Die Gesellschaftstheorie von Karl Marx. Eine Annäherung


Dossier / Travail de Séminaire, 2000

56 Pages, Note: 2


Extrait


O. Einleitung

Der folgende Text ist der Versuch, die Marxsche Gesellschaftstheorie in ihren Kernthesen zu skizzieren. Hierbei sollen bewußt die frühen Schriften von Marx zur Anwendung gebracht werden, nicht weil sie etwas der Intention nach anderes wiedergäben als die späteren Texte, sondern weil in ihnen die Marxsche Gesellschaftsanalyse am umfassendsten dargestellt wird, während die späteren Schriften nach meiner Auffassung im wesentlichen spezialisierende Untersuchungen von Teilbereichen darstellen. Der Text ist parteiisch, insofern ich dem Dargestellten im wesentlichen zustimme. Die entscheidenden Anstöße entnahm ich den »Ökonomisch-philosophischen Manu­skripten« und der »Deutschen Ideologie«, sowie den in den Fußnoten und der Bibliographie genannten Texten von Schmied-Kowarzik. In den Mittelpunkt stelle ich den Entfremdungs­begriff, weil er mir den Kern und Ausgang des Marxschen Denkens zu bilden scheint, wie ich es auch im folgenden zu entwickeln versuche.

I. Die menschliche Tätigkeit als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der Gesellschaftstheorie von Marx ist seine materialistische Weltsicht. "Materialismus bedeutet demnach für Marx: Primat der Sinneserkenntnis als einziger Er­kenntnisquelle, soziale Einheit des Menschen, welche durch die Gemeinsamkeit der Sinneser­kenntnis bedingt ist; Möglichkeit der Gestaltung des Menschen durch menschliche Gestaltung der sinnlich erfahrbaren Welt u. ä. Materie, Natur, sinnliche Wirklichkeit sind für Marx ein und dasselbe."[1] Dabei ist beim Marxschen Materialismus jedoch die Vermittlung der lebendi­gen Praxis von entscheidender Bedeutung. Während die meisten materialistischen Phi­losophen jener Zeit offensichtlich die materielle Wirklichkeit als Objekt kontemplativer Betrachtung deuteten, der der Mensch als erkennendes Subjekt gegenübersteht, "dessen Tätigkeit als eine bloß theoretische aufgefaßt und nicht gegenständliche Tätigkeit"[2] sei, schreibt Marx in Abgrenzung von Feuerbach: "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialis­mus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. <...> Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit."[3] Hier drängt Marx meines Erachtens auf die Einsicht, daß die menschliche Umwelt stets durch die gesellschaftliche Praxis des Menschen vermittelt sei. Natur und Mensch stünden in einem Austauschprozeß, der die praktische Tätigkeit des Menschen selber zum Gegenstand eines materialistischen Erkenntnisprozesses mache. "Dies bedingt eine weitere Eigenschaft des Marxschen Materialismus: seinen dialekti­schen Charakter. Die Wirklichkeit wird für Marx wesentlich durch ein dialektisches Verhält­nis zwischen Mensch und Natur bestimmt. Es gibt keine Natur ohne den Menschen und keinen Menschen ohne die Natur."[4] Erst durch die Einführung der menschlichen Tätigkeit in den Erkenntnisprozeß werde diese als verändernde Praxis greifbar, was Feuerbach ver­schlossen blieb: "Er begreift daher nicht die Bedeutung der »revolutionären«, der »praktisch-kritischen« Tätigkeit."[5] Schlußendlich erschließt sich hieraus für Marx die Folgerung, die Philosophie selber müsse praktisch werden: "Die Philosophen haben die Welt nur ver­schieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern."[6]

Sich so von der Philosophie Feuerbachs abgrenzend, gilt die geharnischste Kritik von Marx und Engels den idealistischen Weltauffassungen in der deutschen Philosophie. "Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen."[7] Denn Marx und Engels wollen nicht von Glauben und Meinungen, dem Bewußtsein der Individuen ausgehen. Es sei das materielle Sein der Menschen, welches ihr Bewußtsein bestimmt. Die tätigen Menschen schüfen und veränderten durch die Entwicklung ihrer materiellen Produktion und ihres Verkehrs ihre Wirklichkeit. Moral, Religion, Metaphysik seien "ideologische Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses"[8]. "Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen, wie die durch ihre Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar."[9] Es ist dieses aus seinem materialistischen Standpunkt erwachsende empirische Postulat, daß Marx zu einem echten Gesellschaftstheoretiker, zu einem ersten Soziologen macht. Marx und Engels lag es fern, im Sinne bloßer Vernunfterkenntnis die Mechanismen des Geschichtsprozesses zu gewinnen; vielmehr war ihnen daran gelegen, den empirischen Kenntnisstand ihrer Zeit den eigenen Arbeiten zugrundezulegen. Sie konstruierten darum auch keinen irgendwie gearteten Naturzustand, der mehr dem Menschenbild seines Verfassers als den tatsächlichen Verhält­nissen der Urgesellschaft entspringt. Der Mensch ist von Natur aus weder gut noch schlecht. "Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Ab­straktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."[10]

Um seine Geschichts- und Gesellschaftstheorie zu entfalten, geht Marx zunächst von der Frage aus, wodurch sich der Mensch historisch konstituiert. Ich habe bereits im vorher­gehenden darauf hingewiesen, daß der Austauschprozeß zwischen Mensch und Natur für den Marxschen Materialismus von grundlegender Bedeutung ist. Dieser hat seinen Gegenstand in der produktiven Tätigkeit der Menschen, die die Natur schöpferisch anwenden und ver­ändern, ja, dies tun müssen, um zu überleben. Und es sei jene zu leistende Arbeit, die den Menschen vom Tier unterscheide. "Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist."[11] Die Tatsache der menschlichen Arbeit bedinge das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, sowohl zur Natur als auch zu den anderen Menschen. "Für Marx ist die produktive Tätigkeit des Menschen als Gat­tungswesen die entscheidende Potenz, in der Natur und Geschichte immer schon verknüpft sind, denn in ihr ist sowohl die Naturhaftigkeit des Menschen und seine Eingebundenheit in die Gesamtnatur gefaßt als auch die schöpferischen Fähigkeiten der Menschen und ihre gesellschaftliche Verwirklichung in der Geschichte benannt. In der produktiven Lebenstätig­keit, der vergegenständlichenden Arbeit und der schöpferischen Praxis offenbart sich einer­seits die ganze Besonderheit des Menschen in seiner naturbeherrschenden Potenz als auch andererseits gerade seine unauflösliche Verbindung mit der Natur, deren Teil er doch immer bleibt."[12]

Während die menschliche Arbeit als notwendige Voraussetzung zur Befriedigung der lebensnotwendigen menschlichen Bedürfnisse die erste geschichtliche Tat sei, "die Produk­tion des materiellen Lebens selbst"[13], erzeuge sie zugleich neue Bedürfnisse. Neben ihrer Fingerfertigkeit entwickelten dabei die Individuen auch nach und nach neue Instrumente ihrer Produktion, Arbeitsmittel; es setze also eine Produktivkraftentwicklung ein. Zugleich sind die Menschen von Anfang an gesellschaftliche Individuen; einen eigentlich vorgesellschaftlichen Zustand gibt es für Marx und Engels gar nicht. Das ursprüngliche soziale Verhältnis sei dabei das Verhältnis zwischen Frau und Mann, das ein Teil der Produktion des Lebens selbst, und zwar des fremden Lebens im Akt der Zeugung ist. "Die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andrerseits als gesellschaftli­ches Verhältnis -, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehre­rer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck verstanden wird."[14]

Der gesellschaftliche Verkehr entwickele sich mit der Vermehrung der Bevölkerung und führe zu bestimmten Verkehrsformen und bestimmten Formen der Produktion. Hier sind wir im Kern der materialistischen Gesellschaftstheorie von Marx und Engels angelangt. Diese erkannten in ihrer Analyse, daß es letztendlich die Entwicklung der Produktivkräfte ist, die bestimmte Produktionsweisen und Formen des gesellschaftlichen Verkehrs bedingt und dadurch den geschichtlichen Prozeß vorantreibt. Aber hierauf wird im späteren noch einge­gangen werden.

Ich habe jetzt als Ausgangspunkte der Geschichte zweie benannt, die menschliche Produktiv­kraft und den gesellschaftlichen Verkehr. Als dritten nennen Marx und Engels das Bewußt­sein. Schon mit dieser späten Einführung des Bewußtseins stellten sich beide quer zur sonst üblichen philosophischen Praxis, für die in ihrer Charakterisierung des Menschen zumeist das Bewußtsein im Mittelpunkt stand. Für Marx und Engels ist jedoch das Bewußtsein selbst erst ein Produkt des menschlichen Verkehrs. Ohne die Notwendigkeit, sich zu einer sozialen Umwelt verhalten zu müssen, gäbe es das Bewußtsein auch nicht. "Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen."[15] Man sieht, wie weit Marx und Engels sich von einer Ideengeschichte entfernen und auf den materiellen Grundlagen als entscheidendem Faktor der Geschichte bestehen. "Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen."[16] "Aus all diesen Bestimmungen geht hervor, daß Marx die gesell­schaftliche Praxis, Arbeit und Produktion als das Übergreifende über sich und ihr anderes versteht: als das Übergreifende über sich als Arbeit und über die bearbeitete Natur, über sich als Produktion und über die produzierten Lebensverhältnisse, über sich als gesellschaftliche Praxis und über das gesellschaftlich bestimmte Individuum, über sich als gesellschaftliches Sein und das Bewußtsein."[17]

II. Entstehung von Eigentum und Ausbeutung

Es wird jetzt zu zeigen sein, wie die Entwicklung der Produktivkräfte, und zwar insbesondere die Arbeitsteilung, sich bis zu jenem Punkt entwickelte, an dem die Akkumulation von Reichtum möglich wurde, dem Punkt, an dem die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft erstmalig Sinn zu machen beginnt. Dieser Schritt geht eng einher mit der Entstehung des Eigentums und des Patriarchats.

In der »Deutschen Ideologie« sind von Marx und Engels nur sehr wenige Positionen entwic­kelt worden zur Frage der Entwicklung der Sklavenhaltergesellschaft als erster Form der Klassengesellschaft. Ausführlicher beschäftigen sie sich hierin mit der Trennung von geisti­ger und körperlicher Arbeit und deren Folgen für das Bewußtsein, worauf ich später noch eingehen will. Sie enthalten sich Aussagen darüber, wie im Stadium der Urgesellschaft die sich entwickelnde Teilung der Arbeit mit der Entwicklung anderer Produktivkräfte vermittelt war. Sie verweisen allerdings darauf, daß die Arbeitsteilung innerhalb der Familie die erste Form des Eigentums und der Sklaverei dargestellt habe. "Mit der Teilung der Arbeit, in welcher alle diese Widersprüche gegeben sind und welche ihrerseits wieder auf der natur­wüchsigen Teilung der Arbeit in der Familie und der Trennung der Gesellschaft in einzelne, einander entgegengesetzte Familien beruht, ist zu gleicher Zeit auch die Ver teilung, und zwar die ungleiche, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte gegeben, also das Eigentum, das in der Familie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind, schon seinen Keim, seine erste Form hat."[18] Ich werde darum, um über diese wenigen kargen Ausführungen hinaus die Geschichte der Entstehung der Klassengesellschaft zu entwickeln, auf die ausführlichen Untersuchungen von Friedrich Engels zu diesem Thema zurückgreifen.

Engels stellt bezüglich des gesellschaftlichen Zustandes der Urgesellschaft fest, daß die Haushaltung kommunistisch erfolgte, also Gemeineigentum der Sippe bestanden habe. Sie sei matriarchalisch geprägt gewesen, ein Zustand, der dem im vorhergehenden Zitat aus der »Deutschen Ideologie« konstatierten widerspräche, denn bei Engels heißt es: "Kommu­nistischer Haushalt bedeutet aber Herrschaft der Weiber im Hause, wie ausschließliche Anerkennung einer leiblichen Mutter bei Unmöglichkeit, einen leiblichen Vater mit Gewiß­heit zu kennen, hohe Achtung der Weiber, d.h. der Mütter, bedeutet. Es ist eine der absurde­sten, aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts überkommenen Vorstellungen, das Weib sei im Anfang der Gesellschaft Sklavin des Mannes gewesen."[19] Weiterhin bestanden keine hinreichend entwickelten Produktivkräfte, um Ausbeutung entstehen zu lassen. Ausbeutung setzt voraus, daß die Individuen in der Lage sein müssen, mehr Lebensmittel zu produzieren, als sie zu ihrer eigenen Reproduktion benötigen. Solange die von den jagenden Männern erbeuteten Nahrungsmittel und die von den Frauen gefertigten Kleidungsstücke gerade ausreichten, um das Leben der Gruppe zu sichern, war Ausbeutung nicht möglich. Aus­beutung wurde erst da möglich, wo die Gruppe in die Lage kam, mehr Lebensmittel zu produzieren, als zu ihrem Überleben notwendig. Jetzt bestand die Möglichkeit, Personen von der körperlichen Arbeit freizustellen, die von dem Mehr an produzierten Gütern, und das heißt von der Mehrarbeit der anderen, leben konnten. Hier setzte die Trennung von körperli­cher und geistiger Arbeit an. Weiterhin wurde damit Sklaverei möglich, da diese ja ebenfalls nur Sinn macht, wenn der Sklave Mehrarbeit leisten kann, die Grundlage seiner Ausbeutung. "Die Entstehung der Sklaverei hat also zur Voraussetzung, daß eine bestimmte Entwicklungs­stufe der gesellschaftlichen Kräfte erreicht ist, die Ausbeutung von Sklavenarbeit erlaubt. Die Sklaverei ist aber ein Produktionsverhältnis, mit dessen Erscheinen die Klassenscheidung der Gesellschaft einsetzt, die vordem nur eine Scheidung entsprechend den beiden Geschlechtern und den Altersstufen gekannt hat."[20] Es zeigt sich also, daß Ausbeutung, Patriarchat, Eigen­tum, Klassengesellschaft Produkte eines bestimmten Entwicklungsniveaus der Produktivkräfte sind. Dieses wird im folgenden darzustellen sein. Weiterhin wird zu zeigen sein, wie sich durch die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit das Bewußtsein von der lebendigen Praxis emanzipierte, im Zusammenhang damit der Entfremdungsbegriff.

"Hier [in der alten Welt, d. V.] hatte die Zähmung der Haustiere und die Züchtung von Herden eine bisher ungeahnte Quelle des Reichtums entwickelt und ganz neue gesellschaftli­che Verhältnisse geschaffen. <...> Jetzt <...> hatten die vordringenden Hirtenvölker <...> einen Besitz erworben, der nur der Aufsicht und rohesten Pflege bedurfte, um sich in stets vermehrter Zahl fortzupflanzen und die reichlichste Nahrung an Milch und Fleisch zu liefern."[21] Mit der Entstehung dieser neuen Produktivkräfte, "der Einführung der Viehzucht, der Metallbearbeitung, der Weberei und endlich des Feldbaus"[22] habe erstmals die Möglich­keit bestanden, einen beachtenswerten Überschuß zu produzieren, notwendige Voraussetzung zur Akkumulation von Reichtum. Daß es zu einer Entwicklung der Produktivkräfte bis zu diesem Punkte kommen konnte ist nach Marx und Engels zweierlei geschuldet. Zum einen beruhe dies darauf, daß die Menschen in der Abfolge der Generationen immer auf dem von ihren Vorfahren vererbten Entwicklungsstand der Produktivkräfte aufbauen und jenen dann weiterentwickeln können. "Dank der einfachen Tatsache, daß jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die um so mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wach­sen."[23] Zum anderen ergebe sich ein Entwicklungsdruck auch aus der Zunahme der Bevölke­rung, die bis zur Entstehung eines umfassenden gesellschaftlichen Verkehrs dominierender Faktor der Produktivkraftentwicklung sei.

Infolge der Viehzucht und schließlich des Ackerbaus traten nach Engels' Auffassung dann Patriarchat, Privateigentum und Sklaverei in die Geschichte ein. Mit der nun bestehenden Möglichkeit der Reichtumsakkumulation war die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen möglich geworden. Zunächst waren es wohl Kriegsgefangene, die von den Siegern versklavt wurden. Da diese durch die von ihnen geleistete Mehrarbeit die für die Mitglieder der Gentilgemeinschaft notwendige Arbeitsmenge erheblich verringerten, wird die Sklaverei die Tendenz, Mitglieder der Gruppe von der körperlichen Arbeit freizustellen, erheblich verstärkt haben. Sie bedingte darum einen erheblichen Sprung in der Entwicklung der Teilung von körperlicher und geistiger Arbeit einerseits; andererseits begann mit ihr die Klassenteilung der Gesellschaft, die in Zukunft der Geschichte die entscheidenden Impulse geben würde. "Die Sklaverei ist aber ein Produktionsverhältnis, mit dessen Erscheinen die Klassenscheidung der Gesellschaft einsetzt, die vordem nur eine Scheidung entsprechend den beiden Geschlechtern und den Altersstufen gekannt hat. Erreicht die Sklaverei ihre volle Ausbildung, so drückt sie der ganzen Ökonomie der Gesellschaft, auf dem Weg über diese aber allen übrigen Gesellschaftsverhältnissen und der politischen Struktur ihren Stempel auf."[24] Währenddessen nämlich der durch Reichtumsanhäufung und Arbeitsteilung forcierte Austausch den gesellschaftlichen Verkehr entwickelte und immer mehr über Stammesgrenzen hinaustrieb, entsprang aus den nun entstehenden Eigentumsformen und der Klassenspaltung schließlich der Staat. Auf diese Aspekte werde ich im späteren zurückkommen.

Es war mit dem nunmehr erreichten Stand der Teilung der Arbeit, mit Ackerbau und Vieh­zucht (Sklaven), handwerklicher Arbeit, Überwachung, Kriegsführung (Männer), häuslicher Arbeit (Frauen), aber auch rein geistiger Arbeit (z.B. Priesterkaste) ein Stand der Differenzie­rung erreicht, der sein Pendant in einem unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Zugang zu den Produkten der Arbeit hatte. Dieser ungleiche Anteil an der Konsumtion sei mit Herrschaftsansprüchen legitimiert worden, die die Männer der Gens aufgrund der Tatsache geltendmachten, daß die den Reichtum befördernden Viehherden und Sklaven gemäß der bestehenden Arbeitssteilung unter ihrer Obhut standen. Ungleiche Verteilung der Produkte ist folglich nichts anderes als Geltendmachung individueller Besitzansprüche, also Privateigentum. Demnach sei aus der Teilung der Arbeit als ungleicher Verteilung der (geistigen und materiellen) Arbeit unmittelbar das Privateigentum als ungleiche Verteilung der Produkte gegeben. "Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke - in dem Einen wird in bezug auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird"[25] Mit dem Eintritt individuel­len Eigentums in die Geschichte ergab sich darum das alte Stammeseigentum willfährig den nunmehr erwachsenden Besitzansprüchen der die Viehherden überwachenden Männer. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln war geboren. Die ökonomische Macht der Männer mußte nun auch die häuslichen Verhältnisse umwälzen, die Sklaverei der unmittelbaren Produzenten um die Sklaverei der Frauen ergänzen. "In dem Verhältnis also, wie die Reich­tümer sich mehrten, gaben sie einerseits dem Mann eine wichtigere Stellung in der Familie als der Frau und erzeugten andererseits den Antrieb, diese verstärkte Stellung zu benutzen, um die hergebrachte Erbfolge zugunsten der Kinder umzustoßen. Dies ging aber nicht, solange die Abstammung nach Mutterrecht galt. Diese also mußte umgestoßen werden, und sie wurde umgestoßen."[26] Damit war das Matriarchat durch das Patriarchat abgelöst worden. "Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung."[27]

[...]


[1] Wetter, Gustav A., Philosophie und Naturwissenschaft in der Sowjetunion, Hamburg 1958, S. 10

[2] ibidem, S. 10

[3] Marx, Karl, Thesen über Feuerbach, [1845], MEW 3, S. 5

[4] Wetter, Gustav A., a.a.O., S. 10

[5] Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, S. 5

[6] ibidem, S. 7

[7] Marx, Karl/ Engels, Friedrich, Die Deutsche Ideologie [1845/46], MEW 3, S. 26

[8] ibidem, S. 26

[9] ibidem, S. 20

[10] Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, S. 6

[11] Marx/ Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 21

[12] Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx, Freiburg/München 1984, S. 63

[13] Marx/ Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 28

[14] ibidem, S. 29f

[15] ibidem, S. 30

[16] ibidem, S. 25

[17] Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie, Freiburg/ München, 1981, S. 96

[18] Marx/ Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 32

[19] Engels, Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen, [1884], MEW 21, S. 53

[20] Plechanow, Georgi W., Grundprobleme des Marxismus, [1908], Berlin 1958, S. 48f

[21] Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, MEW 21, S. 58

[22] ibidem, S. 59

[23] Marx, Karl, Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow, 28. 12. 1846, MEW 27, S. 452

[24] Plechanow, a.a.O., S. 49

[25] Marx/ Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 32

[26] Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, MEW 21, S. 60

[27] ibidem, S. 61

Fin de l'extrait de 56 pages

Résumé des informations

Titre
Die Gesellschaftstheorie von Karl Marx. Eine Annäherung
Université
University of Bremen
Note
2
Auteur
Année
2000
Pages
56
N° de catalogue
V277866
ISBN (ebook)
9783656707974
ISBN (Livre)
9783656710363
Taille d'un fichier
587 KB
Langue
allemand
Mots clés
gesellschaftstheorie, karl, marx, eine, annäherung
Citation du texte
Dieter Stubbemann (Auteur), 2000, Die Gesellschaftstheorie von Karl Marx. Eine Annäherung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277866

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