Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Dekonstruktion der Identität unter dem Aspekt ‚gender’, ,race’ und ,class’ im Roman Viva o Povo Brasileiro
2.1 Einführung in die Postmoderne Philosophie
2.1.1 Zum Begriff ‘Postmoderne’
2.1.2 Zum Begriff ‘Postkolonialität’
2.1.3 Zum Begriff ‘Dekonstruktion’
2.2 Analyse und Interpretation der Dekonstruktion von Identitäten in Viva o Povo Brasileiro
2.2.1 Dekonstruktion von ‘Gender’
2.2.2 Dekonstruktion von ‘race’ und ‘class’
3. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
Bibliographie
Anhang
1.Einleitung
Spätestens seit Beginn der Moderne spielen Fragen nach Nationalität, Ethnizität und kultureller Integrität eine große Rolle. Migranten zwischen den Kontinenten verändern v.a. seit Beginn der Kolonialisierung Amerikas im 15. Jahrhundert Gesellschaften. Kulturelle Hybridität und Heterogenität, Synkretismus etc. sind zwar als Folgen dieser Entwicklung unübersehbar und kreieren dennoch Angst, Unsicherheit, Identitätskrisen, Sexismus und Rassismus.
Der Roman Viva o Povo Brasileiro von João Ubaldo Riberiro setzt sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit solchen Phänomenen auseinander und offeriert eine andere Sicht auf die Vergangenheit Brasiliens, die Akteure der nationalen Geschichte und die Identitäten in einem so vielseitigen Land.
Diese Arbeit soll anhand der Analyse einiger Figuren zeigen, wie im Roman die Kategorien ʻ gender ʼ undʻ race ʼ dekonstruiert werden. Im Zuge einer postmodernen Lektüre sollen traditionelle Vorstellungen von Identität neuen Perspektiven weichen, in denen logozentristische Denkmuster aufgebrochen werden.
Das erste Kapitel dient der Einführung in die Postmoderne und die Strategien Postkolonialität und Dekonstruktion. Danach sollen die Figuren betrachtet werden. Mithilfe feministischer, postkolonialer und poststrukturalistischer Interpretationsansätze soll erläutert werden, wie in dem Werk die Pluralität von Identität fokussiert und den LeserInnen gezeigt wird, wie starre Kategorien entgleiten können. Es soll vor allem um die Aspekte ʻ genderʼ , ʻ raceʼ und die damit verbundene Kategorie ʻ classʼ gehen und die These unterstützt werden, die u.a. Kulturwissenschaftler und Literaturwissenschaftler seit längerer Zeit vertreten: dass es sich bei der Zuweisung angeblich determinierter gesellschaftlicher Rollen aufgrund von körperlichen Merkmalen wie dem biologischen Geschlecht oder der Hautfarbe um soziale und kulturelle Konstrukte handelt, die im Denken und kollektiven Gedächtnis der Kultur einer Gesellschaft verankert sind.
Es sollen in der Arbeit die genannten Diskurse aufgegriffen und auf die analytische Betrachtung der Charaktere angewandt werden. Außerdem werden einige literarische Mittel zur Dekonstruktion von Identität dargelegt.
Zum Schluss sollen die grundlegenden diskursiven und rhetorischen Strategien, die ebendieser Dekonstruktion dienen, resümiert und die Bedeutung und mögliche Intention dessen genannt werden.
2. Die Dekonstruktion der Identität unter dem Aspekt‚gender’,race’ und class’ im Roman Viva o Povo Brasileiro
Das Ziel des Hauptteils stellt die Analyse einiger Romanfiguren dar, anhand derer die Auflösung starrer Kategorien von Identitäten im Rahmen einer postmodernen Lesart dargestellt werden soll. Der allwissende Erzähler des Romans bietet unterschiedliche Perspektiven, die erörtert und interpretiert werden und schließlich die These stützen sollen, dass im Text mit ideologischen Konventionen gebrochen wird. Einige literarische Mittel wie die Allegorie, die Karnevalisierung, die Ironie und die Anwendung rhetorischer Fragen, Wiederholungen und Appelle sollen erklärt werden. Zum Verständnis der Interpretationsmethodik, soll zunächst eine Einleitung zur Postmoderne gegeben werden.
2.1 Einführung in die Postmoderne Philosophie
In diesem Kapitel soll es sich nicht um eine vollständige und ausführliche Erklärung aller Aspekte dieser Geistesrichtung handeln, sondern vielmehr eine Idee ihrer grundlegenden Ziele vermittelt werden. Als Hauptquelle dient dabei der Artikel „Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept“ von Alfonso de Toro.
Zunächst soll der Begriff ‘Postmoderne’ definiert und anschließend zwei bedeutsame diskursive Strategien der Bewegung erläutert werden.
2.1.1 Zum Begriff ‘Postmoderne’
Das Wörterbuch der philosophischen Begriffe[1] (cf. 1998: 510) bietet folgende Definition:
„Ein über die Kunst und Literaturtheorie in die Philosophie gekommener Begriff, der zunächst einen Stil und das ihm korrespondierende nachgeschichtliche Bewusstsein kennzeichnet, in dem heterogene Stile und Stilelemente der Vergangenheit zitiert und kombiniert werden.“
Alfonso de Toro (cf. 2002: 16) konstatiert, dass die Postmoderne „eng verbunden mit der Aufhebung des Logos und damit des Ursprungs und mit der Aufhebung von Kategorien wie Wahrheit und Vernunft “ ist. Das fragmentierte, nomadische und rhizomatische Wissen und Denken führt er (cf. 2002: 16) als neue Strategien an. Zu bedeutsamen VertreterInnen dieses neuen „Denkstils“ (cf. WPB 1998: 510) zählen u.a. Jacques Derrida, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jean Baudrillard und Gianni Vattimo (cf. de Toro 2002: 16). Deren Ideen üben nach de Toro (cf. 2002: 16) eine prinzipielle Kritik an der Basis des Wissens, der Theorien und geltenden Normen im 20. Jahrhundert und stellen sie fundamental in Frage. Das traditionelle Wissen wird neu geordnet und in Begriffen ‘Rhizom’, ‘Spur’, ‘Diff ae renz’[2], ‘Paralogie’, ‘Gleiten’ sowie ‘Dezentrierug’ repräsentiert (cf. de Toro 2002: 16). Autoritäre und legitimistische Diskurssysteme wie bsw. die Philosophie Hegels, Marx’, Freuds, die Ideologie des Sozialismus, des Imperialismus und der Kolonialzeit, werden in der Postmoderne aufgehoben (cf. de Toro 2002: 17).
Die Infragestellung der Repräsentations- und Legitimationsweisen dieser Systeme bleibt nicht folgenlos, sondern übt einen bedeutenden Einfluss auf alle Lebensbereiche aus (cf. de Toro 2002: 17). Es ergeben sich innerhalb eines beachtlichen Paradigmenwechsels in der Kulturinterpretation und der Beschreibung geschichtlicher Prozesse eine stetige Relektüre der Kultur und neue Konstruktionen mit Hilfe der Dekonstruktion (cf. de Toro 2002: 17). Einen für die Romananalyse wichtigen Punkt, auf den Alfonso de Toro (cf. 2002: 17) aufmerksam macht, bildet die Möglichkeit, dass die Stimmen der Peripherie, welche ehemals aus den Diskursen des Zentrums ausgeschlossen und „unter dem Logos begraben“ waren, sich erheben. Durch diese Form der Entgrenzung werden sie nicht länger dem Irrationalen, Exotischen oder Primitiven zugeordnet und abgewertet, sondern können an den Debatten des Zentrums, innerhalb derer sich zunehmend neue Kriterien der Vernunft und Logik etablierten, teilhaben (cf. de Toro 2002: 17).
De Toro (cf. 2002: 17) geht auch auf die von Lacan ausgearbeitete Theorie der „Dezentrierung des Subjekts“ ein. Die Idee der humanistischen Einheit eines Subjekt-Wesens, welches sich aus dem eigenen Selbst heraus begründet, wird abgelöst durch jene, bei der es sich über „die Begegnung mit einem Dritten“ definiert (cf. de Toro 2002: 17). Es handelt sich um ein Zeichenprodukt, gefangen in und durch Sprache und determiniert durch kulturelle Normen (cf. Berressem 2004: 220). Unendliche rhizomatische Prozesse und diskursive Formationen produzieren demzufolge das Subjekt (cf. de Toro 2002: 17).
Daraus resultieren dem Autor zufolge (cf. 2002: 17) eine Veränderung des Verständnisses und der Konstruktion der Begriffe Wirklichkeit und Realität. Häufig existiert eine Vorstellung des Endes von Theorie, Systemen, Wissen, Ethik und Geschichte (cf. de Toro 2002: 17). Der Literaturwissenschaftler (cf. 2002: 18) stellt dieser Sichtweise die Hervorhebung des Vorteils der postmodernen Lesarten als Alternative gegenüber traditionellen Denk- und Interpretationsweisen gegenüber:
„Dass Wahrheit und ethische Normen ausgehandelt werden müssen, dass die Andersheit, die Differ ae nz, immer wieder von neuem bewohnt und erkämpft werden müssen, ohne dass diese zu einer Aufhebung im Sinne Hegels gelangen, heißt nicht, dass wir in der puren Beliebigkeit und Irrationalität leben.“ (cf. de Toro 2002: 18).
Er (cf. 2002: 19) versteht die Postmoderne als „ʽrekodifiziert-aufklärerische und integrativ-pluralistische Tätigkeit’“ mit einem weiten Paradigma, insbesondere der Kultur des Abendlandes, unter Einschluss anderer Kulturen, wobei ihre jeweiligen Traditionen überdacht und neu gestaltet werden können. Schließlich geht de Toro (cf. 2002: 19-20) auf potentielle Probleme ein: durch die Auflösung tradierter Denkmuster, Realitäts- und Wahrheitsdefinitionen, gäbe es keine normative Größe zur eigenen Positionierung in Diskursen, wodurch eine Situation des in-between entstünde, die bei einigen Menschen Unbehagen wecken und bis hin zur Ablehnung führen könne. Zweitens wird der Postmodernität die Etablierung eines neuen hegemonialen Metadiskurses vorgeworfen – dies entkräftet de Toro (cf. 2002: 20) damit, dass diesen Problem bewusst wahrgenommen wird und dementsprechend die eigenen Positionen stets hinterfragt werden und der Metadiskurs in den Prozess des Denkens und Formulierens integriert ist, sodass der eigene Diskurs prinzipiell als relativ und unvollendet angesehen werden kann. Dieses Prinzip bezeichnet er (cf. 2002: 19) in diesem Zusammenhang als Dekonstruktion.
2.1.2 Zum Begriff ‘Postkolonialität’
Als eine Perspektive der Postmoderne führt Alfonso de Toro (cf. 2002: 27) die Postkolonialität an, die sich durch Dekonstruktivismus, Intertextualität und Interkulturalität in ihrem Denken und Handeln auszeichnet. Die Geschichte wird innerhalb dieser dezentriert und re-kodifiziert, das Denken geprägt von Hybridität, Heterogenität, Subjektivität, radikaler Besonderheit und Verschiedenartigkeit sowie Universalität (cf. de Toro 2002: 27). Demnach existiert keine Geschichtsschreibung mehr, die Anspruch erheben kann, die Wahrheit wiederzugeben. Stattdessen sollte die Vielfältigkeit ihrer Dimensionen akzeptiert und Brüche, Widersprüche, die Pluralität und Diskontinuität innerhalb von Diskursen interpretiert werden (cf. de Toro 2002: 27). Der Terminus ‘Postkolonialität’ bezeichnet ein kulturelles Konzept, das Vergangenes und Gegenwärtiges re-kodifiziert und zu einer einheitlichen Zukunft verbindet (cf. de Toro 2002: 27). Es handelt sich um eine kulturelle diskursive Strategie im Kontext des Poststrukturalismus und der Postmoderne (cf. de Toro 2002: 27). Der Autor (cf. 2002: 21) weist dabei darauf hin, dass die Theorien der Postmoderne und der postkoloniale Diskurs sich an jener Stelle treffen, an der konstatiert wird, dass das Wissen der Kolonisatoren / Europäer, welches sowohl für die Machtausübung über die Anderen, die Kolonisierten, als auch für die Identität der Kolonisatoren maßgeblich ist, sich letztendlich immer als brüchig erweist. Innerhalb der Debatte des Postkolonialismus kommen einige bedeutende Kulturtheoretiker zu Wort: dazu gehören Edward W. Said (Orientalism, 1978) und Homi Bhabha (The Location of Culture, 1994), deren Ideen verflochten sind mit denen der Vertreter der Postmoderne und des Poststrukturalismus (cf. de Toro 2002: 20). Bei einer ihrer wichtigsten Aussagen handelt es sich de Toro zufolge (cf. 2002: 20) um die Beschreibung der Kultur als Konstruktion, im Gegensatz zur traditionellen Vorstellung einer genetischen, bzw. nationalen oder historisch gewachsenen Einheit. Diese Konstruktion diene der Bildung einer eigenen Identität in Abgrenzung zu anderen, ohne dabei wahrzunehmen, dass das Andere längst in der eigenen Kultur integriert ist (cf. de Toro 2002: 20-21). Innerhalb dieses Diskurses werden zudem Hybridisierungsprozesse deutlich (cf. de Toro 2002: 21), wobei Hybridität nach de Toro „kultursemiotisch als ein Archilexem verstanden werden [kann], das ethnische, soziale und kulturelle Elemente der Andersheit in ein kulturelles und politisches Handeln einbindet, in dem Macht und Institutionen eine Zentrale Rolle spielen […]. Hybridität ist durch Differ ae nz und Alt a rität konstituiert […] [und] erhält zusätzlich eine ethnisch-ethnologische Komponente einer nicht allein durch das abendländische Denken geprägten Kultur, die von anderen Vernunfts-, Realitäts- und Geschichtskategorien ausgeht.“ (de Toro 2002: 37).
Elemente wie ʻSynkretismusʼ und ʻMestizismusʼ spielen eine bedeutende Rolle innerhalb dieses ihnen übergeordneten Begriffs (cf. de Toro 2002: 37). Das Irrationalmachen des Anderen dient dem eigenen Rationalmachen und zeigt, dass der postkoloniale Diskurs die Metadiskurse hegemonisch agierender Kolonisatoren, die sich selbst zu legitimieren suchen, dekonstruiert (cf. de Toro 2002: 21-22).
Um die, für die Romananalyse nötigen theoretischen Aspekte der Postkolonialität zu vervollständigen, soll schließlich noch Homi Bhabhas Beschäftigung mit dem „Aushandeln der Andersheit“ (de Toro 2002: 22) erläutert werden. Die Begriffe oder Strategien des ʻunhomelyʼ, bzw. synonymisch dazu des ʻinbetweenʼ und der sogenannten ʻmimikryʼ spielen dabei eine zentrale Rolle. Die ʻmimikryʼ meint einen reinventiven Akt während der Begegnung mit dem Anderen oder eine „Akkomodierung“, d.h. eine Ansiedlung, der keine Anpassung folgt (cf. de Toro 2002: 23). De Toro (cf. 2002: 23) bezeichnet die Strategie des ʻunhomelyʼ und ʻinbetween’ als Konsequenz der Mimikry, die bewusst machen soll, dass bereits die Begegnung mit dem Anderen eine „Entterritorialisierung aus dem Eigenen“ herbeiführt. Die beiden Kategorien weisen de Toro (cf. 2002: 23) zufolge auf einen Zustand des Nomadismus und der Hybridität hin, die ʻmimikryʼ sei ein permanent ablaufender Prozess. Es zeigt sich, dass Identität unmöglich monokulturell entstehen kann, sondern ausnahmslos hybrid ist (cf. de Toro 2002: 23). Entgegengesetzt einem Diskurs, der von determinierten Subjekten und Objekten ausgeht, beschreibt Bhabhas Begriff des ʻbeyond’ - oder wie bei Derrida ʻau-delà’ - eine Strategie, die keine spezielle oder essentialistische Form von Sein beansprucht, sondern eher eine dynamische, nicht festgelegte Form, die einer permanenten ʻnegociationʼ ausgesetzt ist (cf. de Toro 2002: 23). Bei solch determinierten Formen des Seins kann es sich zum Beispiel um die von de Toro beschriebenen (cf. 2002: 22) stereotypischen oder klischeehaften Bilder von Kolonisierten als irrational, barbarisch, sinnlich und faul handeln, Menschen denen jegliche Entwicklung abgesprochen wird und die dem weiblichen Element zugeordnet werden. Ihnen gegenüber stünden demzufolge die vorgeblich rationalen, zivilisierten und fortschrittlicher entwickelten Kolonisatoren, die Sexualtriebe kontrollieren könnten und sich durch Fleiß und Moralität auszeichneten (cf. de Toro 2002: 22). Die angebliche Überlegenheit entspräche dem männlichen Element (cf. de Toro 2002: 22). Solche Stereotypen aufzubrechen und zu delegitimieren, kann als grundlegendes Ziel der postkolonialen Debatte gelten und spiegelt sich in dem Terminus oder der Strategie der Dekonstruktion wieder.
[...]
[1] Im Folgenden mit ʽWPB’ abgekürzt.
[2] ʽDiffer ae nz’ definiert A. de Toro (cf. 2002: 36-37) als „ Herangehen an das Andere der Vernunft und der Geschichte, eine Logik der ʽSupplementarität’, der ʽRückfallung’, des Gleitens von kulturellen Größen […], die sich nicht auf kulturelle oder ethnische Ursprünge reduzieren lassen “ bzw. als „die Dekonstruktion eines metaphysischen Logos okzidentaler Prägung“. Mit diesem Begriff eng verbunden ist der Terminus ʽAlt a rität’ im Sinne einer operationalen Kategorie, in der kulturelle Differenzen prozesshaft ausgehandelt werden (cf. de Toro 2002: 37).