Die historische Figur des Frauenverführers Giacomo Girolamo Casanova gab Anlass zu zahlreichen literarischen Werken und Filmen. Dabei wurde er in den meisten Fällen als jugendlicher Abenteurer und Frauenheld dargestellt. In seiner Novelle Casanovas Heimfahrt wählt Arthur Schnitzler jedoch einen anderen Blickwinkel: er beschreibt einen späteren Abschnitt in Casanovas Leben, in dem dieser die Blüte seines Lebens bereits hinter sich hat. Schnitzler spielt dabei mit den Erwartungen seiner Leser, da er nicht den Abenteurer Casanova, sondern den müden Heimkehrer zum Mittelpunkt seiner Novelle macht. Im Verlauf der Novelle wird deutlich, dass sich Casanova in einer Identitätskrise befindet. Die Gründe für diese Krise und deren Auswirkungen sollen im ersten Teil dieses Essays genauer untersucht werden. In einem zweiten Schritt wird das Augenmerk auf der Erzählweise liegen, da sich als Resultat der Identitätskrise an verschiedenen Stellen Anzeichen für unzuverlässiges Erzählen finden lassen.
Inhaltsverzeichnis
- Die historische Figur des Frauenverführers Giacomo Girolamo Casanova gab Anlass zu zahlreichen literarischen Werken und Filmen. Dabei wurde er in den meisten Fällen als jugendlicher Abenteurer und Frauenheld dargestellt. In seiner Novelle Casanovas Heimfahrt wählt Arthur Schnitzler jedoch einen anderen Blickwinkel: er beschreibt einen späteren Abschnitt in Casanovas Leben, in dem dieser die Blüte seines Lebens bereits hinter sich hat. Schnitzler spielt dabei mit den Erwartungen seiner Leser, da er nicht den Abenteurer Casanova, sondern den müden Heimkehrer zum Mittelpunkt seiner Novelle macht. Im Verlauf der Novelle wird deutlich, dass sich Casanova in einer Identitätskrise befindet. Die Gründe für diese Krise und deren Auswirkungen sollen im ersten Teil dieses Essays genauer untersucht werden. In einem zweiten Schritt wird das Augenmerk auf der Erzählweise liegen, da sich als Resultat der Identitätskrise an verschiedenen Stellen Anzeichen für unzuverlässiges Erzählen finden lassen.
- Schnitzlers Novelle setzt an einem Punkt in Casanovas Leben ein, an dem dieser schon 53 Jahre alt ist und in Mantua auf einen Brief wartet, der ihm die Erlaubnis zur Rückkehr in seine Heimatstadt Venedig erteilt. Während eines morgendlichen Spaziergangs trifft Casanova auf Olivo, einen Freund, dem er 16 Jahre zuvor durch eine Geldspende zur Heirat verholfen hatte. Erfreut über das unerwartete Wiedersehen lädt Olivo seinen alten Freund ein, bei sich zu wohnen. Im weiteren Verlauf der Handlung wird vor allem an den Begegnungen und Unterhaltungen zwischen Casanova und den anderen Bewohnern und Gästen in Olivos Anwesen deutlich, dass sich der Protagonist in einer Identitätskrise befindet. Als Casanova beispielsweise am ersten Abend seines Besuches gebeten wird, von sich zu erzählen, wird klar, wie sehr sich Casanovas Leben gewandelt hat:
- Aus dem jungen, verschwenderischen Abenteurer ist ein verarmter, gealterter Mann geworden, der sich von seinen Freunden aushalten lassen muss. Im obigen Abschnitt wird allerdings deutlich, dass Casanova sich diese Tatsache nicht gerne eingesteht, sondern immer noch vergangenen Zeiten nachhängt und an seinen früheren Abenteuern hängt. Dies zeigt sich auch daran, dass Casanova im Verlauf der Handlung immer wieder gedanklich abschweift und sich an sein früheres Leben erinnert. Offensichtlich hat er sich also noch nicht damit abgefunden, dass sein Leben sich geändert hat.
- Theoretisch könnte man erwarten, dass Casanova bereut, sein Leben mit etwas verschwendet zu haben, das er im Alter nicht mehr leisten kann. Doch als Casanova nach einem Spielabend alleine in seinem Zimmer ist und über sein Leben nachsinnt, wird deutlich, welchen Stellenwert seine amourösen Abenteuer für ihn haben. So führt sich Casanova vor Augen, dass er in einem anderen Bereich, als Dichter, Philosoph, Finanzmann oder Diplomat durchaus hätte erfolgreich sein können, wenn er sich nur nicht immer von den Frauen hätte ablenken lassen.² Jedoch gesteht er sich kurz darauf ein, dass er dennoch nicht bereut, sein Leben so geführt zu haben, wie er es getan hat. Dadurch wird deutlich, wie wichtig Casanova das allseits bekannte Bild von ihm als Frauenverführer ist. Auch wenn seine gegenwärtige Hauptbeschäftigung das Verfassen einer Streitschrift gegen Voltaire ist und er im Verlauf der Novelle auf verschiedene seiner selbst verfassten literarischen Werke verweist, so ist er sich doch bewusst, dass die meisten Menschen ihn wegen seines Rufs als Frauenverführer kennen. Dieses Bild von ihm als Frauenheld ist also für Casanova ein wichtiger Teil seiner Identität.
- Umso schlimmer ist es für ihn, zu merken, dass seine Zeit vorbei ist. Dies zeigt sich besonders in der Szene, in der Casanova zum ersten Mal Leutnant Lorenzi begegnet:
- Bei dieser ersten Begegnung mit Lorenzi wird deutlich, dass Casanova erkennen muss, dass seine Zeit vorbei ist und es nun andere schöne junge Männer gibt, welche die Frauen verführen, die er früher verführte. Dies wird besonders klar am Beispiel von Olivos Nichte Marcolina. Als Olivo Casanova einlädt, einige Tage auf seinem Anwesen zu verbringen, will Casanova dieses Angebot zuerst ausschlagen, da Olivos Frau, die Casanova schon einmal besessen hat, und dessen minderjährige Töchter keinen Reiz für den Frauenhelden darstellen. Erst als Olivo auch seine gebildete jugendliche Nichte erwähnt, willigt Casanova ein, mitzukommen. In Casanovas Begegnungen mit Marcolina werden zwei Dinge deutlich: Zum einen zeigt sich erneut, dass Casanova die besten Jahre hinter sich hat, da Marcolina auf dessen Annäherungsversuche mit Kälte oder gar Abneigung reagiert. Zum anderen wird jedoch auch Casanovas Männlichkeitswahn deutlich. So fantasiert er bereits darüber, Marcolina zu besitzen, bevor er sie überhaupt kennen gelernt hat und legt alles daran, eine Nacht mit ihr zu verbringen. Dabei schreckt er nicht einmal vor der Täuschung von Marcolina zurück.
- So kann er schlussendlich nur eine Nacht mit ihr verbringen, weil er sie in dem Glauben lässt, er sei Lorenzi. Als Casanova am nächsten Morgen aufwacht und Marcolina den Betrug erkennt, zeigt sich, was Casanova am meisten zu schaffen macht:
- In dieser Szene wird deutlich, dass es das Alter ist, mit dem Casanova sich nicht abfinden kann. Seine Identitätskrise besteht folglich darin, dass er nicht damit klarkommt, dass er den Glanz seiner Jugend verloren hat, dass sich sein Leben derart geändert hat und dass es nun andere junge Männer gibt, die ihn gewissermaßen ablösen. Als Folge der Identitätskrise kann der Männlichkeitswahn gesehen werden, der sich dadurch bemerkbar macht, dass Casanova Marcolina um jeden Preis besitzen will – und das schon bevor er sie überhaupt kennt.
- Die Novelle ist nicht direkt aus der Sicht Casanovas geschrieben, sondern wird durch einen heterodiegetischen Erzähler vermittelt. Da der Leser jedoch immer Casanovas Perspektive auf die Ereignisse, seine Gedanken und Gefühle mitbekommt, liegt die Fokalisierung eindeutig bei ihm. Im Lauf der Geschichte erinnert sich Casanova immer wieder an frühere Erlebnisse und erzählt diese aus seiner Erinnerung. Dabei wird die Frage aufgeworfen, wie zuverlässig diese Erzählungen sind. So heißt es beispielsweise an dem ersten Abend, an dem Casanova von seinen früheren Abenteuern erzählt:
- An dieser Stelle wird also explizit auf Casanovas Unzuverlässigkeit hingewiesen, da erwähnt wird, dass er seine Geschichten ausschmückt. Des Weiteren lassen sich an zwei Charakterzügen Casanovas Anzeichen für Unzuverlässigkeit finden. Zum einen zeigt sich, dass Casanova vorsätzlich lügt. Dies geschieht beispielsweise, wenn er allen erzählt, dass er dringend nach Venedig zurückkehren soll und dort schon erwartet wird. In Wahrheit hat Casanova zu Beginn der Novelle noch keine positive Antwort erhalten. Diese erhält er erst, als er bei Olivo wohnt und dann nicht einmal in der Art, wie er es zuvor immer dargestellt hat. So wird Casanova nicht dringend gebeten, in seine Heimatstadt zurückzukehren, sondern erhält lediglich ein Angebot, um als Spion für die Polizei zu arbeiten. In dem Brief, den Casanova erhält, heißt es sogar, dass seine Rückkehr ihm verweigert werde, sollte er dieses Angebot nicht annehmen. Somit wird klar, dass Casanova vorsätzlich lügt und andere täuscht.
- Die Täuschung seiner Umgebung bildet auch den zweiten Punkt, an dem Casanovas Unzuverlässigkeit festgemacht werden kann. So wird an verschiedenen Stellen deutlich, dass Casanova nur selten seine wahren Gefühle zeigt. In der gerade erwähnten Szene, in der Casanova diesen eher unerfreulichen Brief erhält, wird seine Reaktion folgendermaßen geschildert:
- In diesem Abschnitt zeigt sich, dass Casanova ein guter Schauspieler ist, der oft seine wahren Gefühle verbirgt und nicht selten auch die Menschen in seiner Umgebung vorsätzlich anlügt.
- In der Novelle Casanovas Heimfahrt wird dem Leser also ein Blick hinter die Fassade des gealterten Frauenhelden gewährt. Dabei wird deutlich, dass Casanova nicht mit den geänderten Lebensumständen klarkommt und sich in einer Identitätskrise befindet. Da er im Verlauf der Handlung oft an seine frühere, glanzvollere Zeit zurückdenkt und von seinen damaligen Abenteuern erzählt, wird die Frage aufgeworfen, wie zuverlässig diese Darstellungen von ihm sind. Es wird an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen, dass Casanova einen Hang dazu hat, seine Geschichten auszuschmücken und die Menschen in seiner Umgebung vorsätzlich anzulügen und zu täuschen. Die Zuverlässigkeit der Erzählung kann also teilweise in Frage gestellt werden.
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Essay analysiert die Identitätskrise des Protagonisten Giacomo Casanova in Arthur Schnitzlers Novelle "Casanovas Heimfahrt". Die Arbeit untersucht die Gründe für Casanovas Krise und deren Auswirkungen auf seine Handlungen und Beziehungen. Darüber hinaus wird die Frage nach der Zuverlässigkeit der Erzählung im Kontext der Identitätskrise beleuchtet.
- Casanovas Identitätskrise im Kontext des Alterns und der Veränderung seiner Lebensumstände
- Die Bedeutung des Frauenhelden-Images für Casanovas Selbstverständnis
- Casanovas Männlichkeitswahn und seine Auswirkungen auf seine Beziehungen zu Frauen
- Anzeichen für unzuverlässiges Erzählen in der Novelle
- Die Rolle der Erinnerung und der Vergangenheit in Casanovas Selbstwahrnehmung
Zusammenfassung der Kapitel
Der Essay beginnt mit einer Einführung in die Figur des Giacomo Casanova und die Darstellung seiner Identitätskrise in Arthur Schnitzlers Novelle "Casanovas Heimfahrt". Die Novelle setzt an einem Punkt in Casanovas Leben ein, an dem er bereits 53 Jahre alt ist und in Mantua auf die Erlaubnis zur Rückkehr nach Venedig wartet. Während eines Spaziergangs trifft er auf seinen alten Freund Olivo, der ihn einlädt, bei sich zu wohnen. Durch die Begegnungen und Unterhaltungen mit den Bewohnern und Gästen in Olivos Anwesen wird deutlich, dass sich Casanova in einer Identitätskrise befindet. Er ist ein gealterter Mann, der sich von seinen Freunden aushalten lassen muss und an seinen vergangenen Abenteuern hängt. Er hat sich noch nicht mit der Veränderung seines Lebens abgefunden.
Der Essay untersucht Casanovas Selbstwahrnehmung und seine Beziehung zu seinem früheren Leben als Frauenheld. Er zeigt, dass Casanova das Bild des Frauenverführers als wichtigen Teil seiner Identität betrachtet und nicht bereit ist, dieses aufzugeben. Die Begegnung mit dem jungen Leutnant Lorenzi verstärkt Casanovas Gefühl, dass seine Zeit vorbei ist und es nun andere Männer gibt, die seine Rolle übernehmen. Die Begegnung mit Olivos Nichte Marcolina verdeutlicht Casanovas Männlichkeitswahn und seine Sehnsucht nach der Vergangenheit. Er versucht, Marcolina zu verführen, obwohl er weiß, dass er nicht mehr der junge Mann ist, der er einst war.
Der Essay analysiert die Erzählweise der Novelle und die Frage nach der Zuverlässigkeit von Casanovas Erzählungen. Es wird deutlich, dass Casanova seine Geschichten oft ausschmückt und die Menschen in seiner Umgebung anlügt. Seine Unzuverlässigkeit zeigt sich auch in seiner Fähigkeit, seine wahren Gefühle zu verbergen. Der Essay kommt zu dem Schluss, dass Casanovas Identitätskrise und seine Unzuverlässigkeit als Erzähler eng miteinander verbunden sind.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die Identitätskrise, den Frauenhelden, das Alter, die Veränderung der Lebensumstände, die Unzuverlässigkeit der Erzählung, die Erinnerung, die Vergangenheit, den Männlichkeitswahn und die Beziehung zu Frauen.
- Quote paper
- Patricia Schneider (Author), 2011, Unzuverlässiges Erzählen in "Casanovas Heimfahrt", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278156