Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Tod in Persien und Das glückliche Tal
1.1. Entstehungsrahmen von Tod in Persien
1.2. Entstehungsrahmen von Das glückliche Tal
1.3. Das Genre des glücklichen Tals
2. Autobiografische Leitmotive in Das glückliche Tal
2.1. Reisen, Ungeduld und Freiheitsdrang
2.2. Flucht und Verbannung
2.3. Aussenseitertum oder „Am Rande der Welt“
2.4. Heimweh und die Unmöglichkeit der endgültigen Heimkehr
2.5. Drogen und Magie
2.6. Sprache und Schreiben
Fazit
Bibliografie
Anhang
Einleitung
Wie Klara Obermüller in Annemarie Schwarzenbachs Gedächtnisrede im Jahr 2008 bereits sagte, „gibt [es] in der Schweizer Literatur der letzten 100 Jahre kaum einen Autor – und schon gar keine Autorin -, über die mehr geforscht, geschrieben und publiziert worden wäre als über Annemarie Schwarzenbach.“[1] Trotz des schlagartig grossen Interesses an Schwarzenbachs Leben und Werk, seit ihrer Wiederentdeckung 1987, schrieben Schweizer Germanisten bisher im Schnitt dennoch weniger über sie, als solche aus Belgien, Deutschland, Italien, Kanada und Portugal.[2]
Die Faszination an Annemarie Schwarzenbach gründet vor allem auf ihrer aussergewöhnlichen und tragischen Biografie, die geprägt ist von Konflikten mit Familie und Freunden, ihren exotischen Reisen, Homosexualität, Drogenmissbrauch und ihrem plötzlichen Tod, welche sie „im Verlaufe der Jahre zur Kultfigur“ heraushob.[3]
Mehrere Forscher, wie Walter Fähnders, Sabine Rohlf und Klara Obermüller, bedauern die Tatsache, dass der Reiz Schwarzenbachs Werke – wie vor allem Tod in Persien und Das glückliche Tal – allein biografisch zu deuten so stark geworden sei, dass den Werken als autonomen Texten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt werde.[4] Dennoch betonen auch sie, dass „Annemarie Schwarzenbachs literarische Arbeiten […] aus ihrer Biographie schöpfen“,[5] und dass gerade bei ihrer Reiseprosa „das Autobiografische und das Schreiben sehr eng beieinander zu liegen scheinen“, was schon allein mit dem Genre der Reiseliteratur begründbar ist.[6]
Doch welches sind die Ereignisse, Emotionen und Motive, die Schwarzenbach so stark beschäftigten, dass sie sie in ihre Werke einfliessen liess und weshalb unternimmt sie dies immer wieder von Neuem? Wieso kommt das autobiografische Schreiben gerade in den beiden Werken Tod in Persien und Das glückliche Tal so stark zum Vorschein? Um diese Fragen beantworten zu können, sollen in der folgenden Arbeit zentrale Leitmotive in Annemarie Schwarzenbachs Werk Das glückliche Tal auf ihren autobiografischen Gehalt hin untersucht werden, wobei sein Vorläufer Tod in Persien stellenweise als Stütze benutzt werden soll. Weil eine detaillierte Darstellung der Biografie Annemarie Schwarzenbachs zu viel Raum in Anspruch genommen hätte, wurde diese in tabellarischer Form zur Übersicht hinten im Anhang zusammengefasst, da diese im Zusammenhang dieser Arbeit dennoch unerlässlich ist; denn wie Charles Linsmayer schon behauptete, kann man „die Bilder und Motive, Andeutungen und Querverweise [ des glücklichen Tals ] [erst dann] befriedigend einzuschätzen und zu deuten wissen“, wenn man die „Lebensgeschichte Annemarie Schwarzenbachs kennt“.[7] Im Gegenzug hierzu wird in den einzelnen Kapiteln, die von autobiografischen Leitmotiven handeln, detaillierter auf einige wichtige Lebensereignisse, Seelenregungen und Lebenseinstellungen Schwarzenbachs eingegangen, um diese mit denen des Protagonisten des glücklichen Tals zu vergleichen.
Als Quellen dienten hierfür, neben den Werken Tod in Persien und Das glückliche Tal, persönliche Briefe Annemarie Schwarzenbachs an ihren Mentor, den Pfarrer Ernst Merz, an Klaus Mann, mit dem sie nicht nur eine ewige Freundschaft, sondern auch dieselbe Drogenabhängigkeit verband, und an ihre Freundin Anita Forrer, der sie aus der Entzugsklinik in Yverdon schrieb. Bedauerlicherweise sind nur noch verhältnismässig wenige ihrer Briefe erhalten, da Schwarzenbachs Mutter Renée die meisten Tagebücher und Briefe vernichtete, bevor sie publik werden konnten.[8] Daher wird stellenweise auch die von Annemaries Grossneffen, Alexis Schwarzenbach, verfasste Biografie Auf der Schwelle des Fremden. Das Leben der Annemarie Schwarzenbach als Sekundärquelle benutzt, da diese gesammelte Kopien von den wichtigsten sich im Literaturarchiv Bern und einige sich ausschliesslich in Alexis Schwarzenbach privatem Besitz befindlichen Primärquellen enthält.
In der vorliegenden Arbeit soll einem ersten Teil der Inhalt, der Entstehungsrahmen beider Werke Tod in Persien und Das glückliche Tal und das Genre des Letzteren dargestellt werden, um klare Voraussetzungen für den zweiten Teil zu schaffen, der von den konkreten autobiografischen Leitmotiven von Schwarzenbachs Leben und Werk handelt. Wie Fähnders bereits betonte sind „Einsamkeit, Trauer, Labilität und eine gewisse Entrücktheit […] in der Schwarzenbach-Rezeption wiederkehrende Motive“.[9] Im glücklichen Tal sind es das Motiv der Reise, sowie seine Begleitmotive die die Ungeduld und der Freiheitsdrang, die Motive Flucht und Verbannung, das Aussenseitertum, das Heimweh und die Unmöglichkeit der endgültigen Heimkehr, Drogen und Magie, die Sprache und das Schreiben, die eine ebenso grosse Rolle spielen und daher ebenfalls im zweiten Kapitel Eingang fanden. Die einzelnen Leitmotive werden in den Unterkapiteln jeweils zuerst auf textnaher Ebene und daraufhin auf Parallelen in Schwarzenbachs Biografie hin untersucht. Zum Schluss werden die gesammelten Ergebnisse zu den aufgeworfenen Fragen in einem Fazit zusammengefasst.
1. Tod in Persien und Das glückliche Tal
Für die verwandten Werke Tod in Persien und Das glückliche Tal hatte Annemarie Schwarzenbach dieselbe Kulisse, dieselbe Zeitspanne und dieselben Ereignisse als Inspiration, nämlich ihre drei Orientreisen, die in beiden Texten ihren inhaltlichen Niederschlag fanden. Während der Inhalt beider (semi)fiktionaler Werke relativ ähnlich ist, unterscheiden sie sich jedoch von Grund auf – trotz vielen wörtlichen Überschneidungen – in Form und Stil. Zudem ist der Fokus in Tod in Persien mehr auf die chronologische Handlung gerichtet, während die Aufmerksamkeit des Lesers des glücklichen Tals zunehmend auf die Stimmungslage des Protagonisten gelenkt wird.
In beiden Werken befindet sich der Ich-Erzähler in der erzählten Gegenwart im kargen Lahr-Tal Persiens und erzählt in reflektierten Rückblenden über sein vergangenes Leben und seine persischen Abenteuer. Er hatte seine Schweizerische Heimat verlassen, um an einer archäologischen Ausgrabung in Persien mitzuarbeiten und versucht sich aus seiner schweren, von Depressionen geprägten, Lebenslage loszureissen. Er erzählt, wie er sich um sein Malariafieber zu lindern und um der teheranschen Sommerhitze zu entfliehen, mit einer englischen Gesandtschaft ins „glückliche Tal“[10] – dem Lahr-Tal am Fusse des Bergs Demawend – begab, das seine Emotionslage alles andere als dasjenige des mit dem Attribut ‚glücklich’ bezeichneten Tals widerspiegelt. Trotz guter Gesellschaft an der Einsamkeit und einer schleichenden Selbstentfremdung leidend, stellt er fest, dass er sich durch keine der drei Tröstungen – dem freien Herumreisen, der Liebe zu der an Leukämie leidenden Türkin Jalé und dem Drogenkonsum –, denen er allen immer wieder erliegt, aus seiner aussichtslos scheinenden Lage befreien kann. Zudem leidet er am Gefühl der Halt- und Heimatlosigkeit, da für ihn weder die zivilisierte und industrialisierte westeuropäische Heimat – an deren Traditionen und politischen Spannungen er ständig Kritik übt – noch das fremde und wilde Persien, dessen Natur und Wetter ihm zu schaffen machen, als passende haltbietende Heimat in Frage kommen. Nach dem finalen Gespräch mit einem persischen Engel, in welchem er vom Selbstmord Jalés erfährt, entschliesst er sich letzten Endes das Tal zu verlassen, bricht sein dortiges Lager ab und zieht mit seinem Gefolge in uns unbekannte Gebiete.
1.1. Der Entstehungsrahmen von Tod in Persien
Die Arbeit am „unpersönliche[n] Tagebuch“[11] Tod in Persien begann Schwarzenbach mitten auf ihrer dritten Persienreise, zu welcher sie drei Monate nach ihrem ersten Selbstmordversuch aufgebrochen war, um Claude Achille Clarac zu heiraten. Ihre anfängliche Freude musste jedoch mehreren Enttäuschungen weichen, da die früher frei herumziehende Schriftstellerin nun als Ehefrau eines Diplomaten gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen hatte.[12] Sie fühlte sich in ihrer Freiheit eingeschränkt, oft niedergeschlagen, unverstanden, einsam und befand sich bereits vor der Hochzeit „in jenem Zustand beständigen, leicht erregbaren Heimwehs welches wie eine physische Krankheit ist“[13], wie sie es Klaus Mann schilderte. Auch die bezaubernde Landschaft in der Nähe der Berge in der Sommerresidenz in Fermanieh, „[…] hier, wo man fast ohne Grund traurig, niedergeschlagen, dem fröhlichen Lebens-Mut entfremdet ist […]“, vermochte die melancholische Stimmung Schwarzenbachs nicht aufzuhellen. Des Weiteren berichtete sie ihm, dass sie hartnäckig „kränkle“ und dass sich „der düstere Zauber Persiens […] auf verschiedene Weise, immer noch eindrücklich [äussere]“.[14] Wenn man den „düstere[n] Zauber“ mit der „verbotenen Magie“[15] aus dem Glücklichen Tal gleichsetzen würde, könnte damit wahrscheinlich die Droge gemeint sein. So schreibt auch Biografin Areti Georgiadou über diese Phase Schwarzenbachs:
„Sie beginnt wieder, verstärkt Morphium zu nehmen. Ja, sie versetzt sich regelrecht in einen Dauerrausch. Morphium, Opium oder Eukodal in Ampullen. Die Drogen zu beschaffen ist kein Problem. Wie immer verträgt sie es schlecht. Dazu kommt die Malaria. Zitternd vor Fieber liegt sie tagelang im Bett.“[16]
In diese Zeit fällt auch Annemaries Bekanntschaft und von Anfang an unter einem schlechten Stern stehende Liebesbeziehung mit der jungen an Tuberkulose leidenden Türkin Jalé,[17] die älteste Tochter des in Teheran stationierten türkischen Botschafters Enis Akaygen.[18] Nachdem Jalés Vater die lesbische Liaison erkannte, verbat er ihr den Kontakt mit Annemarie,[19] welcher im Geheimen jedoch weiterhin stattfand bis Clarac Mitte Juli beschloss, dass sie seinen englischen Freunden ins Sommercamp im Lahr-Tal folgen sollten, um Schwarzenbach bei der Genesung von ihrer Malaria zu helfen.[20] Trotz dem Campieren in den „Schweizer Hütten“ genannten Zelten, lebte die Gruppe in hohem Luxus mit einer Dienerschaft und hohem Komfort.[21] Von „hier oben in der Einöde“ berichtete sie Klaus von ihrem Alltag, ihrer Niedergeschlagenheit, ihrem gesunkenen „Lebensmut“, ihrem „Fieber u. Heimweh u. entsetzlicher Unruhe“ und vom Gefühl von Claude nicht verstanden zu werden.[22] Trotz tiefer Depressionen, informierte sie ihn aber auch über eine erfreulichere Neuigkeit: „Ich beginne jetzt, ein dünnes Heftchen kann es bestenfalls werden, eine Art unpersönlichen Tagebuchs über dieses Glückliche Tal zu schreiben – das ist alles, was ich vorhabe.“[23] Darin verarbeitete Annemarie viele ihrer eigenen Erlebnisse aus ihren drei Orientreisen, die auch in ihrem Briefwechsel mit Klaus Mann angesprochen und somit eindeutig biografisch greifbar werden.
1.2. Der Entstehungsrahmen von Das glückliche Tal
Während Tod in Persien 1935 auf ihrer dritten Orientreise sozusagen direkt vor Ort entstand, verhielt es sich mit dem Glücklichen Tal anders. Annemarie Schwarzenbach begann während ihres knapp viermonatigen Aufenthaltes (Mitte Oktober 1938 – Februar 1939) in der „fürchterlich öden“[24] Bellevue Klinik in Yverdon das unveröffentlichte Tod in Persien in das nun euphemistisch betitelte Glückliche Tal umzuarbeiten.[25] Schon fünf Monate vor ihrem dortigen Entzug schrieb sie an ihre Freundin Anita Forrer Folgendes:
„Es ist entsetzlich, dass, seitdem die Qual und die Angst des Morphiums wieder eingesetzt hat, >Das Glückliche Tal< wieder so wach in mir ist, die staubige Ebene und die nächtlichen Glockenschläge der Karawanen und Jalés blasses, vom Sterben angehauchtes Gesicht.“[26]
Dieses Aufflammen von Erinnerungen an die Situation im Lahr-Tal – ausgelöst durch den Morphiumentzug – könnte man als Auslöser für Schwarzenbachs erneutes Hervorholen von Tod in Persien und dessen Umarbeitung ins glückliche Tal deuten. Sich in ihrem „jenseitigen Exil“[27] auf Entzug befindend, konnte man Annemaries psychischen Zustand alles andere als ‚glücklich’, sondern eher als zwischen konzentriert, leidenschaftlich verbissen, manisch-depressiv, euphorisch, fanatisch und „närrisch“ schwankend bezeichnen, wie es auch aus einem Brief an Klaus Mann deutlich hervorkommt:
„Ich schreibe an einem sonderbaren Werkchen, und habe in meinem Leben noch nie so angestrengt gearbeitet. Ich wollte hinzusetzen: „unermüdlich“, - aber genau betrachtet, bin ich am Rand der Erschöpfung […]. Ich schreibe morgens, mittags, abends, treibe nichts anderes, und bringe auf diese Weise täglich nur etwa zwei Seiten fertig. Aber Du musst wissen, dass es etwa so ist als schriebe ich täglich zwei Gedichte (was nicht heißt, mir gelinge reine Poesie, sondern nur die ungeheure Konzentration näher umschreiben soll). […] - und es ist alles wie ein Notschrei und schrecklich mühsam. Allmählich werde ich auch närrisch dabei: jetzt schliesse ich schon die Vorhänge, verstopfe die Ohren mit Watte, und w e i n e wenn mich eine sanfte Schwester stört. […] – und will und muss das Begonnene doch zu Ende schreiben, wenn ich auch nicht weiss zu welchem Ende. Jeden Abend bin ich verzweifelt, angewidert von der Oede, geknechtet von der Erschöpfung, übel zugerichtet von Zweifeln, - jeden Morgen beginne ich es von Neuem. […] Und nun komme ich mir ganz v e r l o r e n vor, weil ich statt wie ein Besessener an der Arbeit zu sitzen, einmal einen B r i e f schrieb. Es ist ja der h e l l e Wahnsinn, was ich da treibe, - kennst Du ähnliche Zustände?“[28]
1.3. Das Genre des glücklichen Tals
Wie Decock und Schaffers es in ihrem Sammelband ‚Inside Out’ formulieren, wurde „in der Forschung […] bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass [Schwarzenbachs] Texte sich einer eindeutigen Gattungszuordnung entziehen“.[29] Daher sind sich viele Forscher unsicher sind, ob es sich beim Glücklichen Tal nun um eine Autobiografie, eine Autofiktion, einen Reisebericht, ein (Reise-)Tagebuch oder um eine lyrische Erzählung handelt. Unseres Erachtens handelt sich bei diesem Werk vielmehr um ein Amalgam der oben genannten Gattungen, das eindeutige autobiografische Züge, vermischt mit fiktionalen Elementen, trägt und somit ein semi-fiktionales Ganzes verkörpert.[30]
So ist auch die Gattung der Reiseliteratur schwer einzugrenzen und kann sich – wie es Monika Fischer formuliert – irgendwo zwischen einem autobiografischen Text, einem Tagebuch, einer wissenschaftlichen Reportage, einem fiktionalen und gleichzeitig nicht-fiktionalen Essay und der Phantastik befinden. Hinzu kommt, dass die Reiseliteratur ein „genre sans loi“ darstellt – wie Roland le Huenen bemerkte – das eher als ein Konglomerat von verschiedenen Genres erscheint und das aufgrund der „Genre-Montagen“, auch eine Durchmischung diverser Stile ermöglicht.[31]
Zu Beginn der europäischen Reisebericht-Tradition waren die Reisenden noch der Meinung, es wäre möglich rein objektive und auf Fakten basierende Reiseberichte zu verfassen, während man diese Auffassung in der Moderne, und vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,[32] zugunsten eines subjektiveren Stils – mit einem „Rückzug auf das eigene Ich“[33] – aufgab.[34] So verhält es sich auch mit den Reisetexten Annemarie Schwarzenbachs, welche alle eine persönliche Note enthalten. Anhand dieser Definition wäre es unseres Erachtens daher möglich, Tod in Persien wie auch Das glückliche Tal zum Genre der Reiseliteratur zu zählen. Was jedoch den Fall des glücklichen Tals betrifft, erweist sich die Frage nach der Gattung als etwas schwieriger. Schwarzenbach schrieb in einem Brief an Klaus Mann, dass es sich um ein prosaisches[35] „Sinngedicht“[36] – also ein Epigramm[37] handelt. Somit wäre die Bezeichnung als „Roman“, die bei der ersten Neuausgabe 1987 als „unautorisierte[r] Untertitel“ auf dem Buchumschlag hinzugesetzt wurde, als eine Fehlinterpretation aufzufassen und zugunsten der Eigenbenennung Schwarzenbachs zu verwerfen. Eine simultane Zugehörigkeit zur Reiseliteratur sollte unseres Erachtens aber dennoch nicht ausser Acht gelassen werden,[38] da das Werk eine klare Vermischung der Genres Autobiografie, Tagebuch, Reisebericht und Phantastik aufweist, was einzig und allein mit der Reiseliteratur in Einklang zu bringen ist.[39]
2. Autobiografische Leitmotive in Das glückliche Tal
Da Annemarie Schwarzenbach zum glücklichen Tal selbst behauptete: „Meine orientalischen Erinnerungen werden darin gewissermassen abgeklärt, gedeutet, symbolisch umgewandelt“[40] und da Tod in Persien und Das glückliche Tal nun als zur Reiseliteratur zugehörig definiert wurden, welche selbst als ein Amalgam aus Autobiografie, Reisebericht und Erzählung gilt, ist eine Suche nach autobiografischen Zügen unseres Erachtens gerechtfertigt. Annemarie Schwarzenbachs Tod in Persien und Das glückliche Tal sind klar von diversen Leitmotiven durchzogen, die auch im ihrem eigenen Leben eine wichtige Rolle spielten. So hat sie viele der Motive, die ihr eigenes Leben geprägt haben, als Fäden „in einen feingewobenen orientalischen Teppich“ eingewoben,[41] der sich nun als Das glückliche Tal betiteltes ‚textum’ lesen lässt und in den folgenden Kapiteln wieder auf seine Bestandesteile aufgeknüpft werden soll.
2.1. Reisen, Ungeduld und Freiheitsdrang
1939 schrieb Schwarzenbach auf ihrer vierten und letzten Orientreise in Kabul in einem Feuilleton: „’Unser Leben gleicht der Reise…’, und so scheint mir die Reise weniger ein Abenteuer und Ausflug in ungewöhnliche Bereiche zu sein, als vielmehr ein konzentriertes Abbild unserer Existenz.“[42] Im Fall Schwarzenbachs, die sich sogar selbst als „unheilbar Reisende“ empfand,[43] käme eine solche „Existenz“ derjeniger der Nomaden ziemlich nahe, mit welchen sie selbst[44] wie auch der Protagonist sympathisierten, da sie sich ihnen – als ewige Reisende – äusserst verbunden fühlten.[45] In diesem Zusammenhang schrieb Fähnders, dass „Reisen Alltagsfunktion von modernen intellektuellen Nomaden, von mobilen „vagabundierenden“[46] Intellektuellen [sei]“;[47] damit liesse sich auch die Existenzform Schwarzenbachs und des Ich-Erzählers definieren. So sagt der Ich-Erzähler nicht nur, dass er ein „Heimatloser“ sei, der auch keine Herkunft brauche,[48] sondern, dass er – genau so wie die Nomaden – „in allen Städten wohnen[,] in allen Ländern beheimatet sein“ wolle.[49]
Doch wozu reisen der Protagonist und Schwarzenbach überhaupt, wenn nicht um ein bestimmtes örtliches Ziel zu erreichen? Kracauer zufolge handelt es sich beim Reisen der Generation der 20er Jahre vielmehr um ein solches, das um seiner „selbst willen unternommen wird“.[50] So äussert der Protagonist: „Aber ich bin nicht unterwegs, um neue Tugenden und andere Sitten zu entdecken“;[51] er hatte „den Sitten des Abendlandes [schliesslich auch] den Rücken gekehrt“[52]. Der freiheitssuchende Ich-Erzähler begibt sich einzig aus den folgenden Gründen auf Reisen: 1. Um sich von der kritisierten europäischen Zivilisation, ihren bürgerlichen Sitten und Zwängen, vom Alltagstrott und selbst den Erinnerungen daran zu befreien, und 2. Um neue Erfahrungen und Erkenntnisse zu sammeln und niederzuschreiben, wie es am Ende im Gespräch mit dem Engel klar wird.
Genauso wie für den Protagonisten des glücklichen Tals, ist das Reisen seit 1933 für Schwarzenbach die „einzig ihr zuträgliche Existenzform“ geworden, bei welchem es ihrer eigenen Meinung nach darum geht, „die Ketten zu zerbrechen, die Ketten der Menschen und Dinge, […] die breite Strasse [zu] verlassen und Irrwege [zu] gehen“;[53] damit bringt auch sie ihren Drang nach Freiheit zum Ausdruck. Denn auch bei ihr setzt eine Europa- und Zivilisationsmüdigkeit aufgrund der dort empfundenen politischen aber auch der eigenen psychischen Instabilität[54] ein, die das Verlangen in ihr, wie auch im Protagonisten, weckten sich „fern von den Schlachtfeldern, den profanen Schauplätzen“[55] zu befinden;[56] dies wird auch in einem Brief an Klaus Mann ersichtlich: „Ich kann, wenn ich an Europa denke, nichts finden was mich dort hielte oder mir auch nur recht erträglich schiene.“[57] So lässt sich auch im Bericht des Ich-Erzählers im glücklichen Tal eine Europa-Müdigkeit an mehreren längeren Passagen verzeichnen, wo er entweder ironisch oder kritisch über die politischen Zustände und Traditionen im Westen schreibt.[58]
Der Protagonist des glücklichen Tals wird immer wieder von Neuem von Unruhe und Ungeduld ergriffen, die ihn trotz der aktuellen örtlichen Geborgenheit zu erneuten Aufbrüchen zwingt, was auch der Engel mit der Aussage „Aber welche Ungeduld! Welch unversöhnliche, heillose Ungeduld!“, kritisiert.[59] So verlässt er die Expedition in Rihanie schweren Herzens, da er aus ihm unerklärlichen Gründen zur Weiterreise gezwungen wird, obwohl er hätte bleiben können.[60] Zudem muss er aber zugeben, dass er sich nicht nur vor der Einsamkeit fürchtet, sondern auch davor, allein abzureisen: „Vor jedem neuen Aufbruch zerriss mich die Angst: allein aufzubrechen.“[61] Darüber hinaus hängt seine Ungeduld eindeutig mit seinem ewigen Streben nach Freiheit zusammen, welche er durch seine abermaligen Aufbrüche, die ihm jedes Mal Erleichterung verschaffen, zu gewinnen erhofft.[62] Nicht anders ging es Schwarzenbach selbst, wie man unschwer an ihren nahe aufeinanderfolgenden Reisen erkennen kann. Alexis Schwarzenbach bemerkte hierzu:
„Während ihr beim Reisen der grundsätzlich „episodenhafte“ Charakter des Lebens bewusst wurde, was sie entmutigte, merkte sie gleichzeitig, dass jeder neue Aufbruch sie mit Energie und Zuversicht erfüllte. Diese zwischen pessimistischer Selbstreflexion und euphorischer Aufbruchsstimmung hin und her pendelnde Dynamik war der Grundmotor für Annemaries jahrelange, intensive Reisetätigkeit.“[63]
Nach genügend gesammelter Erfahrung, sah Schwarzenbach die Reise aber nicht mehr einfach als Vergnügen, „als die Befreiung vom Alltag, als Freiheit schlechthin“ an; sie erschien ihr vielmehr als „gnadenlos, eine Schule, dazu geeignet, uns an den unvermeidlichen Ablauf zu gewöhnen, an Begegnen und Verlieren, hart auf hart“.[64] Dies stellte sie schon ein Jahr zuvor auf ihrem Entzug in Yverdon fest, wie wir aus einem Brief an Anita Forrer erkennen können: „und je gesünder ich werde, um so härter ist es, sich damit abzufinden, dass man sich fügen muss.“[65] Ebenso wie Schwarzenbach, sieht der Protagonist am Ende seiner Reise also ein, dass er sich an die Sitten und den Alltag seiner Heimat gewöhnen muss, wenn er in seine Heimat zurückkehren will: „Du wirst dich gewöhnen, du wirst schweigen“.[66]
[...]
[1] Obermüller: Am Ende aller Wege, 8.6.2008.
[2] Vgl. Fähnders: Zwischen Biografik und Werkanalyse, S. 34.
[3] Obermüller: Am Ende aller Wege, 8.6.2008.
[4] Vgl. Fähnders: Zwischen Biografik und Werkanalyse, S. 20f. und 37.
[5] Obermüller: Am Ende aller Wege, 8.6.2008.
[6] Fähnders: Zwischen Biografik und Werkanalyse, S. 38.
[7] Linsmayer: Annemarie Schwarzenbach, S. 7.
[8] Vgl. Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 419.
[9] Fähnders/ Rohlf: Einleitung, In: Dies.: Annemarie Schwarzenbach. Analysen und Erstdrucke, S. 12.
[10] Schwarzenbach: Das glückliche Tal, S. 19.
[11] Schwarzenbach: Tod in Persien, S. 73; vgl. auch A.S. an Klaus Mann, 9.8.1935, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 136.
[12] Vgl. Georgiadou: „Das Leben zerfetzt sich mir“, S. 140.
[13] A.S. an Klaus Mann, 19. Mai 1935, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 129.
[14] A.S. an Klaus Mann, 8. Juli 1935, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 133.
[15] Schwarzenbach, Das glückliche Tal, S. 157.
[16] Georgiadou: „Das Leben zerfetzt sich mir“, S. 141.
[17] Vgl. Ebd.
[18] Vgl. Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 280.
[19] Vgl. auch A.S. an Klaus, 26. August 1935, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 137f: „Nun kommst Du also – ich wäre sonst mit meinem türkischen Mädchen, deren Vater uns das Leben unnötig verbittert, nach Stambul abgereist, so überdrüssig war mir alles hier […].“
[20] Vgl. Georgiadou: „Das Leben zerfetzt sich mir“, S. 143f.
[21] Vgl. Ebd., S. 192.
[22] A.S. an Klaus Mann, 9. August 1935, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 134-136.
[23] Ebd., S. 136.
[24] A.S. an Klaus Mann, Ende Jan. 1939, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 172.
[25] Vgl. Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 268f.
[26] A.S. an Anita Forrer, 26. Juni 1938, Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach, zitiert nach: Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 272.
[27] A.S. an Klaus Mann, Ende Jan. 1939, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 173.
[28] Ebd., S. 172-173.
[29] Decock/ Schaffers: Einleitung, In: Dies.: Inside Out, Anm. 23, S. 15.
[30] Vgl. Decock/ Schaffers: Einleitung – Inside Out, Anm. 23, S. 15.
[31] Le Huenen, Roland : „Qu’est-ce qu’un récit de voyage?“, In : Littérales n° 7. Les modèles du récit de voyage, hg. v. Gomez-Géraud M.-C., Paris 1990, S. 14, zitiert nach Chapuis: „Umwege, Auswege und Irrwege“, S. 105.
[32] Vgl. Decock/ Schaffers: Reise-Schreiben im Fortgang der Moderne, S. 193.
[33] Ebd.
[34] Vgl. Fischer: Travel Writing and Parrhesia.
[35] Vgl. Chapuis: „Umwege, Auswege und Irrwege“, S. 103f.
[36] A.S. an Klaus Mann, Ende Januar 1939, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 172.
[37] Vgl. Chapuis: „Umwege, Auswege und Irrwege“, S. 104.
[38] Vgl. Schmidt: Die ‚Magie der Namen’, S. 119.
[39] Fähnders: „Wirklich, ich lebe nur wenn ich schreibe“. Zur Reiseprosa von Annemarie Schwarzenbach, S. 30.
[40] A.S. an Klaus Mann, Jan. 1939, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 172-173.
[41] Linsmayer: Leben und Werk, S. 204.
[42] Schwarzenbach: „Die Steppe“, National-Zeitung, 1. Nov. 1939., zitiert nach: Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 113.
[43] Schwarzenbach: „Afghanistan“, Typoskript, [Mai 1940], Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach, zitiert nach: Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 113.
[44] Schwarzenbach schrieb mehrere Artikel auf ihren Orientreisen über die Nomaden und den Versuch sie, aufgrund Modernisierungs-Bestrebungen, sesshaft zu machen, was sie stark kritisierte.
[45] Vgl. Schwarzenbach: Land der Heimkehr, S. 21.
[46] So charakterisiert Erika Mann A.S. (in einem Brief vom 19.1.1931 an sie), siehe Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben“, S. 44.
[47] Fähnders: Paris, Berlin, Moskau und das Glückliche Tal, S. 94.
[48] Schwarzenbach: Das glückliche Tal, S. 76.
[49] Ebd., S. 97.
[50] Kracauer, Siegfried: Die Reise und der Tanz, In: Ders. Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M, 1977, S. 41, zitiert nach Fähnders: Paris, Berlin, Moskau und das Glückliche Tal, S. 93.
[51] Schwarzenbach: Das glückliche Tal, S. 114.
[52] Schwarzenbach: Das glückliche Tal, S. 88.
[53] Linsmayer: Leben und Werk, S. 166f.
[54] Vgl. Chapuis: „Umwege, Auswege und Irrwege“, S. 99.
[55] Schwarzenbach: Das glückliche Tal, S. 91.
[56] Vgl. Perret: Persien, S. 135.
[57] A.S. an Klaus Mann, 3. April 1934, In: Fleischmann: „Wir werden es schon zuwege bringen“, S. 111.
[58] Vgl. Schwarzenbach: Das glückliche Tal, S. 15 / 20f. / 82f. / 88f. / 91.
[59] Ebd., S. 194.
[60] Vgl. Ebd., S. 84-86.
[61] Ebd., S. 74.
[62] Vgl. Schwarzenbach: Das glückliche Tal, S. 106; vgl. Rohlf: Exil als Praxis, S. 314.
[63] Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 112.
[64] Schwarzenbach: „Die Steppe“, National-Zeitung, 1. Nov. 1939, zitiert nach: Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 113.
[65] A.S. an Anita Forrer, 24. Nov. 1938, zitiert nach: Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden, S. 276.
[66] Schwarzenbach: Das glückliche Tal, S. 198.