentrales Ereignis der spanischen Geschichte regt das Attentat nicht nur wissenschaftliche Kontroversen bezüglich seiner Tragweite lür die weitere demokratische Entwicklung an, sondern findet auch auf vielfältige Weise Eingang in Literatur. und Film. Seine Thematisierung nimmt vor allem mit der in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre in Spanien einsetzenden Vergangenheitsaufbereitung stark zu. Im Jahr 2012 widmet das spanische Fernsehen RTV dem Attentat eine eigene Miniserie und einen Dokumentarfilm. Ebenso greifen zahlreiche Romane das historische Ereignis in unterschiedlichen Zusammenhängen erneut auf.

Angeregt durch diese gesellschaftliche Rückbesinnung auf die Vergangenheit und die damit verbundene zunehmende Thematisierung des Attentats befasst sich die vorliegende Arbeit der Analyse der literarischen Inszenierung dieses historischen Ereignisses in dem Erinnerungsroman Viví años de tormenta aus dem Jahr 2012 und dem Detektivroman Demasiado para Gälvez von 1979. Wie wird der Anschlag auf Carrero Blanco in den jeweiligen Romanen literarisch inszeniert und welche Unterschiede lassen sich dabei feststellen?

Angesichts der sehr verschiedenen zeitlichen Abstände beider Romane zum inszenierten historischen Ereignis und des unterschiedlichen gesellschaftlichen Entstehungskontextes lässt sich vermuten, dass die literarischen Darstellungen einen Wandel der Erinnerung aufzeigen und somit den spanischen Umgang mit der Vergangenheit zu den jeweiligen Zeiten widerspiegeln.

Um dieser Hypothese nachzugehen und die inszenierten Vergangenheitsversionen im Zusammenhang mit ihrer Wirkung in der jeweiligen Erinnerungskultur zu untersuchen, soll der Fokus der folgenden Analyse auf erinnerungskulturellen Konzepten liegen.

In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an solchen komplexen Phänomenen wie kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen derart gestiegen, das die Forschung in diesem Bereich „als einer der bedeutendsten Zweige der Kulturwissenschaften“ (Erll 2004a: 3) bezeichnet wird und viele literaturwissenschaftliche Diskussionen anregt. Im Zentrum dieser kulturwissenschaftlichen Betrachtung stehen vor allem Medien, zu denen ebenfalls literarische Texte zählen. Welche besondere Rolle kommt der Literatur in diesem Kontext zu? Einen bedeutenden Beitrag zur Untersuchung der Literatur als „Medium des kollektiven Gedächtnisses“ (Erll 2011: 175) leistetet vor allem Astrid Erll, deren Konzepte, insbesondere die „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“ (ebd.: 201), eine geeignete Methode zur Analyse literarischer Vergangenheitsdarstellungen liefern und daher als theoretische Grundlage dieser Arbeit dienen sollen. Ob und wie sich die literarischen Darstellungen des Attentats in die erinnerungskulturellen Konzepte einfügen und welche Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Hypothese gezogen werden können, wird im weiteren Verlauf der Arbeit geklärt.

Zunächst werden im nächsten Kapitel wesentliche, für die weitere Analyse relevante historische Hintergrundinformationen dargelegt. Dabei wird die Person Carrero Blanco, seine Regierungsperiode sowie seine Rolle im franquistischen Regime und anschließend das auf ihn verübte Attentat in seiner Bedeutung für die spanische Gesellschaft beleuchtet.

Im dritten Kapitel werden die für diese Arbeit relevanten erinnerungskulturellen Konzepte, die den theoretischen und methodischen Rahmen der Arbeit bilden, dargestellt. Zu Beginn werden die abstrakten und für das weitere Verständnis relevanten Definitionen und Eigenschaften des kollektiven Gedächtnisses, des Konzeptes von Jan und Aleida Assmann und der Erinnerungskultur verdeutlicht. Anschließend wird die Funktion und Rolle der Literatur in diesem Kontext herausgearbeitet und das konkrete an die vorhergehenden Konzepte anschließende Analyseinstrumentarium der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses nach Erll in Grundzügen vorgestellt. Anknüpfend daran wird in die weitere Vorgehensweise der Analysen eingeführt.

Dieser theoretischen Einführung folgen die einzelnen Analysen der beiden Romane Viví años de tormenta (Kapitel 4) und Demasiado para Gälvez (Kapitel 5) im Hinblick auf die Darstellung des Attentats unter dem dargelegten Konzept der Gedächtnisrhetorik nach Erll.

Im siebten Kapitel werden die Ergebnisse aus den beiden Analysen zusammengefasst und verglichen.

Das Fazit resümiert abschließend die wesentlichen Ergebnisse und zieht Schlussfolgerungen im Hinblick auf die anfangs aufgeworfene Fragestellung.

2 Historischer Hintergrund

2.1 Carrero Blanco - die Graue Eminenz des Regimes

Carrero Blanco, in eine adlige, militärische Familie geboren, tritt in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters, die beide Offiziere waren, und beginnt seine militärische Karriere in der königlichen Marine, wo er seit 1922 ein Offiziersamt bekleidet. In den 1920er Jahren stellt er durch seine Mitwirkung im zweiten Marokkanischen Krieg seine militärischen Fähigkeiten unter Beweis, welche er dann während des spanischen Bürgerkriegs als Kommandant eines U- Boots und Zerstörer im Kampf für die Nationalisten einsetzt (vgl. Bernecker 1997: 194)1.

Nach dem Sieg der Franquisten beginnt Carreros erfolgreiche politische Karriere an der Seite des Diktators. Im Jahr 1941 wird er vom General zum Staatssekretär ernannt und beginnt seinen über dreißigjährigen Dienst im Präsidialamt, „der einflußreichsten Stelle des Regierungsapparates“ (ebd.). In den nachfolgenden 30 Jahren wird der Admiral allmählich zum engsten Vertrauten und Berater Francos und übt seither einen immensen Einfluss auf Spaniens weitere politische und administrative Entwicklung aus (vgl. ebd.).

Der Admiral vertritt eindeutig anti-liberale, rechtsradikale sowie konservative Ansichten und gilt als traditionsverbundener, überzeugter Katholik (vgl. Bernecker 2010: 263).

Im Jahr 1967 ernennt Franco den Admiral zum Vizepräsidenten der Regierung, wodurch er offiziell zur rechten Hand und dem aufstrebenden Nachfolger des Diktators wird und in dieser Funktion die Staatsgeschäfte übernimmt (vgl. ebd.). Franco sieht in dem jahrzehntelang ihm treu und bedingungslos dienenden Admiral einen geeigneten Nachfolger zur Sicherung des Regimes (vgl. ebd.: 263 f.).

Während seiner Regierungszeit ereignen sich schwerwiegende Wirtschaftsskandale des Franquismus, die die zunehmende politisch-wirtschaftliche Korruption enthüllen. Unter anderem sind dabei die spektakulären Finanzskandale, die unter den jeweiligen Firmennamen Matesa und Sofico bekannt werden, zu nennen. Hochrangige Politiker sind in die Geschäfte der Unternehmen involviert und für illegale milliardenschwere Subventionen und steuerliche Entlastungen der Firma verantwortlich. Da die Gerichtsprozesse erst Jahre später, in der Zeit
der Demokratie, ausgetragen werden, können sich die involvierten Politiker des Regimes der Verantwortung entziehen (vgl. Bernecker 1997: 197; Ramos Espejo 2005: 46 f.).

Vor allem ist die Regierungsperiode Carreros durch den wachsenden Widerstand gegen das Regime, Studentenproteste und Gewerkschaftsbewegungen sowie zunehmende Auseinandersetzungen zwischen den Technokraten und den Falangisten gekennzeichnet. Die Unruhen der Oppositionen werden vom Admiral systematisch und mit gnadenloser Härte bekämpft, so dass 1969 als Reaktion auf die immer lauter werdenden Studentenunruhen der Ausnahmezustand verhängt wird (Bernecker 1997: 195 f.). Ein Paradebeispiel für die systematische und gnadenlose Bekämpfung der Widerstandsbewegungen ist der 1970 in Burgos stattfindende Prozess gegen 16 ETA-Aktivisten, die der Ermordung eines Polizeichefs angeklagt werden (ebd.: 196). Der Prozess stößt auf Empörung und Ablehnung im In- und Ausland und verursacht international anti-franquistische Proteste (vgl. Bernecker 2010: 244).

Im Jahr 1967 werden die durch den Wirtschaftsaufschwung und die europäische Öffnung entstandenen Kommissionen wieder verboten, zu gesetzwidrigen Vereinigungen erklärt und fortan konsequent verfolgt. In diesem Zusammenhang ist der 1972/73 in der Öffentlichkeit als proceso oder juicio 1001 bekannt werdende Prozess gegen die zehn einflussreichsten Mitglieder der verbotenen Arbeiter-Kommission (Comisiones Obreras, CCOO) zu erwähnen (vgl. Bernecker 1997: 167f.). Den Angeklagten werden unter anderem der Verrat am Franquismus sowie die Planung eines gewaltsamen Putsches gegen das Regime vorgeworfen. Der Prozess dauert eineinhalb Jahre und erregt wegen der Härte der Urteile und der Unnachsichtigkeit der Regierung großes Aufsehen in Spanien und Europa (vgl. ebd.).

Im Jahr 1973 macht Franco sich sein sieben Jahre zuvor erlassenes Staatsorgangesetz (Ley Orgánica del Estado) zu Nutze, das unter anderem die Trennung der Ämter des Staatsoberhaupts und des Ministerpräsidenten ermöglicht, und ernennt Carrero Blanco zum Regierungschef (vgl. Bernecker 2010: 263 f.). Somit wird der Admiral für die weiteren sechs Monate offiziell zum designierten Nachfolger Francos.

Wegen des immensen Einflusses auf alle Regierungsgeschäfte, die Carrero aufgrund seiner Scheu vor der Öffentlichkeit stets im Hintergrund ausübt, bekommt er den Status der Grauen Eminenz des Regimes (vgl. Bernecker 1997: 194; Haubrich 1995: 11). Walther Bernecker bezeichnet ihn als den Politiker, „der wie kein anderer [...] neben Franco das aus dem Bürgerkrieg siegreich hervorgegangene Regime symbolisiert.“ (Bernecker 2010: 264).

2.2 Das Attentat auf Carrero Blanco und seine Folgen

Am 20. Dezember 1973 wird der designierte Franco Nachfolger von der ETA durch das folgenschwere Attentat, das die Gruppierung selbst „Operación Ogro“ tauft, getötet (vgl. Bernecker2010: 264; Casanova2008: 145).

Der Regierungschef befindet sich auf seiner routinemäßigen Rückfahrt vom morgendlichen Gottesdienst, als auf der Straße Claudio Coello direkt unter seinem Fahrzeug per Fernzündung eine unterirdisch liegende Bombe gezündet wird. Durch die gewaltige Explosion wird das Fahrzeug 35 Meter in die Höhe geschleudert und über ein Gebäude hinweg in dessen Innenhof katapultiert, was der Tod des Admirals zur Folge hat (vgl. Casanova 2008: 147). Die baskisch-nationalistische Untergrundorganisation ETA, deren ursprünglicher Plan die Entführung des Admirals war, um damit die Freilassung ihrer inhaftierten Kameraden zu erpressen, bekennt sich am gleichen Tag in einem Comunicado als verantwortlich für den Anschlag auf den Ministerpräsidenten und betont die Tragweite ihrer Aktion folgendermaßen:

Por ello consideramos que nuestra acción llevada a cabo contra el Presidente del Gobierno español significará sin duda un avance de orden fundamental en la lucha contra la opresión nacional y por el socialismo en Euskadi y por la libertad de todos los explotados y oprimidos dentro del Estado español (ebd.: 148).

Das Attentat erregt großes Aufsehen auch über die Grenzen Spaniens hinweg und wird von der oppositionellen Seite des Franquismus gefeiert (vgl. Casanova 2008: 149). Die Ermordung Carreros ruiniert die Vorsorge Francos für das Fortbestehen des Regimes und löst im franquistischen Lager Trauer und Empörung aus. Für die separatistische

Untergrundorganisation ETA zählt das Attentat zu ihren erfolg- und folgenreichsten Angriffen auf das Regime.

Die Folgenschwere des Anschlags für die weitere historische Entwicklung Spaniens wird von den Historikern kontrovers interpretiert. Einige Geschichtswissenschaftler deuten das Attentat, ähnlich wie Walther Bernecker, als den „Anfang vom Ende der Franco-Ära“ (Bernecker 1997: 199) und bezeichnen diesen als den Beginn des spanischen Übergangs zur Demokratie. Bernecker konstatiert in diesem Zusammenhang: „Spätestens mit Carrero Blancos Tod hatte das politische System des Franquismus jegliche Zukunftsperspektive verloren.“ (Bernecker 1997: 199). Dieser Interpretation schließt sich der Historiker Josep Carles Clemente im folgenden Wortlaut an:

La transición política de la dictadura a la democracia no se inició el 20 de noviembre de 1975, [...]. La transición empezó a las 9,28 horas de la mañana del día 20 de diciembre de 1973, cuando el almirante Luis Carrero Blanco, presidente del Gobierno español,era elevado a los cielos con la ayuda de una potente bomba, accionada a distancia por un comando asesino de la organización terroristavasca ETA. (Carles Clemente 1994: 11)

Dieser Auslegung des Attentats für die spanische Geschichte schließen sich noch andere Historiker, Politiker und Autoren an, die den Beginn der transición mit dem Mord an dem designierten Franco-Nachfolger assoziieren. Auch die von der spanisch öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt RTVE im Jahr 1995 ausgestrahlte Dokumentar-Serie La Transición, die Spaniens Übergang zur Demokratie dokumentiert, beginnt mit dem Attentat auf den Admiral als dem initiierenden Ereignis für die weiteren demokratischen Entwicklungen.

Einige Historiker und Politikwissenschaftler kritisieren jedoch eine solche Interpretation der Bedeutung des Attentats. Beispielsweise konstatiert der Politologe und Soziologe José Antonio Olmeda (Olmeda 2011: 8) der Anschlag sei weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung für den Übergang zur Demokratie gewesen.

Im Folgenden wird der theoretische Rahmen der vorliegenden Arbeit dargelegt, der den folgenden Analysen zu Grunde liegen soll.

3 Theoretischer Rahmen - erinnerungskulturelle Konzepte

3.1 Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses und seine Eigenschaften

Im Verlauf der letzten 15 Jahre haben sich unzählige Studien und Theorien im Bereich der erinnerungskulturellen Forschung derart akkumuliert, dass der Versuch, einen umfassenden Überblick über die verschiedensten Konzepte zu bewahren, zu einem gewagten Vorhaben wurde. Vor dem Hintergrund der immensen Ausdehnung des Gedächtnis-Themas auf interdisziplinäre Bereiche entsteht eine oftmals verwirrende Heterogenität der Begriffe und Konzepte. Astrid Erll unternimmt in ihrer 2005 erschienenen Monografie Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen dennoch den Versuch, einen Überblick über den umfassenden Forschungsbereich zu geben. Dabei bezeichnet sie die Erinnerungspraxis und ihre Reflexion als ein gesamtkulturelles, internationales und interdisziplinäres Phänomen, das eine übergreifendende Verbindung zwischen den verschiedenen Wissenschaftszweigen darstellt (vgl. Erll 2011: 1f.). Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, werden im Folgenden nur einzelne, für die Analysen relevante Aspekte der erinnerungskulturellen Forschung, näher erläutert.

Der Ursprung der kulturwissenschaftlichen Forschung ist auf die 1920er Jahre zurückzuführen. Dabei haben sich vor allem die von Maurice Halbwachs sowie Aby Warburg veröffentlichten Studien zu kollektiven Erinnerungs- und Gedächtnisprozessen als prägend erwiesen (vgl. Erll 2011: 16). In seiner einflussreichen Veröffentlichung wie La mémoire collective (Das kollektive Gedächtnis, 1967) konzipiert der französische Philologe und Philosoph Maurice Halbwachs die Erinnerung als ein kollektives, soziales Phänomen, womit er sich deutlich von der zeitgenössischen Auffassung der individuellen Erinnerungen abgrenzt und zum ersten Mal das Hauptaugenmerk auf „die soziale Bedingtheit der Erinnerung“ (Erll 2011: 16) richtet. In Anlehnung an Halbwachs führt Astrid Erll (Erll 2011: 17) an, dass jedes Individuum in seinem Erinnerungsprozess auf die Mitmenschen, die den eigentlichen sozialen Bezugsrahmen bilden, angewiesen ist. Denn nur in einem sozialen Kollektiv bekommt das Individuum den Zugang zur Sprache, den Sitten und bestimmten Denkschemata, die als kollektive Phänomene gelten und wird fähig, eigene Erinnerungen zu bilden (vgl. ebd.). Das individuelle sowie das kollektive Gedächtnis sind wechselseitig verbunden. Der Soziologe Maurice Halbwachs (Halbwachs 1967: 31) veranschaulicht diesen Aspekt wie folgt: Wenn überdies das kollektive Gedächtnis seine Kraft und seine Beständigkeit daraus herleitet, daß es auf einer Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es indessen Individuen, die sich als Mitglieder der Gruppe erinnern.

Die Erinnerungen eines einzelnen Individuums sind, nach Halbwachs somit, von seiner Gruppe abhängig. Besonders deutlich wird es an seiner Ausführung: „Wir würden sagen, jedes individuelle Gedächtnis als ein ,Ausblickspunkt‘ auf das kollektive Gedächtnis; [...]“ (ebd.).

Trotz all der in den vergangenen Jahren vorgenommenen Ausdifferenzierungen und Weiterentwicklungen des Konzepts von Halbwachs lassen sich zwei wesentliche Charakteristiken des Gedächtnisprozesses anführen, die für das weitere Verständnis relevant sind: seine Gegenwartsbezogenheit und Konstruktivität (vgl. Erll 2011: 7). Astrid Erll betont in ihren Ausführungen mehrfach den Gegenwartsbezug des Erinnerungsprozesses, der nicht als bloße Nachbildung der Vergangenheit, sondern als das Ergebnis des gegenwärtigen Kontextes des Erinnernden zu verstehen ist (vgl. ebd.; Erll 2004b: 116). Darüber hinaus betont die Literaturwissenschaftlerin die Subjektivität und die hochgradige Selektivität des kollektiven Gedächtnisses, da es abhängig von der gegenwärtigen Abrufsituation verschiedene Vergangenheitsversion rekonstruiert (vgl. Erll 2011: 25). Aleida Assmann (Assmann 2007: 25) pointiert ebenfalls, dass Erinnerungen mit den Bewertungsmustern der Individuen, die sich im Zeitablauf verändern, mitwandeln. Demnach werden sie im kollektiven Gedächtnis abhängig von den aktuellen Bewertungsmustem aktiv konstruiert und nicht bloß abgebildet, denn erst durch Verdichtungsprozesse und Bedeutungszuschreibungen entwirft das kollektive Gedächtnis Vergangenheitsversionen (vgl. Erll 2004b: 121ff.).

Des Weiteren ist folgende Eigenschaft des kollektiven Gedächtnisses betonen: seine mediale Vermittlung. Die Gedächtnisinhalte einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft können nicht vererbt und müssen daher an weitere Generationen tradiert werden. Demgemäß erfordern sie bestimmte Medien zur Speicherung und Übertragung der Gedächtnisinhalte. Beispielsweise können mündliche und schriftliche Kommunikation, Bücher, Filme, Monumente, Denkmäler usw. solche Medien darstellen (vgl. Erll 2004a: 4).

Aufbauend auf Halbwachs haben Aleida und Jan Assmann ein Konzept des kollektiven Gedächtnisses entworfen, das die zentrale Bedeutung der Medien hervorhebt. Dieses theoretische Konstrukt wird im Folgenden in seinen Grundzügen dargelegt.

3.2 Das kommunikative und kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assmann

Das Konzept von Aleida und Jan Assmann geht von einer Unterteilung des kollektiven Gedächtnisses in zwei unterschiedliche Modi aus: das kulturelle und kommunikative Gedächtnis. In dem Aufsatz „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“ (Assmann 1988) charakterisiert und systematisiert Jan Assmann die beiden Gedächtnis-Ebenen, die hier gegenübergestellt werden sollen.

Die Ebene des kommunikativen Gedächtnisses basiert auf der Alltagsinteraktion mit Zeitgenossen und hat größtenteils zeitnahe Geschichtserfahrung und eigene Biografie zum Gegenstand. Auf der kommunikativen Ebene wandern die Gedächtnisinhalte mit ihren lebendigen Trägern mit, wodurch sie sich mit den wechselnden Generationen stets verändern. Daher ist der Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses begrenzt und umfasst in etwa 80 bis 100 Jahre. Darüber hinaus existieren keine festen Bedeutungszuschreibungen und keine Bevorzugungen bestimmter Erinnerungen. Der kommunikative Gedächtnisrahmen lässt sich somit als ungeformt, alltagshaltig, instabil, fragmentarisch und hierarchielos beschreiben (vgl. Assmann 1988: 10f.)2.

In Abgrenzung dazu konstituiert sich das kulturelle Gedächtnis aus „transferierbaren und tradierbaren kulturellen Objektivationen wie Symbolen, Artefakten, Medien und Praktiken sowie deren Institutionen“ (Assmann 2007: 33). Diese Medien stellen die Träger des kollektiven Gedächtnisses dar, wodurch seine potenziell unendliche Überlebensdauer des sichergestellt wird. Es ist somit nicht mehr auf die sterblichen Individuen und deren kurze Lebensspanne angewiesen ist (vgl. ebd.). Demnach sind es die symbolischen Medien wie Texte, Bilder, Riten, Denkmäler, Museen, Monumente usw., die als Stütze des kollektiven Gedächtnisses dienen und ihm eine langfristige Überlebensdauer verleihen (vgl. ebd.: 32). Während die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses sich größtenteils auf den Alltag und die nahe Vergangenheit beziehen, ist das kulturelle Gedächtnis in das Zeithorizont einer fernen Vergangenheit zu verorten (vgl. Assmann 1988: 12).

Aleida Assmann (Assmann 2007: 33 f.) hebt in ihrer 2007 erschienenen Monografie Der lange Schatten der Vergangenheit, die unterschiedliche Rolle der Medien in den jeweiligen Gedächtnisrahmen hervor. Während die materiellen Datenträger auf der Ebene des kommunikativen Gedächtnisses als dessen Stütze fungieren und die Menschen die Träger der Gedächtnisinhalte darstellen, wendet sich das Verhältnis auf der kulturellen Ebene. Die Medien werden zu Trägern und die Individuen dienen als Stütze des Gedächtnisses, da sie die überlieferten Medieninhalte und Symbole immer wieder aktualisieren und ihren Sinn neu interpretieren müssen (vgl. ebd.). Die Literaturwissenschaftlerin bezeichnet die medialen Träger im Modus des kulturellen Gedächtnisses als „stumme Zeugen der Vergangenheit“ (Assmann 2007: 54), da sie auf die Individuen, die sich diese aneignen und neu deuten müssen, angewiesen sind.

3.3 Erinnerungskultur

Angesichts der Heterogenität der erinnerungskulturellen Konzepte, die die kulturwissen­schaftliche Forschung hervorgebracht hat, ist der Begriff Erinnerungskultur nicht eindeutig festgelegt. Daher soll an dieser Stelle eine für diese Arbeit geeignete Definition des Begriffs ausgewählt werden.

Eine mögliche, den folgenden Analysen dienliche Abgrenzung stellt die von Mathias Berek (Berek 2009) im Rahmen seines Werkes, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Eine Theorie der Erinnerungskulturen, vorgenommene Definition dar. Berek definiert Erinnerungskultur als „die Gesamtheit aller Phänomene menschlicher Gesellschaft, die einen gemeinsamen Umgang mit Vergangenheit zum Inhalt haben“ (Berek 2009: 38). Dabei existieren nach dieser Auffassung des Begriffs parallel mehrere Erinnerungskulturen einer Gesellschaft nebeneinander, die ebenfalls in Konkurrenz stehen können (vgl. ebd.).

[...]


1Diese Quellenangabe beziehtsich auf den gesamten Absatz.

2Diese Quellenangabe beziehtsich auf den gesamten Absatz.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Der Wandel der Erinnerung
Untertitel
Die Aufarbeitung der Vergangenheit in der spanischen Gegenwartsliteratur anhand eines Vergleichs zweier Romane über das Attentat auf Carrero Blanco
Hochschule
Universität Kassel  (Institut für Romanistik (IfR))
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
45
Katalognummer
V277571
ISBN (eBook)
9783656747598
ISBN (Buch)
9783656747567
Dateigröße
648 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Interdisziplinär angelegte Arbeit (Literatur- und Kulturwissenschaft) mit starkem Bezug auf erinnerungskulturelle Konzepte
Schlagworte
aufarbeitung, vergangenheit, gegenwartsliteratur, thematisierung, attentats, carrero, blanco, romanen, viví, demasiado, gálvez
Arbeit zitieren
Elvira Peters (Autor:in), 2013, Der Wandel der Erinnerung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277571

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