Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Stellenwert des Lesens
3. Lese- und Verständnisprobleme von Schülern der Sekundarstufe I
3.1. Leseschwäche
3.2. Leseunlust
3.3. Textverständnisprobleme
4. Unterrichtsmethoden zur Beseitigung der üblichen Probleme
4.1. Lautlese-Verfahren
4.2. Textnahes Lesen
4.3. Das Hattinger Modell
5. Schlusswort
6. Literaturverzeichnis
7. Anhang
1. Einleitung
Im Zusammenhang mit der Leseförderung im Unterricht behaupten viele Lehrerinnen und Lehrer, dass es für sie einerseits aus zeitlichen Gründen, andererseits aus Gründen unterschiedlicher Lesefähigkeiten und der fehlenden Lesemotivation der Schüler, nicht möglich wäre in der Klasse ein ganzes Buch zu lesen; deshalb beschränken sie sich nur auf knappe Sach- und „Gebrauchstexte aus dem täglichen Leben“, um die Leseflüssigkeit und das Textverständnis ihrer Schüler zu fördern. Ein weiteres Problem stellen die verschiedenen Interessen der Schüler dar (vgl. Hintz 2009, 63). Viele zweifeln sogar daran, dass das Lesen von Büchern tatsächlich eine effiziente Weise der Leseförderung darstellt.
Doch spätestens seit dem PISA-Schock im Jahr 2001 gewinnt der Vorsatz der Lese- und Texterschliessungsförderung im Literaturunterricht an Bedeutung (vgl. Leubner et al. 2010, 34). Im Jahr 2000 wurde die Lesekompetenz 15-jähriger Schüler von 31 Staaten getestet, wobei Deutschland unterdurchschnittlich schlechte Resultate erbrachte (vgl. Abbildung 1 im Anhang).
„Kaum ein Bildungssystem einer vergleichbaren Industrienation produziert so viele schwache und sehr schwache Leser wie Deutschland, und kaum irgendwo ist der Zusammenhang zwischen Leseleistung Schichtzugehörigkeit und formaler Schullaufbahn so eng wie hier.“ (Rosebrock 2008, 175)
Dabei stechen ebenfalls die schlechten Lesekompetenz-Resultate der schweizerischen Schüler ins Auge; sie befinden sich auch deutlich unter dem OECD-Durchschnitt, wenn auch mit ein wenig besseren Ergebnissen als die deutschen Schüler (vgl. Abb. 1). Lediglich Österreich erzielte bei der PISA-Studie im Jahr 2000 gute Resultate; die österreichischen Schüler errangen mit 507 Punkten den höchsten Rang unter den deutschsprachigen Staaten und befanden sich somit klar über dem Durchschnitt (vgl. Abb. 1).
In derselben Studie im Jahr 2006, wo die Lesefähigkeiten aber nur als Nebenfach getestet wurden, zeigte sich für Deutschland und die Schweiz aber schon eine Steigerung im Bereich Lesekompetenz (vgl. Rosebrock 2008, 175); Österreich dagegen befindet sich im Abstieg und liegt nun mit 490 Punkten knapp unter dem OECD-Durchschnitt (vgl. Abb. 2).
Bei der letzten PISA-Studie mit dem Schwerpunkt Lesekompetenz, die im Jahr 2009 stattfand, änderten sich die Resultate für die Schweiz, Deutschland und Österreich noch einmal beträchtlich: die schweizerischen Schülerinnen und Schüler führen nun unter den deutschsprachigen Staaten deutlich mit 501 Punkten (international: 14. Rang), gefolgt von Deutschland mit 497 Punkten (international: 20. Rang); beide liegen klar über dem Durchschnitt. Bei Österreich hingegen lässt sich ein schwerer Rückfall verzeichnen: die Schüler wurden im Bereich Lesekompetenz als unterdurchschnittlich schlecht eingestuft (international: 39. Rang).
Was führte nun aber zu solch prägenden Veränderungen in der Lesefähigkeit der deutschsprachigen Schüler? Wie wir schon gesehen haben, steht die Leseförderung in der Sekundarstufe I im Unterricht wieder klar auf der Tagesordnung. Wieso aber muss nun auf dieser Schulstufe weiterhin die Lesekompetenz ausgebaut werden?
In der folgenden Arbeit soll zunächst der Stellenwert und die Bedeutung des Lesens aufgezeigt werden. In einem zweiten Schritt werden zunächst die häufigsten Probleme der Schüler im bereich Lesen, wie Leseschwäche, Leseunlust und Textverständnisprobleme dargestellt, um im Kapitel 4 auf die Unterrichtsmethoden zur Beseitigung dieser Probleme eingehen zu können; dabei soll auf die Methoden Lautlese-Verfahren, Textnahes Lesen und das Hattinger Modell zur nachhaltigen Leseförderung in der Sekundarstufe näher eingegangen werden.
2. Der Stellenwert des Lesens
Die Förderung der Lesekompetenz in der Sekundarstufe I ist eine bedeutungsvolle Pflicht der Schule als Institution, und gewiss nicht als Wettkampf in einem internationalen Vergleich zu verstehen, sondern um den Schülern und Schülerinnen einen Beitrag zu einem erfolgreichen Werdegang zu leisten, welcher die Grundlage für einen vielversprechenden Beruf und somit auch für ein glückliches Leben ist (vgl. Hintz 2009, 63f.). Dennoch stellt die PISA-Studie „nicht nur de[n] maßgebliche[n] Indikator für das Gelingen der Schulkarriere [dar], sondern auch eine wesentliche Kompetenz für eine erfolgreiche Integration in das Berufsleben“(Rosebrock 2008, S.175f.). Die PISA-Studie 2006 ergab zudem, dass die Deutschlehrer und –lehrerinnen gar nicht wissen welche von ihren Schülern zu einer eher schlechteren Lesergruppe mit Leseschwierigkeiten gehören; die Studie ergab auch, dass die Lesefähigkeiten von „20 % der Schülerschaft“, „nicht oder kaum aus[reichten], um alltagspraktischen, z.B. beruflichen Anforderungen zu genügen“(vgl. Rosebrock 2008, 175).
Doch die Ziele des Literaturunterrichts im Schulfach Deutsch sind klar formuliert: nämlich das Lesen
„(im Sinne einer Förderung von Lesefreude und Lesemotivation) […], die Texterschliessungskompetenz (d. h. die Analyse- und Interpretationskompetenz), die ästhetische Wahrnehmung, die Imagination, die Kreativität, die Empathie (und auf ihrer Grundlage die Identitätsbildung und das Fremdverstehen) […] und das Wissen über Literatur (z.B. über wichtige Werke/Autoren/Epochen)“(Leubner et al. 2010, 33) zu fördern und zu vermitteln.
Doch die Resultate der PISA-Studie zeigten an, dass der letztplatzierte Fünftel der Schüler schon schwerwiegende Verständnisschwierigkeiten „bei der Identifikation von Informationen in den vorgelegten Texten hat“, wobei die besser platzierten Schüler eher Probleme haben die Aussage des Textes zu bewerten und über sie zu nachzudenken (vgl. Rosebrock 2008, 176); das heisst, dass die Ziele des Deutschunterrichts eindeutig nicht erreicht wurden.
Das Lesen wird als eine gut entwickelte Fähigkeit nicht nur von der Gesellschaft gefordert, da es von Gewicht für das Lernen und Reflektieren ist; es soll den Schülern auch bei ihrer Persönlichkeits-, Kulturbewusstseins- und Gefühlswelt-Entwicklung helfen, denn vor allem „wer liest, erfahrt etwas über die Welt, das Leben, die Menschen und sich selbst“(Hintz 2009, 64). Gerade pubertierende Jugendliche befinden sich in einer Selbstfindungs-Phase ihres Lebens, wo neue Erkenntnisse errungen werden, welche für den Rest ihres Lebens „für ein gelingendes Zusammenleben [in der Gesellschaft], mit Freunden, Mitschülern [und] gegenwärtigen oder zukünftigen (Lebens-)Partnern“ von Bedeutung sind (Hintz 2009, 65).
Da sich die Wichtigkeit der Lesekompetenz-Bildung von Schülern der Sekundarstufe I erwiesen hat, ist es auch erforderlich, dass sich die Lehrer und Lehrerinnen nun durch nachhaltige Methoden mehr für die Leseförderung und Lesesozialisation ihrer Schützlinge einsetzen, um ihnen einen vereinfachten Einstieg in die Berufswelt oder in weiterbildende Schulen zu ermöglichen.
3. Lese- und Verständnisprobleme von Schülern der Sekundarstufe I
Wie schon öfters bewiesen wurde, liegt es nicht nur am Schüler als Individuum selbst, dass sich bestimmte Lese- oder Textverständnisprobleme entwickeln. Es gibt viele Faktoren, welche bei der Entstehung von solchen Problemen bei Schülern der Sekundarstufe I eine Rolle spielen (vgl. Leubner et al. 2010, 80). Als erster Faktor könnte die in nur geringem Masse vorhandene oder gar fehlende Leseförderung in der Schule gesehen werden, welche dadurch zustande kommt, dass das Lesen-Üben von den Lehrern und Lehrerinnen als dem Lehrplan der Grundschule und nicht der Sekundarstufe I zugehörig angesehen wird; dies würde für sie also bedeuten, dass das Lesen nun bei Eintritt in der Sekundarstufe I vollkommen ausgebildet sein sollte und nicht mehr gefördert werden müsse (vgl. Hintz 2009, 65). Weitere Einflussfaktoren sind die Familie, der Freundeskreis (oder Peergroups), die ethnische Herkunft, die Sozialschicht und das Geschlecht. Der Einfluss all dieser Instanzen auf das Leseverhalten der Jugendlichen wird im Verlauf der folgenden Unterkapitel bei der Erklärung der Lese- oder Textverständnisschwäche näher erläutert werden.
3.1. Leseschwäche
Leseschwächen basieren nach dem Mehrebenenmodell von Rosebrock/Nix[1] hauptsächlich auf der ‚Prozessebene’, bei der Identifikation oder Dekodierung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen (vgl. Rosebrock/Nix 2010, 18; vgl. Abb. 4 im Anhang). Wenn ein Schüler der Sekundarstufe I schon bei diesen hierarchieniedrigen Leseprozessen Mühe hat, wirkt sich dies natürlich auch auf seine Leseflüssigkeit und -geschwindigkeit aus. Das Lesen wird für ihn zu einer anstrengenden Qual des Dechiffrierens und wenn er über längere Zeit immer wieder Misserfolge erzielt, wird sich bei ihm weder ein Gefühl für Textverständnis noch Lesemotivation entwickeln können (vgl. Leubner et al. 2010, 217; vgl. Hintz 2009, 66). Wenn also weder im Unterricht noch im Familienkreis das Lesen gefördert und geübt wird, gerät der Schüler in einen Teufelskreis, aus welchem er höchstwahrscheinlich nie mehr rauskommen wird; denn die Sekundarstufe I ist sozusagen die Endstation der Leseförderung. Deshalb ist es auch von so grosser Bedeutung, dass die Kinder schon im Vorschulalter durch die Eltern geprägt werden, indem man ihnen beispielsweise Gute-Nacht-Geschichten vorliest; oder wenn man sie, wenn sie sich im Grundschulalter befinden, selbst vorlesen lässt und sie als Begleitperson unterstützt.
Falls das Problem der Leseschwäche nicht auf eine schwerwiegende Störung (wie Legasthenie) zurückzuführen ist, kann man annehmen, dass die Jugendlichen auf Grund fehlender schulischer und familiärer Lesesozialisation und –förderung Mühe haben fliessend zu lesen (vgl. Hintz 2009, 66). Bei Untersuchungen wurde zudem festgestellt, dass literarische Kommunikation, in Form von Vorlesen,
„in Familien der oberen Schichten weit umfangreicher und altersadäquater praktiziert [wird] als mit Kindern der unteren Sozialschichten. Diese Kinder können folglich mit besseren sprachlichen Voraussetzungen und differenzierterer literarischer Kompetenz (beispielsweise Textsortenkenntnissen und Erzählfähigkeit) in die Schule eintreten. […] Hier scheint der Schlüssel für das Verständnis der nachhaltigen Schichtspezifik der Lesesozialisation und der relativen Erfolglosigkeit schulischer Kompensationsbemühungen zu liegen.“(Rosebrock 2008, 168).
Auch der Migrationshintergrund spielt bei der Leseschwäche eine bedeutende Rolle; denn Fakt ist dass „etwa ein Viertel der Jugendlichen aus Migrantenfamilien als 15-Jährige nicht über ausreichende Lesekompetenzen [verfügen], um den Anforderungen in Alltag und Beruf zu genügen“ obwohl sie ihre ganze Schulbildung in Deutschland durchlaufen haben (Rosebrock 2008, 166). Wenn aber wegen mangelnden sprachlichen Kenntnissen das Lesen eher zur Arbeit als zum Vergnügen wird (seien es nun die Eltern, die dem Kind vorlesen sollen oder das Kind selbst), wird es auch eher wieder verworfen. Dabei dient doch genau das Lesen „dem Erwerb und der Vertiefung von Schriftsprachlichkeit“, wie auch der Verbesserung der Leseflüssigkeit (Leubner et al. 2010, 77).
Interessant ist aber, dass „mehr als die Hälfte der von PISA so bezeichneten „Risikogruppe“ […] familiengeschichtlich deutschsprachig [ist]“ (Rosebrock 2008, 166); man kann also nicht behaupten, dass ausländische Schüler die einzigen mit Leseschwächen sind. Oft konzentrieren sich die Lehrerinnen und Lehrer ausschliesslich darauf, die Schüler zum Lesen zu motivieren und erkennen nicht, dass das Problem woanders liegt; nämlich in den basalen Lesekompetenzen wie Leseflüssigkeit und Textverständnis (vgl. Rosebrock 2008, 176).
Probleme der Leseflüssigkeit äussern sich bei Schülern der Sekundarstufe I vor allem in der „Worterkennung […], [die] bei altersgemäßen Texten noch nicht voll automatisiert [ist]“, so dass sie die einzelnen Wörter, Buchstabe für Buchstabe, dekodieren müssen, anstatt sie am Wortbild zu erkennen; dabei fehlt es ihnen auch an „Dekodiergenauigkeit“, weshalb sie sich verlesen. Dies wirkt sich auch auf ihre Lesegeschwindigkeit aus, welche mit 80-100 Wörtern pro Minute die „Mindestbetriebsgeschwindigkeit“ ausmachen müsste. Eine weitere Schwäche ist die unangemessene Sequenzierung der einzelnen Sätze, was sich schliesslich in einer falschen Intonation äussert (Rosebrock 2008, 180). Falls das Lesen also mit genau diesen Schwierigkeiten verbunden ist, müssen ein wirklich grosser Wille und schon einige Erfolge vorhanden sein, um die eigene Lesefähigkeit verbessern zu können und zu wollen (vgl. Hintz 2009, 65). Falls aber das Lesen im Unterricht (trotz selbst gefasstem Ziel, das Lesen zu verbessern) nur noch als mühselige Verpflichtung mit obendrein langweiligen Text angesehen wird, wird selbst die Lesebereitschaft des motiviertesten Schüler abflauen (vgl. Hintz 2009, 66).
3.2. Leseunlust
Viele Schülerinnen und Schülern, die sich zwischen der 7. und 10. Klasse befinden, bilden eine zweite Gruppe, die Probleme mit dem Lesen aufweisen. Dies sind zwar oft Jugendliche, die in ihrer Kindheit sehr viel gelesen haben und auch heute noch selbstständig lesen könnten, was sie aber gegenwärtig in ihrer Freizeit nicht freiwillig tun (vgl. Rosebrock 2008, 182).
Natürlich weisen alle Individuen ein eigenes Leseverhalten über die Jahre hinweg auf; es lassen sich jedoch zusammengefasst immer wieder dieselben Arten von Lesephasen, „die in allen einschlägigen Studien nachgewiesen [werden]“ (Rosebrock 2008, 169), auffinden (vgl. Leubner et al. 2010, 75; vgl. Abb. 5 im Anhang). Nach einer „bei etwa zwei Dritteln aller Kinder ausgeprägte[n] Viellesephase folgt“ (Rosebrock 2008, 169) in der Pubertät meist eine Abnahme der Lesebereitschaft und –motivation. Denn in der Pubertät werden „das ‚wirkliche’ Leben, die Beziehungen zu Freunden und zum anderen Geschlecht […] zunehmend wichtig und können Zeit und Motivation zum Lesen nehmen“ (Leubner et al. 2010, S.78f.) und „die Aufmerksamkeit richtet sich [eher] auf den komplexen Prozess des Erwachsenwerdens, auf schwankende seelische Gestimmtheiten und körperliche Entwicklungsprozesse“ (Schubert-Felmy 2008, S.106). „Etwa zwei Drittel der Jugendlichen haben am Tiefpunkt dieser Entwicklung in der 8. bzw. 9. Klasse das Freizeitlesen annähernd eingestellt“ (Schubert-Felmy 2008, S.106). Dies betrifft bei den Jungen mindestens die Hälfte und bei den Mädchen etwa 20% (vgl. Leubner et al. 2010, 78f.; vgl. Hintz 2009, 66). Auch bei Befragungen an den PISA-Studien stimmten „31 Prozent der befragten 15-jährigen Schülerinnen und Schüler […] der Aussage »Für mich ist Lesen eine Zeitverschwendung« zu“ (Hintz 2009, 66).
Zu dieser Zeit gibt es nur wenige Fälle, in denen eine ‚Lesesucht’ ausgebildet wird, und falls doch, dann vor allem von Mädchen. Im jungen Erwachsenenalter entstehen vor allem Gruppen von „Nicht- oder Weniglesern“, welche von einer nur kleinen Minorität von Gern- und Viel-Lesern gefolgt wird, die den Lesetiefpunkt der Pubertät überwunden hat und nun (im Alter von 15-20 Jahren) den Weg zu einem lustvollen Freizeitlesen wiederfindet (vgl. Rosebrock 2008, 169; vgl. Leubner et al. 2010, 79). Einflussfaktoren sind in der Pubertätszeit, wie wir schon gesehen haben, vor allem die Peergroups, also Gleichaltrige, Mitschüler und Freunde, die in ihrer Freizeit ebenso wenig lesen, was auch mit einem weiteren Grund für eine Entwicklung der Leseunlust zusammenhängen kann: nämlich mit dem vielfältigen elektronischen Medienangebot von Computerspielen, Spielekonsolen und Fernsehen, welche die Pubertierenden (v. a. aus Familien aus niedrigeren Sozialschichten) oft sehr in ihren Bann ziehen können. Auch „Christian Pfeiffer, der Leiter des Kriminologischen Instituts in Hannover, prangert in diesem Zusammenhang die »Medienverwahrlosung« der Kinder und Jugendlichen an“, mit welcher er die Misserfolge in der Schule begründet (Hintz 2009, 64). In Familien der Mittelschicht, wo viel gelesen wird, fungieren die elektronischen Medien auch als Leitmedien, wobei aber
„in der mittelschichtdominierten Gruppe der Vielleser [das Fernsehen] unter den Grundschulkindern […] etwa ebenso viel vom täglichen Zeitbudget [beansprucht] wie die Lektüre[;] in der Unterschicht weit mehr. Kinder aus Haushalten mit gemischter Mediennutzung verfügen dabei über etwa gleiche Chancen, sich zu Lesern bzw. Leserinnen zu entwickeln wie Kinder aus dezidiert buchbezogenen Familien (Rosebrock 2008, 164f.).
Doch nur wo die Eltern keine Vorbilder im Bereich Lesen darstellen und wo ausschliesslich elektronische Medien verwendet werden, entsteht (fast) keine Lesesozialisation; in solchen Fällen wird auch eine Leseförderung durch den Unterricht erschwert, da dies der einzige Ort ist, wo der Kontakt zu Büchern hergestellt werden kann (vgl. Hintz 2009, 66; vgl. Leubner et al. 2010, 81). Doch die Schule als „Anregungszentrum“ erreicht die Ziele der Lesemotivation und –förderung, laut den Jugendlichen, auch nicht: da „sie den Deutschunterricht der Sekundarstufe mit seinem Zwang zu Distanz und Reflexion [für den bedauerten Verlust der kindlichen Form ‚versunkener’ Lektüre] verantwortlich [machen]“ (Rosebrock 2008, 169). In den Befragungen der PISA-Studie „[stimmte zudem] „über die Hälfte der Sieben- bis Zehntklässler der Aussage“ […]: »In der Schule lesen wir nur langweilige Sachen.« zu (Hintz 2009, 66); inbegriffen ist hierbei selbst die kleine Gruppe der Jugendlichen, die das Freizeitlesen (noch) betreibt (vgl. Rosebrock 2008, 173). Die Interessen der Schüler werden anscheinend bei der Auswahl der Schullektüre durch den Deutschlehrer kaum beachtet und auch nicht als Aufgabe wahrgenommen (Rosebrock 2008, 173; vgl. Schubert-Felmy 2008, 118). Dabei ist, oder sollte doch klar sein, dass eine Lesemotivation nur zustande kommt, wenn „die persönliche Betroffenheit bzw. die jeweils individuelle Beziehung der Leserinnen und Leser zu dem, was gelesen wird“ durch passenden Lektürestoff erreicht, und somit das Lesen zum Vergnügen wird (Hintz 2009, 68). Eine Missachtung der Leseinteressen kann sich hierbei im schlimmsten Fall so fatal auswirken, dass sogar die Minderheit, der in der Freizeit lesenden Schüler, ihr Interesse für Literatur verliert.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Persönlichkeit des Deutschlehrers selbst, wie der Neurobiologe Manfred Spitzer im Zusammenhang mit der Lesemotivation beobachtet; interessant ist dabei, dass in der üblichen didaktischen Literatur dem Lehrer als Person nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, obwohl er doch einen bedeutenden Einfluss als Vorbild auf die Schüler haben sollte (vgl. Leubner et al. 2010, 222). Dabei gilt, dass der Lehrer selbst für sein Fach begeistert sein muss, um seine Schüler für Literatur zu erwärmen (vgl. Hintz 2009, 69; vgl. Leubner et al. 2010, 223f.). Die Lehrerin oder der Lehrer muss selbst ein leidenschaftlicher Leser sein, was auch in seiner Art zu Unterrichten wiedererkannt werden sollte. Ein weiterer Punkt, der einen guten Lehrer ausmacht, ist die Anteilnahme an den Literaturinteressen der Schüler und die Kenntnis der aktuellen Jugendliteratur, welche er seinen Schülern auch weiterempfehlen könnte (vgl. Rosebrock 2008, 174).
„Wenn nämlich dem Literaturunterricht in der Sekundarstufe I in der Rückschau von späteren Leserinnen und Lesern überhaupt ein positiver Einfluss auf die eigene Lesesozialisation zugeschrieben wird, dann sind es einzelne Lehrpersonen, die als die Zentralfiguren der literarischen Sozialisation enthusiastisch erinnert werden.“ (Ebd.)
Ansonsten setzt das freiwillige Lesen bei den Jugendlichen, nach der pubertären Lesekrise, erst ab 17. Jahren (wenn sie sich in der Sekundarstufe II befinden) wieder vereinzelt ein (vgl. Rosebrock 2008, 170; 173).
3.3. Textverständnisprobleme
Kommen wir nun zur dritten Schülergruppe, die keine Probleme auf der Wortdekodierungs-Ebene aufweist, dafür aber im Bereich des Textverständnisses, also auf der hierarchiehohen ‚Prozessebene’. Diese Schüler weisen eine befriedigende Leseflüssigkeit auf, lesen womöglich auch ein wenig in der Freizeit, können sich aber nach dem Vorlesen nicht an den Inhalt und die zentralen Themen des Textes erinnern, da „sie […] zu wenig mentales Engagement im mittleren Bereich der Prozessleistungen auf[bringen]“ (Rosebrock 2008, 180). „[…] Sie [betreiben] das schulisch geforderte „Durchlesen“ von Texten als ein „Durchkommen“ und können sich an kaum mehr als Stichwörter des gelesenen Textes erinnern“ (Rosebrock 2008, 181). Wahrscheinlich gehörten diese Schüler früher, oder bis vor Kurzem, noch zu den leseschwachen Schülern, die noch Mühe mit der Wortidentifikation haben, und müssen sich daher immer noch so sehr auf den Vorleseprozess konzentrieren (aus Angst wieder Fehler zu machen), dass sie für den Inhalt des Gelesenen keine Aufmerksamkeit mehr erbringen können. Deshalb hat Ingrid Hintz meines Erachtens recht, wenn sie die Meinung vertritt, dass im Unterricht weiterhin Übungen zur „Leseflüssigkeit bzw. Lesegeläufigkeit“ durchgeführt werden sollten, welche den Schülern in einem ersten Schritt zu „eine[r] Automatisierung der hierarchieniedrigen Prozesse [wie Wort- und Satzidentifikation] verhilft, und „daher erheblich zum besseren Textverstehen beitragen“ kann (Hintz 2009, 68). Deshalb sollten mit den Schülern auch bestimmte Lesestrategien, wie das textnahe Lesen geübt werden (siehe Kapitel 4.2.).
Auch diese Gruppe befindet sich in einem Teufelskreis aus Misserfolgen. Meist fehlt ihnen das sprachliche Feingefühl und die nötige Leseerfahrung. Auch sie werden nach wiederholten Misserfolgen nicht mehr freiwillig lesen (vgl. Rosebrock 2008, 180f.).
Das Verstehen von Texten schliesst zwei Handlungen ein: das Erkennen von Textelementen (wie z.B. „Figureneigenschaften, -konstellationen, Ursachen für die schwierige Lage einer Figur, Perspektivierung etc.“(Leubner et al. 2010, 53)) und die Deutung (z.B. was nicht explizit geschrieben steht und „mithilfe von (Welt-)Wissen […] [und] persönlichen Erfahrungen gedeutet“( Leubner et al. 2010, 53) werden muss (vgl. Leubner et al. 2010, 45f.). Auch das PISA-Modell gibt drei Teilkompetenzen an, welche alle erfüllt werden müssen, um von einer guten Lesekompetenz sprechen zu können; diese sind: „Informationen ermitteln“, „Textbezogenes Interpretieren“ und „Reflektieren und bewerten“ (Leubner et al. 2010, 52).
Zu einem guten Textverständnis gehört schliesslich auch das Erkennen und Verstehen von Metaphern, Symbolen, ironischen und satirischen Textinhalten. Viele Schülerinnen und Schüler mit Verständnisschwierigkeiten
„[lesen sogar] noch in der zehnten Jahrgangsstufe […] manchmal Texte mit ironischem oder satirischem Gehalt wie einen Tatsachenbericht aus der Zeitung. Selbst das Gespür für leisere komische Effekte ist nicht immer vorauszusetzen. Es entwickelt sich, wenn die Lernenden für Normabweichungen sensibilisiert werden, wenn ihnen Brüche im sprachlichen Ausdruck wie auch im Verhalten der Protagonisten auffallen“ (Schubert-Felmy 2008, 111).
Leubner, Saupe und Richter sind der Meinung, dass auch die Aspekte „Lesefreude bzw. Lesemotivation (die aus einer wiederholt erfahrenen Lesefreude entstehen kann) einschliesslich der Fähigkeit ästhetisches Vergnügen zu empfinden, und das Wissen über Literatur und ihre Kontexte“ als Teilziele des Textverstehens gelten könnten (Leubner et al. 2010, 36). Das heisst, dass auch Schüler mit Textverständnisproblemen davon profitieren, wenn im Unterricht für sie interessante Texte gelesen werden, da „Textverstehen und Lesefreude/Lesemotivation in hohem Masse voneinander abhängig [sind]“ (Leubner et al. 2010, 36). Doch auch Schüler weiterführender Schulen haben vermehrt Probleme literarische Texte zu verstehen, da nun auch Texte mit höherem Schwierigkeitsgrad behandelt werden, welche „am Geschmack und an Vorstellungen der Lehrperson über literarische Bildung orientiert sind“ (Schubert-Felmy 2008, 106). Wenn die Schüler also schon in der Sekundarstufe I „noch nicht über ausgeprägte Lesekompetenzen verfügen, die auf Subjektebene ausreichende Reflexion und innere Beteiligung ermöglichen, geschweige denn Möglichkeiten der Anschlusskommunikation auf sozialer Ebene“, werden sie vor allem in der Sekundarstufe II Probleme in der Texterschliessung aufweisen (Schubert-Felmy 2008, 106). Daher ist es wichtig, dass der Lehrer schon in der Sekundarstufe I die Textverständnisprobleme seiner Schüler erkennt, auf sie eingeht und durch bestimmte Unterrichtsmethoden versucht diese zu beseitigen.
4. Unterrichtsmethoden zur Beseitigung der üblichen Probleme
Da der Literaturunterricht in der Sekundarstufe I als uninteressant und somit auch „aufgrund der eingesetzten Ziele und Methoden“ als uneffizient (Leubner et al. 2010, 82) empfunden wird, sollte zwingend über vielversprechendere Unterrichtsmethoden reflektiert werden, welche nicht nur der Leseförderung und einem besseren Textverständnis entgegenkommen, sondern auch die Leselust und –motivation der Schüler anregen würden (vgl. Hintz 2009, 65).
Bisher wurden zwar schon bekannte Aktionen und Techniken, wie „Vorlesen, Differenzierung mit Bücherkisten, durch Hörbücher und Filme, Buchvorstellungen und vielfältige Formen literarischer Geselligkeit und Projektarbeit, in der Schulkultur z.B. durch Leseclubs, Ausstellungs-, Theater- oder Rezensionsprojeke und vor allem durch eine gute schulbibliothekarische Arbeit, schließlich in Kooperation mit außerschulischen Institutionen der Leseförderung wie Büchereien, durch den Besuch von Autorenlesungen, Messen, durch literarische Spaziergänge usw.“(Rosebrock 2008, 182)
Angewendet; doch diese versprechen nur Erfolge, wenn sie auch regelmässig in den Unterricht integriert werden, ihn auf diese Weise vielschichtiger und interessanter gestalten und somit eine Freude am Lesen und Lernen etablieren können (vgl. Rosebrock 2008, 183, 176). Andere ausserschulische Vorgehensmethoden und Konzepte, wie die Hilfestellung von „Leselernhelfer[n], Lesemütter[n] und Vorlesepaten“, wie auch „Projekte wie »Buddy-Reading«, Lesescreenings, Online-Leseportale (z.B. Antolin) und Organisationen wie »Stiftung Lesen« oder der »Österreichische Buchklub der Jugend«“ scheinen ebenfalls gute Methoden zu sein, um die Lesekompetenz der Jugendlichen zu verbessern (Hintz 2009, 67).
In den nächsten Kapiteln soll jedoch ein Einblick in ausschliesslich schulische Unterrichtsmethoden zur Leseförderung und Verbesserung der Lesekompetenz gegeben werden.
4.1. Lautlese-Verfahren
Beim Lautlese-Verfahren, wie der Name schon sagt, sollen die Schüler kürzere Texte im Unterricht laut vorlesen, um ihre „Lesefähigkeit bei der Worterkennung, der Verbindung von Wortfolgen im Satzzusammenhang und bei der Herstellung von Relationen zwischen den einzelnen Sätzen“, wie auch ihre Leseflüssigkeit zu verbessern; diese Methode ist demzufolge vor allem für Schüler mit Leseschwächen geeignet, da sie einen Fortschritt auf den „hierarchieniedrigen Leseprozessen“ bezweckt (Rosebrock/Nix 2010, 31). Dabei werden zusätzlich aber auch das Textverständnis und das „Reflexionsvermögen“ (Rosebrock/Nix 2010, 31) der Schüler ausgebaut, wobei es bei Texten von höherem Schwierigkeitsgrad wichtig ist nicht zu schnell zu lesen (max. 150 Wörter pro Minute), um auch die Zusammenhänge zwischen den Sätzen im Auge zu behalten (Rosebrock/Nix 2010, 38). Dieses, etwas langsamere, Lesen dient ausserdem dem Training der syntaktischen Segmentierung, der „Betonung, Intonation, Pausengestaltung und einem angemessenen Rhythmus“, welche dem Schüler bei Verständnisproblemen weiterhelfen sollen (Rosebrock/Nix 2010, 38). Zudem soll die „Segmentierungsförderung“ vor allem ausländischen Jugendlichen, die noch über geringe Kenntnisse der deutschen Sprache und ihrer Syntax verfügen, bei der Entwicklung von Lesekompetenzen helfen (vgl. Rosebrock/Nix 2010, 38).
Im deutschsprachigen Raum wird, im Gegensatz zum angelsächsischen, eher das „Reihumlesen“ betrieben, welches nicht mit dem Lautlese-Verfahren gleichzusetzen ist. Dabei werden vom Lehrer „reihum Vorleser“ festgelegt, welche kürzere Textabschnitte laut vorlesen sollen, „während die anderen Schüler still mitlesen (sollen)“ (Rosebrock/Nix 2010, 39). Doch diese Methode soll angeblich nicht sehr wirksam sein, da zu wenig Zeit für die einzelnen Leser einberechnet und auch kein wiederholtes Lesen verlangt wird, um die Leseflüssigkeit und das Verständnis zu fördern (vgl. Rosebrock/Nix 2010, 39).
Das Lautlese-Verfahren hingegen, das „“in den USA […] bereits seit den 70er Jahren mit Erfolgt eingesetzt“ wird, beinhaltet „zwei Grundformen“: „das Wiederholte Lautlesen bzw. das Begleitende Lautlesen“ (Rosebrock/Nix 2010, 39).
„Das Wiederholte Lautlesen («Repeated Reading») wurde in den 70er Jahren von Carol Chomsky (1978) und Richard Samuels (1979) zunächst für den unterrichtsexternen Förderunterricht für leseschwache Schüler(innen) entwickelt. Die Grundidee des Verfahrens ist sehr einfach: Schüler(innen) […] lesen einem Tutor einen kurzen, für sie mittelschweren Text so lange immer wieder laut vor, bis sie einen zuvor festgelegten Standardwert an gelesenen Wörtern pro Minute erreicht haben […]“ (Rosebrock/Nix 2010, 40).
Danach werden, je nach erbrachter Leistung, entweder Texte mit niedrigerem oder höherem Schwierigkeitsgrad vorgenommen. Durch das wiederholte Lesen eignen sich die Schüler „neue Buchstaben- und Wortkombinationen“ an und lernen auch auf welche Weise bestimmte Satzzeichen zu beachten sind (Rosebrock/Nix 2010, 40).
Beim Begleitenden Lautlesen hingegen, geht es nicht um wiederholtes Lesen, sondern darum einen „kompetenterer Leser“ (einen anderen Schüler) auszuwählen, welcher in einem ersten Schritt dem leseschwächeren Schüler zeigen soll wie schnell der vorliegende Text gelesen und auf welche Art er betont werden sollte, um in einem zweiten Schritt den Schüler selbst lesen zu lassen. In diesem Tandem findet nach dem Leseprozess in der Regel ein Gespräch über die Leseleistung und den Textinhalt statt, um den schwächeren Schüler auf seine Lesefehler aufmerksam zu machen, aus welchen er später lernen sollte (vgl. Rosebrock/Nix 2010, 41).
Eine ähnliche Variante bietet die Methode des „Paired Reading“ von Keith Topping, bei welchem auch Tandems aus einem besseren und einem schlechteren Leser gebildet werden, welche nun aber den Text „synchron («im Chor»)“ vorlesen. Diese Unterrichtsmethode verspricht, wenn sie „über einen Zeitraum von mindestens acht Wochen drei mal pro Woche für fünfzehn bis zwanzig Minuten durchgeführt wird“, schon wesentliche Steigerungen der Leseflüssigkeit und des Textverständnisses (Rosebrock/Nix 2010, 42). Sollte der (zuvor) leseschwache Schüler während einer solchen Trainingseinheit schon Verbesserungen in seiner Lesefähigkeiten feststellen, kann er seinen Lesebegleiter mit einem Zeichen (z.B. durch Anstupsen) unterbrechen, um den Rest des Textes nun alleine laut vorzulesen. Um auch eine Lesemotivation herauszubilden, sollten die Schüler dabei ihre Texte selbst wählen dürfen, welche aber zuvor vom Lehrer in entsprechende Schwierigkeitsgrade eingeteilt werden müssen, die den Lesekompetenzen der Schüler entsprechen und ihnen somit einen Leseerfolg sichern können (vgl. Rosebrock/Nix 2010, 43).
„Alle vorgestellten Lautlese-Verfahren sind […] über die Jahre hinweg wiederholt empirisch erforscht worden, wobei ihre Wirksamkeit und Nachhaltigkeit immer wieder bestätigt wurde“ (Rosebrock/Nix 2010, 44). Bei den Schülern wurden Verbesserungen der Leseflüssigkeit („durch wiederholte Messungen der Lesegeschwindigkeit oder der Dekodiergenauigkeit“ (Rosebrock/Nix 2010., 45)), des Textverständnisses und eine Steigerung der Lesemotivation festgestellt (vgl. Rosebrock/Nix 2010, 44). Auch die Frankfurter Universität untersuchte „unter der Leitung der Leseforscherin Cornelia Rosebrock“ (Hintz 2009, 68) in einer empirischen Arbeit die Lesefortschritte „in sechsten Hauptschulklassen“, die mithilfe der „Lautlese-Tandems“ erreicht wurden.
„Die Erstauswertung der Rohdaten zeigt, dass die geförderten Klassen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (in der Unterricht ohne spezifische lesefördernde Massnahmen praktiziert wurde) signifikante Zuwächse in allen Leistungsdimensionen aufweisen: Die Schüler verbesserten sich durch das Training deutlich in ihrer Lesegeschwindigkeit und im Leseverstehen und zeigten eine höhere Lesemotivation am Ende der Förderung“ (Rosebrock/Nix 2010, 45).
Da sich die Verbesserungen somit auch bei Hauptschülern erwiesen haben, und nicht nur bei Grundschülern (für welche diese Methode eigentlich bestimmt war), könnte das Lautlese-Verfahren zukünftig wirklich ins Schulsystem eingeführt werden, um auch die, in der Lesekrise steckenden, 15-Jährigen zu fördern (vgl. Rosebrock/Nix 2010, 45).
4.2. Textnahes Lesen
Paefgen kritisiert das flüchtige Lesen vieler Jugendlichen, die ihrer Meinung nach genau deshalb Mühe mit dem Textverständnis aufweisen (vgl. Schubert-Felmy 2008, S.113).
Daher soll es beim textnahen Lesen darum gehen, „die Kompetenz des sinnerfassenden Lesens zu fördern“ (Schubert-Felmy 2008, 113f.), indem der Text langsam, genau und gründlich gelesen und durchgearbeitet wird, wobei es auch erlaubt ist wieder mal zurückzublättern und bestimmte Absätze nochmals genauer durchzulesen (falls bestimmte Zusammenhänge nicht schon beim ersten Durchlesen klar geworden sind) (vgl. Paefgen 2008, 199).
„Es handelt sich vielleicht um ein ‚altmodisches’ Lesen, das immun ist gegen aktuelle Beschleunigungstendenzen; es ist studierendes Lesen, das den Text ernst nimmt und diesem Zeit und Aufmerksamkeit widmet; ein intellektuelles Lesen, das fragend und erkenntnisinteressiert vorgeht“ (Paefgen 2008, 199).
In der Freizeit liest gewöhnlich weder jung noch alt auf diese Weise, da es „ein erkenntnisorientiertes Lesen, kein unterhaltungsorientiertes“ ist; deshalb muss diese Strategie den Schülern zuerst beigebracht werden (Paefgen 2008, 199). Um den Schülern die Aneignung der Methode bei fremden Texten zu erleichtern, sollten zu Beginn eher kürzere Texte, entweder diktiert, abgeschrieben oder kommentiert werden (Paefgen 2008, 199). Dabei werden auch „unkundige, unwissende Schüler […] mit […] begrenzten Wissen ernst genommen und manchmal in das Zentrum des Unterrichts gestellt“ (Paefgen 2008, 200).
Auch das Buch ‚Lesen nach PISA’ bezieht sich auf textnahes Lesen, welches sich als hervorragende Methode herausstellte um „die Leseprozesse jugendlicher Leser so zu steuern[…], dass sie die im Text ,tatsächlich’ enthaltenen Informationen zur Kenntnis nehmen und diese anschließend wiedergeben können“ (Paefgen 2008, 213).
„Im Unterschied zu den didaktischen Konzeptionen der 1990er Jahre geht es aber den neueren Entwürfen darum, diese Leseprozesse mit Hilfe von präzise formulierten Aufgaben, Fragen oder sogar Multiple-Choice-Tests überprüfbar zu machen[…]“(Paefgen 2008, 213).
Solche Tests bewirken, dass die Texte von den Schülern auch wirklich langsam und statarisch gelesen und mit Stiften bearbeitet werden, um später, neben inhaltlichen Fragen zum Text, auch stilistische Fragen beantworten zu können (vgl. Paefgen 2008, 201).
Was die literarischen Gattungen betrifft, eignet sich das textnahe Lesen nicht nur für lyrische und epische Texte, sondern auch für „Fabeln, Parabeln, Märchen, Sagen, Legenden, Schwänken, Satiren und Kurzgeschichten“ (Schubert-Felmy 2008, 114). Gerade bei lyrischen, ironischen oder satirischen Texten, scheint das textnahe Lesen wirksam zu sein, da, wie schon erwähnt, viele Jugendliche noch Probleme aufweisen rhetorische Figuren, Symbole und „Formen uneigentlichen Sprechens“ aufzuschlüsseln (Schubert-Felmy 2008, 114).
Ein weiterer Schritt, der nach dem textnahen Lesen stattfinden könnte, ist das Nacherzählen oder Paraphrasieren des gelesenen Texts, welches sich schliesslich auch im Alltag unter Freunden und Familie ereignet, wenn man von Filmen oder Bücher spricht, die einen beeindruckt haben (vgl. Schubert-Felmy 2008, 114f.). Das Üben des Nacherzählens erweist sich nämlich auch für spätere weiterführende Schulen als bedeutsam; denn „dass freies Erzählen vor der Klasse viel stärker als bislang geübt werden muss, erfordern auch die Präsentationsprüfungen beim Mittleren Schulabschluss und Abitur“ (Schubert-Felmy 2008, 115).
4.3. Das Hattinger Modell
Dieter Wrobel hatte ein Jahr lang das Hattinger Modell zur nachhaltigen Leseförderung in „Klassen der Jahrgangstufe 5 der Gesamtschule im nordrhein-westfälischen Hattingen“ angewendet, welches seines Erachtens auch in die Sekundarstufe I integriert werden könne (Wrobel 2009, 9). Beim Verfahren nach dem Hattinger Modell beachtet man die individuellen literarischen Interessen und Lesefähigkeiten der Schüler, und lässt sie auch selbst aus einem vorgelegten Bücherinventar Texte auswählen, welche dann in stillen Lesezeiten in eigenem Lesetempo gelesen werden dürfen; dies soll die Lesemotivation und –vergnügen der Jugendlichen steigern (vgl. Wrobel 9; 95; vgl. Hintz 2009, 70).
„Wenn man also einer Lerngruppe ein offenes Buchangebot machen will, dann sind drei unterschiedliche Organisationsformen möglich [welche auch zu einer Mischform zusammengefasst werden können] : Entweder entscheiden sich alle Schülerinnen und Schüler für das gleiche Buch oder es bilden sich Gruppen von Schülerinnen und Schüler, die sich jeweils für ein gleiches Buch entschieden haben – möglicherweise auch in einem bestimmten thematischen Zusammenhang -, oder jeder liest ein anderes Buch, das er für sich ausgewählt hat“(Hintz 2009, S.70f.).
Um auch leseschwachen Schülern einen guten Zugang zur Literatur zu ermöglichen, sollten dabei „auch solche Texte, die eine Lesealtersempfehlung unterhalb der Sekundarstufe I aufweisen“ zur Verfügung gestellt werden, welche vor allem aus dem Bereich Kinder- und Jugenliteratur stammen sollten (Wrobel 2009, 34; vgl. Hintz 2009, 69). “Das Buchangebot in der Schule darf deshalb nicht auf eine didaktisch legitimierte Auswahl beschränkt sein, die sich an einem tradierten »Kanon« von als »literarisch wertvoll« angesehenen Werken orientiert.“(Hintz 2009, 69)
Da von einer Heterogenität der Interessen wie auch der Fähigkeiten in der Klasse auszugehen ist, bedarf es auch „Formen differenzierenden bzw. individualisierenden Unterrichts“ (Wrobel 2009, 28). Diese „Individualisierung des Lesens“ wurde schon mit Erfolg in anderen europäischen Staaten getestet (Wrobel 2009, 29).
Die Rolle des Lehrers ist bei der Anwendung des Hattinger Modells, die Schüler und ihre Lesefortschritte als „Lernbegleiter“ zu „beobachten, fördern und [zu] evaluieren“ (Wrobel 2009, 34).
Nach einer fest im Unterrichtsalltag verankerten Lesephase, folgt die schriftliche Führung eines Lese-Portfolios, in welchem „Steckbriefe“ zu den erarbeiteten Büchern festgehalten werden. Im Anschluss darauf können die vorgelesenen Bücher von den Schülern vorgestellt und Ausschnitte vorgelesen werden (vgl. Wrobel 2009, 96f.; vgl. Schubert-Felmy 2008, 121f.).
Im Zusammenhang mit lesefördernden Massnahmen sind sich Rosebrock und Wrobel einig, dass ausschliesslich „punktuelle Interventionen, so genannte Leuchtturm-Veranstaltungen bzw. Lese-Events wie ein solitäres Leseprojekt, ein Kurzzeit-Lesestrategie-Training, eine Lesenacht oder eine Buchempfehlungsrunde“ keine nachhaltigen Veränderungen der Lesegewohnheiten von Schülern bewirken (vgl. Wrobel 2009, 35; vgl. Rosebrock 2008, 183). Es bedarf einer Ritualisierung des Lesens im Unterricht, in welche solche Leuchtturmprojekte ergänzend integriert werden können (Wrobel 2009, 96; vgl. Hintz 2009, 71).
Wrobel meint, dass „Leseförderung […] komplexe kognitive, motivationale und soziale Prozesse [umfasst], die nicht mit kurzzeitigen oder interventionistischen Maßnahmen beeinflusst oder verändert werden können“(Wrobel 2009, 3). Somit eignet sich das Hattinger Modell meines Erachtens als eine der effektivsten Methoden zur Leseförderung, da sie die Individualität der Schüler beachtet, das selbstständige Lesen zu festgelegten Zeiten als eigenes Unterrichtsfach behandelt und auch die kognitiven Fähigkeiten der Schüler durch das Führen eines Lese-Portfolio fördert.
5. Schlusswort
Die Resultate der PISA-Studien, die im Jahr 2006 und 2009 stattgefunden haben, lassen vermuten, dass in Deutschland und in der Schweiz das Lesen und das Textverständnis durch bestimmte Methoden gefördert wurden, da man eine konstante Verbesserung dieser Staaten feststellen konnte. Bei Österreich hingegen bewirkte das Resultat aus 2006 anscheinend keine Änderungen im Unterricht oder bei der Einstellung der Lehrkräfte, welche wahrscheinlich noch die Auffassung vertreten, dass Leseförderung ausschliesslich in der Grundschule betrieben werden sollte. Doch spätestens nach der letzten PISA-Studie, an welcher Österreich als schlechtester deutschsprachiger Staat abgeschnitten hat, was die Lesekompetenzen ihrer Schüler betrifft, sollten nun auch an österreichischen Schulen das Lesen und die Texterschliessungsfähigkeiten gefördert werden. Mögliche wäre es eine der zuvor erwähnten Methoden anzuwenden, welche schon in anderen Staaten zu besseren Lesekompetenz-Resultaten führten; auch Mischformen könnten sich als nützlich erweisen.
Natürlich gibt es noch viele andere Methoden, um die Lesefähigkeiten und das Textverständnis der Schüler zu fördern, doch die drei vorgestellten Methoden erscheinen durch ihr ganzes Konzept am ausgearbeitesten und effizientesten zu sein, um die Hauptprobleme, welche Jugendliche mit dem Lesen aufweisen, zu beseitigen.
Wichtig ist dabei nur, dass solche Projekte so früh wie möglich gestartet werden (z.B. gleich zu Beginn der Sekundarstufe I), um zu versuchen die Lesekrise der 15-Jährigen gar nicht erst entstehen zu lassen. Denn noch in der Sekundarstufe II gab es zu meiner Zeit Mitschüler, welche nicht flüssig lesen konnten oder den Inhalt des Gelesenen nicht wiedergeben konnten. Auch meine Geschwister, welche zur Zeit an die Kantonsschule Wil gehen, berichteten mir von leseschwachen Mitschülern, deren „Leseflüssigkeit gleich Null“ zu setzen sei. Daher sollte die Leseförderung vor allem in der Sekundarstufe I mit nachhaltigen Methoden betrieben werden, damit Jugendliche ihre Leseprobleme rechtzeitig bewältigen und aus ihrem Leben schaffen können.
6. Literaturverzeichnis
Hintz, Ingrid (2009): Bücherlesen und Leseförderung in der Sekundarstufe I. In: Ide. Informationen zur Deutschdidaktik. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule 33/3, S. 63-73.
Konsortium PISA.ch (2010): PISA 2009 - Schülerinnen und Schüler der Schweiz im internationalen Vergleich. Erste Ergebnisse. Bern und Neuchâtel: BBT/EDK und Konsortium PISA.ch.
Leubner, Martin/Saupe, Anja/Richter, Matthias (2010): Literaturdidaktik. Berlin: Akademie Verlag.
Paefgen, Elisabeth K. (2008): Textnahes Lesen und Rezeptionsdidaktik. In: Kämper-van den Boogaart, Michael (Hrsg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Scriptor, S. 199-215.
Prenzel, Manfred/Artelt, Cordula/Baumert, Jürgen/Blum, Werner/Hammann, Marcus/Klieme, Eckhard/Pekrun, Reinhard (Hrsg.)(2007): PISA 2006 - Die Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie. Zusammenfassung. Online unter:
http://pisa.ipn.uni-kiel.de/zusammenfassung_PISA2006.pdf <Stand: 5.1.2011>.
Richter, Tobias/Christmann, Ursula (2002): Lesekompetenz - Prozessebenen und interindividuelle Unterschiede. In: Groeben, Norbert/Hurrelmann, Bettina (Hrsg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim, München: Juventa Verlag, S. 25-58.
Rosebrock, Cornelia (2008): Lesesozialisation und Leseförderung. In: Kämper-van den Boogaart, Michael (Hrsg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Scriptor, S. 163-183.
Rosebrock, Cornelia/Nix, Daniel (2010): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. 3., unveränderte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Schubert-Felmy, Barbara (2008): Umgang mit Texten in der Sekundarstufe I. In: Kämper-van den Boogaart, Michael (Hrsg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Scriptor, S. 105-126.
Stanat, Petra/Artelt, Cordula/Baumert, Jürgen/Klieme, Eckhard/Neubrand, Michael/Prenzel, Manfred/Schiefele, Ulrich/Schneider, Wolfgang/Schümer, Gundel/Tillmann, Klaus-Jürgen/Weiss, Manfred (Hrsg.)(2002): PISA 2000 - Die Studie im Überblick. Grundlagen, Methoden und Ergebnisse. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Online unter: http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/PISA_im_Ueberblick.pdf <Stand: 5.1.2011>.
Wrobel, Dieter (2009): Individuell lesen lernen. Das Hattinger Modell zur nachhaltigen Leseförderung in der Sekundarstufe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren (=Deutschdidaktik aktuell 31).
7. Anhang
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Mittelwerte und Streubreite der Schülerleistungen in den drei Kompetenzbereichen für die PISA-Teilnehmerstaaten und 14 Länder der Bundesrepublik (Stanat et al. 2002, Tabelle 2, 8).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Perzentilbänder für Lesekompetenz im Vergleich der OECD-Staaten (Prenzel et al. 2007, Abb. 4, 14).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Leseleistungen im internationalen Vergleich, PISA 2009 (Konsortium PISA.ch 2010, Abb. 1, 13).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Mehrebenenmodell des Lesens (Rosebrock/Nix 2010, 16).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5: Lesesozialisation: Typische Verlaufsformen (Leubner et al. 2010, Abb. 9, 78).
[...]
[1] Ausführlicher in: Rosebrock/Nix (2010): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung, Kapitel 2.2 Ein didaktisch orientiertes Modell von Lesekompetenz, S.17-24.