Keineswegs kann ich weiterleben. Denn solange ich lebe, würden die Leute höhnen, und niemand sähe die Wahrheit ein. Die Wahrheit aber ist, daß meine Frau mir treu war – ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist, und ich besiegle es durch meinen Tod.
So beginnt Arthur Schnitzlers Erzählung „Andreas Thameyers letzter Brief“: Der Ich-Erzähler erklärt seine Absicht, sich umzubringen, damit die Leute einsehen, dass seine Frau ihm treu war. Bereits diese Aussage ist in sich unlogisch: Warum sollten andere glauben, dass seine Frau ihm treu war, wenn er sich umbringt? Folglich wird gleich zu Beginn der Erzählung die Zuverlässigkeit des Erzählers in Frage gestellt, da die Frage nach dem wahren Grund für die Selbstmordabsicht aufgeworfen wird. In der folgenden Erzählung stellt sich heraus, dass die Frau des Ich-Erzählers zwei Wochen zuvor ein Kind mit schwarzer Hautfarbe geboren hat. In seinem Abschiedsbrief versucht Thameyer, dieses ungewöhnliche Ereignis auf natürliche Weise zu erklären. Da es sich bei Andreas Thameyer um einen intradiegetischen Erzähler handelt, also um einen Bewohner der erzählten Welt, ist er prädestiniert dafür, unzuverlässig zu erzählen und seine Glaubwürdigkeit ist von vornherein eingeschränkt. In diesem Essay soll anhand von drei Textauszügen gezeigt werden, dass es sich bei Andreas Thameyer um einen unzuverlässigen Erzähler handelt.
Inhaltsverzeichnis
- Keineswegs kann ich weiterleben. Denn solange ich lebe, würden die Leute höhnen, und niemand sähe die Wahrheit ein. Die Wahrheit aber ist, daß meine Frau mir treu war ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist, und ich besiegle es durch meinen Tod.
- Wirst du mir verzeihen, liebe Gattin, daß ich nun sterben gehe? Siehe, du musst es tun. Es ist ja nur aus Liebe zu dir, daß ich sterbe, denn ich kann es nicht ertragen, daß die Leute höhnen, daß sie dich verlachen und mich! Nun werden sie wohl aufhören zu lachen, nun werden sie es verstehen, wie ich es verstehe. Ihr, die ihr mich, die ihr diesen Brief finden werdet, wisset, daß sie, während ich dieses schreibe, in dem Zimmer nebenan schläft, ruhig schläft, wie man nur mit einem guten Gewissen schlafen kann; und ihr Kind unser Kind, das nun vierzehn Tage alt ist, liegt in der Wiege neben dem Bett und schläft gleichfalls. Und bevor ich das Haus verlasse, werde ich hingehen und werde meine Frau und mein Kind auf die Stirn küssen, ohne sie aufzuwecken. Ich schreibe das alles so genau, damit man nicht etwa meint, ich sei wahnsinnig...nein, es ist wohlüberlegt, und ich bin vollkommen ruhig.
- Nun ist ja alles vorüber und ich werfe auf niemanden einen Stein. Aber ich habe dies alles aufgeschrieben, denn ich finde es notwendig, daß diese Sache völlig klar gestellt werde. Würde ich das nicht tun, wer weiß, ob die Leute in ihrer Erbärmlichkeit nicht endlich noch sagten: er hat sich umgebracht, weil seine Frau ihn betrogen hat...Nein, ihr Leute, nochmals, meine Frau ist treu, und das Kind, das sie geboren hat, ist mein Kind! Und ich liebe sie beide in diesem Augenblick. In den Tod treibt nur ihr mich, ihr alle, die ihr zu armselig oder zu boshaft seid zu glauben oder zu verstehen. Und je mehr ich zu euch reden und versuchen würde, euch den Vorfall wissenschaftlich zu erklären...ich weiß es ja, um so mehr würdet ihr höhnen und lachen, wenn auch nicht vor mir, so hinter meinem Rücken oder ihr würdet gar sagen: „Thameyer ist wahnsinnig."
- Und daß es eine so eigentümliche Hautfarbe hat, werde ich nunmehr auf die einfachste Weise erklären. Nur Böswilligkeit und Unbildung kann sich dieser Erklärung verschließen, und ich wage zu behaupten, wenn wir unter Menschen lebten, die nicht boshaft und albern wären, könnte ich am Leben bleiben, denn jeder sähe es ein. So aber will es niemand einsehen, und sie lächeln und lachen. Sogar Herr Gustav Rengelhofer, der Onkel meiner Frau, dem ich stets die größte Achtung erwiesen, hat in einer mich sehr verletzenden Art mit den Augen gezwinkert, als er mein Kind zum ersten Mal sah, und meine eigene Mutter sie hat mir die Hand gedrückt, in einer höchst sonderbaren Art, als bedürfe ich ihrer Teilnahme. Und meine Kollegen im Bureau haben miteinander geflüstert, als ich gestern eintrat, und der Hausmeister, dessen Kindern ich zu Weihnachten meine alte, verdorbene Uhr geschenkt habe immerhin als Spielzeug tut solch ein Uhrgehäuse seine Dienste...der Hausmeister hat sich das Lachen verbissen, als ich gestern an ihm vorbeiging, und unsere Köchin macht ein Gesicht, so lustig, als wenn sie betrunken wäre, und der Spezereihändler an der Ecke hat mir nachgeschaut, schon drei- oder viermal...neulich ist er an der Türe stehen geblieben und sagte zu einer alten Dame: das ist er.
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Essay analysiert die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers in Arthur Schnitzlers Erzählung „Andreas Thameyers letzter Brief“. Die Autorin untersucht, wie der Erzähler durch seine Aussagen, seine Gedanken und seine Wahrnehmung der Welt die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte untergräbt.
- Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers
- Widersprüche und unlogische Aussagen
- Subjektivität und emotionale Aufladung der Erzählung
- Die Frage nach dem wahren Grund für den Selbstmord
- Die Rolle der Wahrnehmung und Interpretation in der Erzählung
Zusammenfassung der Kapitel
Der Essay beginnt mit der Analyse der ersten Sätze des Briefes, in denen Thameyer seine Selbstmordabsicht erklärt. Die Autorin stellt die Frage nach der Logik dieser Aussage und zeigt, wie bereits zu Beginn der Erzählung die Zuverlässigkeit des Erzählers in Frage gestellt wird. Sie führt das Beispiel der Königin Persina an, das Thameyer in seinem Brief verwendet, um die Treue seiner Frau zu beweisen. Die Autorin argumentiert, dass dieses Beispiel die Naivität des Erzählers und seine Unfähigkeit, die Situation objektiv zu betrachten, deutlich macht.
Im zweiten Abschnitt analysiert die Autorin einen Auszug aus dem Brief, in dem Thameyer seine Motive für den Selbstmord darlegt. Sie zeigt, wie Thameyer innerhalb eines Satzes das vermeintliche Motiv und das wahre Motiv durchscheinen lässt. Die Autorin argumentiert, dass Thameyers Unzuverlässigkeit in diesem Abschnitt daran festzumachen ist, dass er offensichtlich unlogische Gründe für seinen Selbstmord nennt und die wahren Gründe nur versteckt geäußert werden. Sie analysiert auch den Schreibstil des Briefes und zeigt, wie er auf Thameyers emotionale Aufgewühltheit hindeutet.
Im dritten Abschnitt analysiert die Autorin eine Passage aus dem Ende der Erzählung, in der Thameyer seine Aussagen über die Treue seiner Frau wiederholt. Die Autorin zeigt, wie Thameyer in diesem Abschnitt seine vorherigen Aussagen in Frage stellt und zugeben muss, dass die Leute seinen Theorien keinen Glauben schenken werden. Sie argumentiert, dass Thameyer weniger ein naiver Ich-Erzähler ist, sondern eher ein obsessiver, emotional aufgeladener Erzähler.
Im vierten Abschnitt analysiert die Autorin eine Passage, in der Thameyer beschreibt, wie die Leute ihn verlachen. Die Autorin zeigt, wie Thameyers Wahrnehmung der Situation sehr subjektiv ist und er bestimmte Gesten überinterpretiert. Sie argumentiert, dass Thameyer sich in die Angelegenheit reinsteigert und nicht mehr objektiv berichten kann.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers, die Widersprüche und unlogischen Aussagen in der Erzählung, die Subjektivität und emotionale Aufladung der Erzählung, die Frage nach dem wahren Grund für den Selbstmord und die Rolle der Wahrnehmung und Interpretation in der Erzählung. Der Text analysiert Arthur Schnitzlers Erzählung „Andreas Thameyers letzter Brief“ und untersucht, wie der Erzähler durch seine Aussagen, seine Gedanken und seine Wahrnehmung der Welt die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte untergräbt.
- Quote paper
- Patricia Schneider (Author), 2011, Unzuverlässiges Erzählen in Schnitzlers "Andreas Thameyers letzter Brief", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278155