Bildnerische Entwicklung eines Kindes im biografischen Kontext

Am Beispiel einer Längsschnittstudie


Epreuve d'examen, 2014

147 Pages, Note: 1.0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Über die Kinderzeichnung
2.1 Kinderzeichnung und Persönlichkeit
2.2 Kinderzeichnung als Kommunikationsmedium
2.3 Untersuchung und Deutung von Kinderzeichnungen
2.4 Kinderzeichnung und Lebenswelt

3 Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven
3.1 Die Entwicklung der Kinderzeichnungen
3.2 Phasen der Kinderzeichnung
3.2.1 Die Kritzelphase| ab etwa 18 Monaten
3.2.2 Vorschemaphase und Werkreife | ca. ab 4 Jahre
3.2.3 Schemaphase I | ca. 5 bis etwa 8 Jahre
3.2.4 Anmerkungen zur Schemaphase
3.2.5 Schemaphase II | ca. 8 bis 12 Jahre

4 Forschungsinteresse und Forschungsdesign
4.1 Methodische Grundlagen
4.2 Qualitative empirische Forschungsmethoden
4.2.1 Auswertung
4.2.2 Triangulation
4.3 Einzelfallanalyse

5 Biografie
5.1 Biografieforschung als Methode qualitativer Empirie
5.2 Probleme biografisch-ästhetischer Forschung
5.3 Das narrative Interview
5.3.1 Die Rolle von Text als Forschungsmaterial und Erhebungsmedium
5.3.2 Vorgehensweise
5.3.3 Vorbereitung und Konzept
5.3.4 Kontaktaufnahme
5.3.5 Erhebung
5.3.6 Durchführung des Interviews
5.3.7 Auswertung und Interpretation

6 Fallstudie X. - Erforschung bildnerisch-ästhetischer Äußerungen und Prozesse
6.1 Entstehungskontext der Kinderzeichnungen: Haiti zur Zeit des Aufenthaltes
6.1.1 Allgemeine Daten zum Land - Geografie, Wirtschaft, Klima, Religion
6.2 Rekonstruktion einer Biografie durch fotografische und schriftliche Dokumente
6.2.1 Biografie

7 Kategorisierung der gesamten Kinderzeichnungen
7.1 Zum Material
7.2 Einteilung
7.3 Gesamteindruck
7.4 Kritzeleien
7.5 Schablonen oder institutioneller Bezug
7.6 Technikbezug
7.7 Menschen, Tiere und Häuser
7.8 Natur und Umwelt
7.9 Krankheit, Krieg und Tod
7.10 Geografie, Kultur, Identität
7.11 Zusammenfassung

8 Auswertungsmethode nach Schoppe
8.1 Besondere Themen und besondere Probleme: Sehnsucht und Heimat
8.2 Auswertung des Motivs „Sehnsuchts- und Wutbilder“ nach Schoppe
8.2.1 Differenzierung des Motivs
8.2.2 Inhaltlich-intentionaler Gesamteindruck
8.2.3 Blattausnutzung
8.2.4 Quantität/Qualität der Farbe
8.2.5 Stellenwert der Bildtexte für die Motivstruktur
8.2.6 Stellenwert der Menschdarstellung für die Motivstruktur
8.2.7 Die Worte zu den Bildern: Gegenüberstellung
8.2.8 Zusammenfassung

9 Ergebnisse: Bezüge zwischen bildnerischen Darstellungen und der Biografie

10 Literaturverzeichnis

11 Abbildungsverzeichnis

12 Anhang

1 Einleitung

Als einen „weißen Fleck auf der Landkarte des Wissens über Kinderzeichnungen“ (Schuster 1994: 46) bezeichnet Schuster das Erleben von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf ihre eigenen, bildnerischen Dokumente. Die traditionelle Kinderzeichnungsforschung stützte sich in Vergangenheit vorwiegend auf das Endprodukt der Kinderzeichnungen1. Es wurde gefragt: Was ist wie bildnerisch entstanden? Weniger ging es dabei um die Frage: Wie und was hast du erlebt? Oder rückblickend: Wie war das damals, warum hast du das dargestellt?

Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, diese Fragen in all ihrer Komplexität beantworten zu können - vielmehr stellt sie sich der Annäherung der daran anschließenden, offenen Forschungsfrage: Welche Aussagen lassen sich zu der bildnerischen Entwicklung in Bezug auf die Biografie treffen? und bedient sich dazu dem Interview eines Erwachsenen, der sich seiner Kinderzeichnungen und dem damaligen Erleben erzählerisch erinnert. Damit soll ein Versuch gegeben sein, erste mögliche Schattenumrisse auf der weitläufigen, weiß befleckten „Landkarte“ hervorzubringen. Großen Künstlern, ob in der Literatur, Musik oder bildenden Kunst wird sich durch biografische Spuren genähert - warum nicht so auch der Kinderzeichnung?

Kinder können meist kaum Auskunft darüber geben, wie sie zeichnen, sie tun es einfach (vgl. Schuster 1994: 45). Mit einer biografischen Herangehensweise an entfernt zurückliegende Kinderzeichnungen wird demnach eine Art „Rückwärtsgang“ eingelegt und so versucht, eventuelle Bezüge herauszufiltern. Die Arbeit basiert dazu auf der in das wissenschaftliche Licht gerückten Dokumentation des bildnerisch-ästhetischen Verhaltens von X.2 in den Jahren 1980-1988, und damit einer alltäglichen Handlung der meisten Kinder: dem bildnerischen Darstellen von Erlebtem und Gedachtem. Dazu wird zunächst in einem theoretischen Teil Grundlegendes über die Kinderzeichnung erläutert. Es wird darauf eingegangen, wie Persönlichkeit und Kinderzeichnung zusammenhängen, wie Kinderzeichnungen als Kommunikationsmedium einstehen und wie diese empirisch untersucht und gedeutet werden. Zudem, und darauf liegt ein besonderes Interesse in Bezug zur Biografie, werden in der Kinderzeichnung enthaltene, lebensweltliche Aspekte aufgezeigt. Es folgt die Darstellung von wichtigen Ansätzen der Kinderzeichnungsforschung und die allgemeine Phasenfolge der Kinderzeichnungsentwicklung.

Um einer Verknüpfung von Kinderzeichnung und Biografie nachzukommen, muss auf subjektive, biografische Aspekte eingegangen werden. Methodisch wird sich dazu der Biografieforschung bedient. Sich einer Biografie zu widmen bedeutet allerdings, etwas Unabgeschlossenem und nie in seiner Gänze Erforschbarem gegenüberzustehen, da es sich um einen zutiefst subjektiven Gegenstand handelt. Ästhetische Prozesse und deren biografische Einbettung sind flüchtig und kaum objektiv abbildbar. Zur Datengewinnung werden daher verschiedene Quellen hinzugezogen, wie etwa ein schriftlich-narratives Interview und bildnerische, sowie fotografische Materialien, welche miteinander in Beziehung gesetzt werden, um mögliche Analogien aufzudecken. Anschließend werden diesbezüglich empirische Forschungsmethoden erläutert und kombiniert angewandt.

Der Schwerpunkt dieser Arbeit bezieht sich auf die Auswertung des Gesamtmaterials, sowie auf die Betrachtung eines ausgewählten Motivs mit hohem Biografiebezug: dem Motiv der „Sehnsuchts- und Wutbilder“. Eine Analyse dieses Motivs erfolgt auf der lebensweltlichen Herangehensweise nach den Kriterien von Andreas Schoppe. Dieser entwickelte hierzu eine Analysemethode, die nicht nur entwicklungspsychologisch und formal-gestalterisch orientiert ist, sondern das kindliche Handeln in dessen Umwelt und Lebenswelt angeht.

Damit steht also die Fallstudie eines exemplarischen, ästhetischen Prozesses im Mittelpunkt, welche durch biografische Aspekte angereichert wird. Es wird durch einen an der Sozialforschung orientierten, rekonstruktiven Zugang ein ästhetischer Prozess, kein Produkt untersucht. Somit rückt die Bedeutung der Interpretation bildnerischer Produkte in den Hintergrund und die Beschreibung findet auf einer individuellen, biografischen Ebene statt. Zum Schluss der Arbeit wird auf die gewonnenen Ergebnisse und die daraus resultierende Konsequenz zur Beantwortung der Forschungsfrage eingegangen.

2 Über die Kinderzeichnung

Bevor Menschen schreiben, malen sie (vgl. Duncker et.al. 1993: 7). Bildnerische Äußerungen3, gleich welche dazugehörigen Fertigkeiten und Techniken vorhanden oder nicht vorhanden sind, scheinen damit zu den elementaren „Suchbewegungen“ zu gehören, in dem sich ein junger Mensch dem eigenen Selbst und der Welt anzunähern versucht. Am Anfang steht dabei eine elementare Erfahrung: Ein Ding, das auf einen Untergrund gerieben wird, hinterlässt Spuren. Meist ist das eine beiläufige und gleichzeitig aufregende Entdeckung, ob dies nun mit Kreide, einer Flüssigkeit, einem Stift, in Sand, in die Erde oder Ähnlichem geschieht. Diese Gegenstände, kombiniert mit Bewegung, hinterlassen Spuren oder Zeichen auf Straßen, Mauern, Wänden, Tischen, auf Sand oder Papieren. Die erste Erfahrung des Spurenhinterlassens, zunächst aus einer unkontrollierten Lust an Motorik, gilt heute allgemein als grundlegender Beginn der bildnerischen Entwicklung und dem Interesse, etwas darzustellen. Vergleichsweise mit dem Lallen für die Sprachentwicklung eines Kindes, wird hier der erste Schritt in eine unbekannte Welt gesetzt, die nach Eintritt schrittweise erforscht wird.

An den ersten Spuren lässt sich Lebenshunger und Erkundungsfreude eines jungen Menschen erkennen, Bilder entstehen mit der Begegnung der Welt. Mit der Zeit entwickeln sich Kinder dann kognitiv und motorisch, auch die Wahrnehmung wird differenzierter. Durch die Zeichnung ist es Kindern möglich, sich selbst, ihre Umwelt, die Beziehungen und ihr Weltbild bildnerisch-erzählend auszudrücken und in eine neue Gestalt zu bringen. Es kann sich über Bildsprache ausdrücken und teilt damit sich und das eigene Bild von Wirklichkeit mit.

„Das Kind projiziert seine Kenntnisse in die Zeichnung und sie verhelfen ihm dazu, die Wirklichkeit darzustellen“ (Wildlöcher 1995: 214).

Damit kann das Kind nicht nur etwas Konkretes darstellen, sondern auch Gegebenheiten emotional bewerten. Nach Seitz (1995) lässt sich beispielsweise beobachten, dass Kinder Krisensituationen zum Anlass nehmen, bildnerisch aktiv zu werden. Oftmals aber führt das Erstellen von Zeichnungen zu einer Entspannung, nicht selten geraten sie dabei in einen fast träumerischen Zustand (vgl. Seitz 1995: 15). Über den bildnerischen Ausdruck wird so

Spannung, die sich bewusst oder unterbewusst aufgebaut hat, abgetragen. Ein Streben nach Harmonie stellt auch Schuster fest, wenn er betont, Kinder „beruhigen sich selbst mit dem Malen von heilen Welten“ (Schuster 2010: 168). Damit bringt er einen Aspekt der Verarbeitung von Welt hinein, der einem therapeutischen Ausgleich anmutet. Zur Funktion der bildnerischen Darstellungen während der Kindheit gibt es verschiedene Hypothesen. Die wichtigsten sind die folgenden vier: Mit der Nachahmungsfunktio n wird das bezeichnet, was Kinder in einem spielerische Nachahmen von Erwachsenenverhalten gestalten, die Abbildungsfunktion ist die realitätsnahe Abbildung eines Gegenstandes oder einer Situation aus der Welterfahrung. Auf die Kommunikationsfunktion lassen sich all diejenigen Darstellungen zurückführen, welche eine Mitteilung transportieren, die Ausdrucks- und Symbolfunktion verweist auf all diejenigen Kinderzeichnungen , welche als Ausdrucksform des kindlichen Innenlebens eingeordnet werden können (vgl. Meili- Schneebeli 2000: 20ff).

Schoppe weist weiter darauf hin, dass es sich in der Bildsprache der Kinderzeichnung um eine offene und ehrliche Sprache handelt. Es ist zweifellos schwieriger, zeichnerisch etwas Falsches glaubhaft zu machen, im Gegensatz zu einer unrichtigen Darstellung in verbaler Form (vgl. Schoppe 1991: 179). Aufgrund dieser Tatsache lässt sich erklären, warum Kinderzeichnungen auch Gegenstand in Therapien (Kunsttherapie), zur Diagnostik und Prävention sexueller Gewalt, oder auch als Beweismittel vor Gericht Einzug hielten (vgl. Schuster 2010: 121ff).

Wer die Gelegenheit erhält, Kinder beim Zeichnen zu beobachten, der kann je nach Anlass verschiedene Beobachtungen machen: von temperamentvoller Begeisterung, forschender Konzentration, engagierter Lustbetonung, schwungvoller Poesie bis zu träumerischer Versunkenheit. Nicht nur für Nahestehende eines Kindes sind Kinderzeichnungen ein Faszinosum; auch das Interesse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen hat zu einer langen Tradition der Kinderzeichnungsforschung geführt. Ob nun laienhaftes Vorverständnis oder wissenschaftliche Empirie: Aus allen Richtungen wird versucht, sich dem Phänomen der Kinderzeichnung anzunähern und damit einen Schlüssel für eine Art individuelle, ästhetische Reise zu erhalten.

2.1 Kinderzeichnung und Persönlichkeit

Bevor ein Kind zu einer bildnerischen Darstellung kommt, kann angenommen werden, dass einige grundlegende Vorerfahrungen vorzufinden sind. Die Motorik hat sich so verfeinert, dass der Gegenstand, welcher eine Spur hinterlässt, gehalten und auf einer Ebene geführt werden kann. Der Zusammenhang zwischen Bewegung und Spur wurde beobachtet und verstanden. Des Weiteren wird die Bewegung nun so bewusst geführt, dass keine willkürliche, sondern die tatsächlich beabsichtigte Figur auf dem Untergrund erscheint. Die Zeichenbewegung, die vorher aus dem ganzen Arm heraus geführt wurde, geschieht nun durch die verfeinerte und kontrollierte Führung der Hand.

Durch eine kontrolliert geführte, aber frei und spontan angefertigte Kinderzeichnung offenbart ein Kind nicht nur kognitive, motorische Fähigkeiten, eine momentane Raumorganisation und Einblick in die subjektive Wahrnehmung, sondern auch Facetten der eigenen Persönlichkeit. Bilder sind gewissermaßen ein Abdruck einer momentanen Gefühlslage und ein Zeugnis von Weltaneignung. Besonders prägende oder bedeutende Erlebnisse wie beispielsweise ein Besuch im Zoo, eine Schifffahrt, ein schönes Weihnachtsfest, ein tolles Geschenk oder Ähnliches finden daher oft Einzug in die Kinderzeichnung. Aber auch Ängste, Wünsche und Eigenarten eines Kindes. Die nicht seltenen Wiederholungen von Elementen oder Teilelementen lassen eine dauerhafte Beschäftigung mit einem bestimmten Inhalt erahnen. Daher lässt sich die Kinderzeichnung als Projektionsfläche4 der Persönlichkeit betrachten (vgl. Wildlöcher 1995: 98), indem sich anhand von dargestellten Themen und Merkmalen ein authentischer Einblick in die Persönlichkeitsstruktur erhalten lässt. Die Kinderzeichnung wird somit, neben der entwicklungsfördernden und aufzeigenden Komponente, ein Schlüssel zur Persönlichkeit des Kindes. Auch Arnheim ist der Ansicht, das jede visuell erbrachte Tätigkeit „etwas über die Natur des menschlichen Daseins aussagt“ (Schoppe 1991: 182 zitiert nach Arnheim 1972: 279). Da diese Natur eines Kindes nicht nur von inneren Umständen abhängt, sondern eben auch von der subjektiven Rezeption der Umwelt, beruhe die Umsetzung der Bilder laut Reiß auf einer

„Summe von Erfahrungen; es handelt sich um optische, räumliche, haptische, kognitive und affektive Erlebnisse der ganzen Persönlichkeit“ (Reiß 1996: 20).

Ein aggressiver, kraftvoller Strich, geführt mit zerstörerischer Wut, welcher zum Reißen des Papiers führt, mag Aussagen über den emotionalen Stand geben können, ebenso wie ein zögernd-zarter Strich, der kaum zu erkennen ist. So hat man einen Zusammenhang zwischen grafischem Ausdruck und dem Temperament einer Persönlichkeit bestätigen können (vgl. Wildlöcher 1995: 101). Allerding sollte einem symbolischen Wert mit Vorsicht begegnet werden, eine Analyse bedarf fachwissenschaftlicher Betrachtung.

Wildlöcher unterscheidet verschiedene Qualitäten in Kinderzeichnungen, von denen jede wertvoll hinsichtlich ihrer Aussagekraft sei: einerseits ist da der Ausdruckswert, der durch individuelle Form- und Farbgebung Aussagen über die Befindlichkeit treffen kann; zudem ein Projektionswert, der die Weltsicht eines Kindes vermittelt, sowie ein narrativer Wert (siehe „Kinderzeichnung als Kommunikationsmedium“), der aufzeigt, welche Inhalte das Kind momentan beschäftigen (vgl. Wildlöcher 1994: 113).

Neben all den entwicklungsbedingten Regelhaftigkeiten, die mehr oder weniger nach Schemata oder Phasen ablaufen, bleibt stets ein gewisser Grad an Freiheit für individuelle Stilentwicklung. Bei Kellogs Untersuchungen zu der Darstellung von Menschen lässt sich gut erkennen, dass sich Kinder zwar verwandten Schemata bedienen, diese aber individualisieren (vgl. Kellog 1979: 104 in Schuster 1993: 83, Abb. 5.1). Eine Individualisierung des Zeichenstils ließ sich auch bei Hartley et al. (1982) und Somerville (1983) empirisch nachweisen. Diese überließen Laien mehrere, sich nicht grob unterscheidende Zeichnungen, welche sie dann nach Zeichnendem (dem Kind) einteilen sollten. Es stellte sich heraus, dass diese Laien 2 von 3 Kindern mit einer hohen Wahrscheinlichkeit korrekt zuordnen konnten (vgl. Schuster 1993: 84).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kinderzeichnungen die ganz individuellen Stände und Zustände eines Kindes transportieren können, indem sie von dem Kind und seiner Weltsicht erzählen. Sie vermögen etwas auszudrücken, das nicht durch Sprache sagbar ist (oder gemacht werden kann/soll) und stellen ein Medium dar, welches eine Projektion von individuell Erlebtem und Gedachtem zulässt.

So unterschiedlich wie Kinder in ihrer Persönlichkeit und Lebenswelt sind, so verschieden erleben sie auch einen Zugang zum Malen und Zeichnen. Die Aussage, die früher und teilweise noch heute getroffen wird, alle Kinder beschäftigen sich gerne und mit viel Fantasie mit dem Malen und Zeichnen, wird heute nur noch selten vertreten (vgl. Krenz 2004: 13). Allerdings wohnt den bildnerischen Darstellungen eine besondere, emotionale Qualität inne. Kinder erleben ihr Umfeld, eine ganz eigene Welt, als ein großes Sammelsurium verschiedener Eindrücke. Anders als Erwachsene können Kinder dabei die Eindrücke nicht filtern oder beiseite legen und nicht immer sprachlich erfassen. Durch die Veränderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen, beispielsweise in der familiären Situation, des gesellschaftlichen Lebens, der sozialen Umgangsformen oder der ökologischen Bedingungen, geschieht die Entwicklung und Erziehung in diesen Zusammenhängen. Alle Erfahrungen, Erlebnisse, Eindrücke und Geschehnisse wollen nachgespürt und nachgeordnet werden. Nach Krenz hat das Kind dazu verschiedene Möglichkeiten, dies zu tun. Er nennt neben dem Malen und Zeichnen auch die Bereiche des Verhaltens, des Spiels, der Bewegung, der Sprache und der Träume (vgl. Krenz 2004:17) und bezeichnet dabei die Kinderzeichnung als „Photographie(!) der Seele“ (ebd.).

2.2 Kinderzeichnung als Kommunikationsmedium

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ heißt es im gängigen Sprachgebrauch. Tatsächlich vermittelt die Kinderzeichnung, so weiß man heute, dem Rezipierenden5 eines Bildes oft mehr als Sprache, Kinder kommunizieren durch ihre Zeichnungen.

„Das Zeichnen gehört neben der sprachlichen Verständigung zu den wichtigsten Aneignungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsformen in der Kindheit“ (Neuß 1999: 49).

Kinder verfügen in einem gewissen Altersabschnitt noch nicht über das sprachliche Ausdrucksvermögen zur Vermittlung abstrakter Inhalte, jedoch über Kommunikationswege, die über Symbole getragen werden: die bildliche Sprache. Durch Bilder kommunizieren Kinder mit Bezugspersonen, geben Einblick in die Lebenswelt, die Entwicklung und momentane Gefühlszustände. Durch einen zeichnerischen Ausdruck entwickeln Kinder reflexive Fähigkeiten für das Leben, bereichern ihre Darstellungstechnik, verarbeiten Realität oder Träume und bauen Vertrauen in die eigenen Fertigkeiten auf.

Kinder zeichnen das, was sich aus ihrer Sicht (noch) nicht, oder nur sehr schwer in Worte fassen lässt. Die Zeichnung gibt somit nicht nur einen tiefen Einblick in die Individualität eines Kindes, sondern wird als Medium auch zum „Spiegel der Seele“ (Baumgardt 1985: Kinderzeichnungen - Spiegel der Seele). Dieses Medium beinhaltet eine Art von Sprache, welche einen „Zugang zur Welt des Kindes“ (Wildlöcher 1964: 16) ermöglicht. Zeichnungen dürfen allerdings nicht auf eine Spiegelung der Seele reduziert werden, sondern sollen vor allem als Entwicklungselement erfasst werden. Gegenwärtig bezeichnet man die Kinderzeichnung daher als eine Möglichkeit für Kinder, ihre Erfahrungen zu verarbeiten (vgl. Kirchner 2003: 103).

Für Neuß stellen Kinder in bildnerischen Darstellungen „ihre Wirklichkeit dar und die unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung mit ihr“ (Neuß 1999: 49), welches einen Eindruck in die individuellen Lebenswelt ermöglicht. Daher geben die bildnerischen Darstellungen Aufschluss über die Lebenswirklichkeit des Kindes und fungieren als Interaktionsmedium zwischen Kind und Umwelt (vgl. Peez 2008: 142).

Auch Richter und Reiß nehmen die Kinderzeichnung als Kommunikationsmedium auf, wodurch sich ein Feld für dialogisches Potenzial eröffnet (vgl. Reiß 1996: 27). Um ein Rezipieren zu ermöglichen, bedarf es allerdings einer ästhetisch-sensiblen Sichtweise des Rezipierenden. Auch die von dem Kind dargelegten Zeichenangebote, die abhängig von Geschlecht, Alter und Kultur sein können, sind bei der Rezeption von Bedeutung. Alles, was abgebildet ist, erzählt vom Kind, denn „darstellen heißt klarstellen“ (Seitz 1995: 15).

Grundlage für eine gelingende Kommunikation mit dialogischem Potenzial ist jedoch, dass das, was gesendet wurde, auch (s)einen Empfänger erreicht. Dem liegen allerdings unterschiedliche Empfänger oder Sendeabsichten zugrunde, weswegen Kinderzeichnungen auch im Kontext der Absicht betrachtet werden sollten. Dabei ist die Kinderzeichnung an sich nicht primär auf einen Dialog angelegt, sondern eher auf eine Art bildnerischen Monolog des Kindes. Die Kinderzeichnung ist Medium für kindliche Weltaneignung, habe aber vor allem „einen Wert für das Kind selbst: als eine Hilfe, um seine Wirklichkeitserfahrungen zu verarbeiten, als eine Möglichkeit, sich mit der sichtbaren Welt auseinanderzusetzen. So wird das Zeichnen zum wichtigsten Ausdrucksmittel vor allem für das Vor- und Grundschulkind“ (Bareis 1980: 5.8).

Tritt zu diesem Monolog in Weltverarbeitung ein zweiter hinzu, sozusagen ein Rezipierender oder Lesender der monologischen Spuren, werden diese Inhalte übermittelbar, es entsteht eine Beziehung. Der Rezipient deutet die Bildzeichen für das Bezeichnete6, um diese verstehen zu können, muss allerdings ein gemeinsames Repertoire von Zeichen gegeben sein. Beispielsweise muss dem Lesenden einer Kinderzeichnung deutlich sein, dass es sich bei einem runden Gebilde, meist gelb gefärbt und mit strahlenartigen Strichen versehen, um eine Sonne handelt (nicht zu verwechseln mit den „Kopffüßlern“, siehe Kapitel 3.2).

„Als Kommunikationsmittel steht die Kinderzeichnung in einem situativen,

jederzeit veränderbaren Kontext, durch den die Bedeutung für einen Interpreten bestimmt ist. Die Vielzahl der potentiellen, kontextuellen Bezüge macht die Kinderzeichnung zu einem komplexen Kommunikationsphänomen“ (Wichelhaus in: Schuster 1989: 197ff).

Kinderzeichnungen sind also in ihrer Gesamtheit an inneren und äußeren Umständen zu betrachten, und können, auch aus heutiger Sicht, nicht in ihrer Gänze entschlüsselt werden. Besonders die inhaltlichen Beziehungen und die Ansätze für Interpretation müssen noch genauer betrachtet werden.

Ein Vorteil des kommunikativen Charakters der Kinderzeichnung liegt in der zeitunabhängigen Konstanz. Das bedeutet, dass diese auch rückblickend betrachtet werden können, ohne an Kommunikationspotenzial zu verlieren. Um einen möglichst stimmigen Eindruck zu erhalten, sollten Kinderzeichnungen in die komplexen inneren sowie äußeren Umstände eingebettet werden. Nicht nur das Entstehen, sondern auch das Betrachten einer Zeichnung ist ein komplexer, ganzheitlicher Vorgang. Dabei wird der Inhalt, Entwicklungsstand, der historische, soziale, personale sowie der kulturelle Hintergrund in den Kontext mitaufgenommen. Verschiedenen Elementen wurde sich hierbei zugewandt, um Spuren von Entwicklung und Emotion feststellen zu können. Vor allem Farbe und Raumnutzung wird ein kommunikativ-emotionaler Bedeutungswert zugeschrieben. Aus der Gestaltungspsychologie weiß man, dass jede Farbe ihre eigene Bedeutung oder Wirkung hat. Nicht umsonst wird gegenwärtig auch die Wirtschaft häufig mit psychologischen Erkenntnissen bereichert, vor allem zum Zwecke von verkaufsfördernden Werbestrategien. Die folgenden Bereiche stellen auf Grund ihrer Komplexität einen eigenen Schwerpunktbereich dar und werden aus Gründen der Vollständigkeit nur skizziert.

Der Gebrauch der Farben kann Aussagen über damit verbundene Emotionen machen. Beispielsweise können Darstellungen in kalten oder warmen Farbtönen recht unterschiedliche Wirkungen erzeugen. Die Motivation der Kinder an einer bestimmten Farbgebung ist allerdings zunächst darauf zurückzuführen, etwas möglichst klar darzustellen („darstellen heißt klarstellen“, Seitz 1995: 15). Beispielsweise wird das Meer typischerweise blau, die Wiese grün oder die Sonne in den meisten Fällen gelb dargestellt. Dazu werden verschiedenen Farben eigene Aussagen zugeschrieben, die an dieser Stelle aufgrund der Umfänglichkeit nicht weiter ausgeführt werden können. Siehe weiteres hierzu in der Studie von Marie-Luise Dietl 2004 oder auch Reiß 1996 zum Gebrauch der Farben in Kinderbildern (vgl. Grittner 2007: 127).

Wird der komplette Raum ausgenutzt, so wird dies oft als Zeichen von Unreife gedeutet (vgl. Wildlöcher 1995: 104). Im fortschreitenden Alter ist zu erkennen, dass sich das Kind gezielt einem Teil des Raumen widmet. Es gibt verschiedene Theorien zu der Bedeutung von Raumanordnung, so in etwa geht man in der Psychologie davon aus, dass diese etwa auf die Gefühlslage und Persönlichkeit Rückschlüsse zulässt (ebd.: 104). Aber auch hier gilt im Allgemeinen eine Verdeutlichungsabsicht: So werden etwa Häuser generell am unteren, Himmel an dem oberen Blattrand platziert. Weiteres hierzu lässt sich bei Reiß 2003 (Darstellung des Raumes bei Kindern und Jugendlichen) finden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bildnerische Ausdrucksmöglichkeit bedeutsam für die Entfaltung von Kindern ist, da sie persönlichkeitsbildende Elemente aufweist und sprachlich-komplexe Sachverhalte auf symbolische Ebene überträgt, reduziert und so unsagbare Dinge plötzlich „sagbar“ macht. Bildnerische Produkte von Kindern enthalten demnach nicht nur eine reichhaltige Bildsprache, sondern vor allem eine kommunikative „Spur“: eine grafische Spur, welche psychomotorische Entwicklung, momentane Zustände und darüber hinaus auch individuelle Bezüge zur Persönlichkeit aufzeigt.

2.3 Untersuchung und Deutung von Kinderzeichnungen

Kinderzeichnungen als Untersuchungsinstrument sind in der kunstpädagogischen Forschung ein weites, vielschichtiges Feld, welches unter verschiedenen Aspekten, wie etwa Entwicklungsverläufen beschrieben, analysiert und dokumentiert wird. Spätestens seit der Entdeckung der freien Kinderzeichnung gegen Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. Peez 2008: 167) wurden viele Versuche gestartet, die kindliche Bildsprache zu erklären. Dazu wurde sich vor allem an erziehungswissenschaftlichen Forschungsmethoden orientiert (vgl. Peez 2001b: 18), an die sich allerdings je nach ästhetischem Forschungsinteresse angepasst werden muss. Zum Interpretieren und Deuten von Kinderzeichnungen haben sich ebenfalls verschiedene Verfahren etabliert. Es ist jedoch aufgrund der komplexen Einflüsse auf das Subjekt sowie den Zeichenprozess selbst schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen.

Wird auf eine Erkenntnis von ästhetischen Erfahrungen abgezielt, werden dazu beispielsweise kulturelle, soziale oder biografische Komponenten mit einbezogen (Peez 2001b: 19). Richter beschrieb dazu eine Herangehensweise, indem er zwischen bewertenden, beurteilenden und interpretierenden Ansätzen differenzierte (vgl. Richter: 164ff).

Kinderzeichnungen bestehen aus mehreren Ebenen, sie sind komplexe Konstrukte und dürfen weder über- noch unterschätzt werden. Ungeübte Augen können dabei den Fehler begehen, eigene Befindlichkeiten, Vorurteile oder Erwartungen in das Bild zu projizieren und finden Bestätigung dort, wo es gerade „passt“. Um Kinderzeichnungen deuten zu können, braucht es ein genaues Wissen über das Kind und selbst dann sind zuverlässige Aussagen ungewiss. Wildlöcher formuliert es 1974 in dem (zu seiner Zeit bahnbrechenden) Buch „Was eine Kinderzeichnung verrät“ folgendermaßen:

„Letztendlich offenbart die Kinderzeichnung, wie jede andere menschliche Ausdrucksform, ihre Reichtümer demjenigen, der eine naive und kluge Haltung einzunehmen versteht. Man muss die Zeichnung als das nehmen, was sie ist, nämlich ein Bild und nichts anderes als ein Bild, aber gleichzeitig wissen, dass dieses Bild eine komplexe Sichtweise darstellt, wobei uns nur eine gründliche Analyse den Umfang ihrer möglichen Bedeutung offenbaren kann. Man muss beachten, was das Kind zu tun behauptet, wenn es zeichnet: uns nämlich eine Geschichte erzählen, und nur eine Geschichte; aber man muss bei dieser Intention auch die vielfältigen Wege erkennen, deren es sich bedient, um den Gang seiner Wünsche, seiner Konflikte und seiner Ängste verständlich zu machen“ (Wildlöcher 1974, S. 20f).

So muss beispielsweise eine kulturelle Komponente miteinbezogen werden, möchte man Kinderzeichnungen vergleichend deuten. Verschiedene Kulturen enthalten ihre ganz eigenen Wissenselemente, nach deren Vorbild sich die Kinderzeichnung entwickelt. “Einmal etabliert, werden bestehende Wissenssysteme zum Anker für Denken und Verhalten in neuen Realitätsbereichen“ (Schuster 2010:16).

Aus psychologischer Sicht, so Wildlöcher, „entwickelt sich das Kind von seiner Geburt an innerhalb einer Kultur, die es tief beeinflusst. Der Einfluß (!) der Bilder, die es umgeben, der Sprache, über die es verfügt, darf nicht unterschätzt werden“ (Wildlöcher 1995: 24).

So findet man in japanischen Kinderzeichnungen zum Beispiel glänzende Pupillen, dargestellt durch helle Punkte, die durch das Abschauen von Darstellungen der älteren Kinder weitergetragen werden (vgl. Schuster: 16). Nicht nur die individuelle Welterfahrung, sondern auch die kulturelle Umgebung prägen die kindlichen Darstellungen. So sind einige Elemente der Kinderzeichnung als Konventionen aufzufassen, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Kulturgeschichte und Generation stehen, wie in etwa der v-förmig dargestellte Vogel (vgl. Schuster 2010: 31). Um eine Kinderzeichnung im historischen Kontext erfassen zu können, muss man sich demnach den grafischen Konventionen einer Kultur bewusst sein.

Eine Zeichnung zu interpretieren heißt, sie zu lesen und „in Worte übersetzten zu können“ (Wildlöcher 1964: 18). Schon der Gebrauch der stilistischen Mittel wie Farbe oder Motiv offenbaren mehr, als man der Absicht eines Kindes zuschreiben kann (ebd.).

„Es ist keine Ästhetik der Farbe, der Form oder der Komposition, sondern eine Ästhetik des Zusammenwirkens aller beteiligter Faktoren zu einer prägnanten Klarheit, die uns einen Einblick in die kindliche Lebenswelt verschafft“ (Schoppe 1991: 182). So plädiert er für eine Neuorientierung der Rezeption von Kinderzeichnungen und einer Abwendung von traditionellen Kategorien. Diese soll dem „Subjekt Kind“ (ebd.) mehr Beachtung schenken, weniger dem „Objekt Zeichnung“ (ebd.: 183). Auf dieser Grundlage entwickelte er eine Analysemethode, auf die sich in der Auswertung bezogen wird (siehe Kapitel 8ff).

Die häufigste Betrachtungsweisen zum Rezipieren von Kinderzeichnungen ist gegenwärtig die psychologisch-diagnostische (z.B. Sehringer 1994), es sind aber auch Perspektiven zu therapeutischem oder historischem Zwecke, sozialen Beziehungen, kreativitätstheoretischen Ansätzen oder ästhetischen Perspektiven (vgl. Kläger 1997: 25) vorzufinden.

Wichelhaus teilt die Zugänge zur Kinderzeichnungsuntersuchung in drei nicht grob abgrenzbare Ansätze ein, in dem die Kinderzeichnung als Entwicklungsphänomen, als Ausdruck der Persönlichkeit oder als ästhetisches Phänomen wahrgenommen wird. In jedem dieser Ansätze wird dem kulturellen Kontext eine Bedeutung zugeschrieben, in dem „die Kinderzeichnungen in einem situativen, jederzeit veränderbaren Kontext steht, durch den die Bedeutung für einen Interpreten bestimmt [wird L.M.] “ (Wichelhaus 1989: 198). Die vielschichtigen Potenziale und Bezüge der Kinderzeichnungen machen sie zu dem attraktiven Forschungsfeld, welches es bis heute geblieben ist.

Bisher wurden unter anderem Kinderzeichnungen zum Thema kindliche Vorstellungen über die eigene Familie (Brem-Gräser 1975, Dussa 1980, Iten 1980, Kaufmann 1988, Kos & Biermann 2002), die Wohnzufriedenheit (Berg-Laase 1985: 293ff), über die Spielwelt (Spanhel & Zangl 1991), die gegenwärtige oder zukünftige Arbeitswelt (Kaiser 1986) oder die Zukunftswelt (Schreier 1980, Horbelt 1987, Kaiser 2003) erforscht.

Allerdings muss betont werden, dass Erforschung und Auswertung der Kinderzeichnungen sehr umfassende Forschungsbereiche der Kunstpädagogik sind, welche hier nicht im Mittelpunkt stehen sollen.

2.4 Kinderzeichnung und Lebenswelt

Kinderzeichnungen sind ein buntes Ergebnis aus Gedanken, Erfahrungen, Zuständen, Umwelt, einem individuellen Grad an Ausdrucksbedürfnis sowie Schaffensfreude. Damit sind sie so einzigartig und individuell wie ein Fingerabdruck und folgend durch mehrere, innere sowie äußere Faktoren bestimmt.

Reiß beispielsweise stellte fest, dass die Vorstellungen der Kinder nicht frei sind von „angebotenen Bilderwelten, mit denen sie aufwachsen“ (Reiß 1996: 49), welche wiederum recht unterschiedlich wahr- und aufgenommen werden. Zeichnungen sind also nicht isoliert zu betrachten, sondern wie jede andere Form der Kommunikation stehen sie in einem Kontext: in dem der jeweiligen Lebenswelt eines Kindes . In dieser offenbare das Kind „seine eigene Welt ganz unmittelbar“ (Schoppe 1991: 176). Damit vertritt Schoppe den Ansatz, dass Kinderzeichnungen als Vermittler von Lebenswelt angenommen werden können. Die Welt ist somit nicht bloß eine Ansammlung von Eindrücken, sondern erbaut sich individuell im Kontext von Gegenständen, Menschen und Ereignissen, die Bedeutung tragen.

Der phänomenologische Begriff der Lebenswelt tauchte erstmals bei Husserl (Husserl 1962, 1. Auflage 1936) und später bei Schütz (Schütz 1957) auf. Dieser Ansatz stammt allerdings aus dem Bereich der Sozialarbeit (vgl. Kraus 2004: 5). Erste lebensweltliche Bezüge lassen sich ab 1970 in der Sozialpädagogik erkennen, welche sich zunehmend am Alltagsgeschehen der Klienten orientierten und fortlaufend verstärkten (vgl. ebd.). In vielerlei Disziplinen, wie etwa der Medienpädagogik, Sozialpädagogik, der sozialen Arbeit und den Sozialwissenschaften, gehe der Begriff durch Mehrfachverwendung mit einer „nicht eben geringen Unschärfe“ (Kraus 2004: 1) einher. Als zentraler Aspekt des Lebensweltbegriffes in der Sozialpädagogik und in der Sozialarbeit gilt nach Kraus (2004) die subjektive Perspektive der jeweiligen Klienten. Danach finden zwei Menschen, die unter gleichen Rahmenbedingungen aufwachsen und leben, nicht automatisch die gleiche Lebenswelt vor. Denn jeder Mensch nimmt seine Umweltbedingungen unterschiedlich wahr und erfährt die Lebenswelt vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen und geistigen wie körperlichen Begebenheiten. Deswegen bedeutet die Orientierung an der Lebenswelt „nicht nur die Hinwendung zum Alltag der Menschen und die Beachtung unterschiedlicher Alltagsbedingungen, sondern immer auch die Berücksichtigung möglicher Unterschiede in der Wahrnehmung der gleichen Alltagsbedingungen“ (Kraus 2004:6).

In Eingrenzung und Beschreibung der relevanten Aspekte in Bezug auf die Kinderzeichnungen definiert Schoppe den Begriff der Lebenswelt als „den selbstverständlich hingenommenen, begrenzten und individuell relevanten Bereich der Welt, in dem der Mensch durch eigenes Handeln Möglichkeiten des Eingreifens und der Veränderung hat, jedoch auch durch Gegenständlichkeit und Ereignisse (insbesondere durch das Handeln anderer Menschen) in der Freiheit seiner Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt ist“ (Schoppe 1991: 2 zitiert nach Schütz/Luckmann 1975: 23ff).

Zu der Lebenswelt eines Kindes gehören demnach alle unbelebten und belebten Dinge, die nicht „ich“ sind. In diesem Sinne ergibt sich aus dem Begriff der Lebenswelt eine tiefe Subjektivität, wie von Kraus bereits angesprochen. Einerseits dadurch, dass sich Lebensbedingungen zwar ähneln können, aber niemals identisch oder objektiv erlebt werden können. Zudem, und das wäre hierbei auch Grund für die Subjektivität, unterscheiden sich Menschen physisch, psychisch und in vielerlei anderen Facetten, weshalb selbst bei ähnlichen Bedingungen die Wahrnehmung stets durch Subjektivität verzerrt würde. Subjektivität und eine Orientierung daran ist also das, was, aber auch wie wahrgenommen wird.

Wie bereits zu der Untersuchung der Kinderzeichnungen angesprochen (siehe Kapitel 2.3), erfährt auch das Forschungsinteresse eine Subjektorientierung: Denn es geht nicht um das fertige Produkt der Kinderzeichnung, sondern vielmehr um das „Subjekt Kind“ (Schoppe 1991: 7) hinter dem fertigen Produkt, welches nun im Mittelpunkt des Interesses steht. Schoppe stellt hierzu die These auf, dass sich „Aspekte der Lebenswelt sowie deren Modifikation und Restriktion […] in der Kinderzeichnung“ (Schoppe 1991: 2) widerspiegeln. So ist die Kinderzeichnung ein bedeutendes Medium des kindlichen Handelns und der Auseinandersetzung mit der materiellen, zeitlichen, räumlichen und sozialen Struktur der Umwelt (vgl. ebd.). Zu den materiellen und sozialen Strukturen der Umwelt zählen beispielsweise eine Behausung, Zugänglichkeit von grundlegenden

Ressourcen aber auch das familiäre und soziale Beziehungsumfeld, sowie die körperliche Verfassung. Die räumliche Struktur bezieht sich auf die tatsächlichen Wirkungsräume, also die Umgebung, in der ein Leben stattfindet. Die zeitliche Struktur kann als Mischung aus subjektiv empfundener („innerer“) und tatsächlich erlebter („äußerer“) Zeit angenommen werden. Letzteres nennen Schütz/Luckmann die „soziale Zeit“ und beschreiben damit eine Dimension, in der wir alle zugleich leben (Schütz/Luckmann 1979:73). Als Lebenslage können alle objektiven Lebensbedingungen eines Menschen betrachtet werden, die sich aus diesen Umständen ergeben. Die Lebenswelt hingegen ist das Ergebnis einer subjektiven Wahrnehmung der Lebenslage (vgl. Kraus 2004: 8f).

„Was sich in den Bildern der Kinder darbietet, das sind vor allem Hinweise auf Situationen, Erfahrungen und Probleme der eigenen Lebenswelt“ (Schoppe 1991: 1).

Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, die Lebenslage eines Kindes in den Kontext der Lebenswelt zu stellen. Schließlich konstruieren Menschen ihre Lebenswelt unter den oben genannten (sozialen, räumlichen, zeitlichen, materiellen) Bedingungen ihrer Lebenslagen.

Dementsprechend kann die Lebenswelt, die auf einer gewissen Lebenslage basiert, nicht komplett greifbar sein, da diese auf Subjektivität begründet ist. Wirklichkeit (individuell erfahrene, konstruierte) kann damit immer nur ein Abbild einer subjektiven Erfahrung sein, Realität würde damit als eine nie greifbare Objektivität gelten, da jeder einen subjektiven Zugang zur Realität erfährt.

Als wichtig in der Forschung, die sich einem Lebensweltaspekt widmet sei also zu beachten, dass selbst bei präziser Erforschung der Umstände keine direkten Rückschlüsse auf die Lebenswelt gemacht werden können. Die Forschungsarbeit sollte sich demnach an der subjektiven Wahrnehmung der Lebenswelt orientieren und sich dieser bewusst sein (vgl. Kraus 2004: 12).

Es bedarf laut Schoppe also einer Umorientierung im Rahmen der Kinderzeichnungsforschung, in der nicht gefragt werden soll: was bringen Kinder als Produkt auf das Papier? Sondern eher: Unter welchen geografischen und sozialen Bedingungen findet der Entstehungsprozess der Kinderzeichnung statt und wie wirken sich diese auf Subjekt und bildnerisches Produkt aus? Bestimmte Lebenswelten erfordern bestimmte Verhaltensweisen, diese prägen die gedanklichen Prozesse, welche oftmals einen Einfluss auf bildnerisches Verhalten, also auch die Kinderzeichnung haben. Daraus ergibt sich ein dynamischer Wechselprozess. Die Lebenswelt eines Menschen bleibt damit eine nicht greifbare Variable, an der sich aber orientiert werden kann.

Das Konzept der Lebenswelt weist zudem Ähnlichkeiten zu der entwicklungspsychologischen Orientierung von Piaget7 auf. Hier könnte man mit dem Begriff der „Assimilation“8 von Piaget argumentieren, denn laut seiner entwicklungspsychologischen Theorie kommt der „Adaption“ eine besondere Rolle zu, da sie den Antrieb der kognitiven Entwicklung bildet.

„Diese Austauschprozesse können nun so gestaltet sein, dass sie einen assimilativen oder akkomodativen Charakter haben: Von Assimilation spricht man dann, wenn Teilbereiche der Umwelt an bereits vorhandene Strukturen des menschlichen Organismus (z.B. kognitive Schemata) angepasst werden; bei der Akkommodation vollzieht sich umgekehrt eine veränderte Anpassung des Organismus an Umweltstrukturen. Dieser Doppelcharakter der Adaption definiert den Menschen somit als nicht nur einseitig determiniertes, sondern als aktives, seine Umwelt gestaltendes Wesen. Real Vorgefundenes wird kognitiv transformiert, damit es zur individuellen Eigenart von Wissen und Denken passt, und gleichzeitig wird durch Veränderung des eigenen Organismus der Struktur äußerer Daten Rechnung getragen. Durch wiederholte Adaptionsvorgänge und durch das Wechselspiel von Assimilation und Akkommodation vollzieht sich die kognitive Entwicklung des Individuums“ (Schoppe 1991: 88).

Die Lebenswelt zeichnet sich also durch einen sogenannten „Doppelcharakter“ (ebd.) aus, der von Handlungen aus dem täglichen Leben, sowie durch das individuelle Bewusstsein geprägt ist, welche in einer Wechselbeziehung stehen. Anpassung (Assimilation) und Veränderung (Adaption) haben damit Konsequenzen für das Subjekt und die kognitive Entwicklung. Allerdings wird hier nicht die Beeinflussung der Umwelt durch das Kind angesprochen, welche zu der Wechselbeziehung gehört. Kinderzeichnungen sind nicht nur ein einseitiger, abbildender Prozess, sondern auch eine aktiv bildende Wahrnehmung von Umwelt, die sie gestalten und beeinflussen. Diese Wahrnehmungen sind wiederum geprägt von Kultur und Gesellschaft, die dabei im Wechselwirkungsprozess stehen und berücksichtigt werden sollten.

Um sich der Lebenswelt eines Subjektes zu nähern, fordert es keine Rollenübernahme, sondern Information und Kenntnis über die Lebenslage und Lebenswelt des Subjekts. Da, wie bereits erwähnt, die Lebenswelt durch ihre starke Subjektivität eine nie erreichbare Variable ist, wird es nicht ausreichen festzustellen, unter welchen Bedingungen ein Subjekt lebt, sondern das Interesse richtet sich auf den Aspekt, wie ein Subjekt diese wahrnimmt.

Die meisten Kinder sind in schulischen, aber auch vorschulischen Lebensphasen zu ästhetischen, bildnerischen oder literarischen Schöpfungsprozessen motiviert. Dies geschieht auch unter Anleitung, aber meist eigenverantwortlich, ohne dass institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sein müssen. Sie malen, plastizieren, schreiben über Wünsche, Ängste oder Alltagserfahrungen. Werden diese Dokumente Außenstehenden zugänglich, eröffnet sich für Forschende ein wertvoller Zugang zu inneren Welten von Kindern. Dabei kann man davon ausgehen, dass Mitglieder einer Familie, einer Gemeinschaft, Freunde oder Klassenkameraden, welche einen - von außen betrachtet - in großen Mengen ähnlichen Alltag teilen, sehr unterschiedliche Lebens- und Umwelten erleben können. Kreppner weist diesbezüglich unter umweltpsychologischem Aspekt auf die Bedeutung von „persönlich geteilten und von nicht geteilten Umwelten von Menschen, die in einem sozial-räumlichen Mikrokosmos zusammenleben“ (Kreppner 1989: 301f. zitiert nach Lutz et.al.: 432) hin.

Die Orientierung an der Lebenswelt bedeutet also einerseits die Hinwendung zum Subjekt und dessen Alltag, sowie dessen Wahrnehmung von Welt. Damit soll nicht davon ausgegangen werden, dass die Lebenswelt eines Menschen erfasst werden kann, sondern Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven eben diese wahrgenommene Subjektivität soll in einer Lebensweltorientierung Berücksichtigung finden.

3 Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven

Die Kinderzeichnung übt eine große Faszination auf Menschen aus. Seit über hundert Jahren schon steht sie deswegen im Interesse der empirischen Forschung (vgl. Glaser- Henzer 2012: 9), in dem gefragt wird, warum, wie und was ein Kind bildnerisch darstellt.

Die Kinderzeichnungsforschung ist vor allem geprägt durch Richter (1987), Schuster (1990) und Reiß (1996), der Erforschung bildnerischen Verhaltens allgemein widmeten sich John-Winde und Roth-Bojadzhiev (1993). Bröcher (1997) stützt sich auf die Analyse durch künstlerische Therapieformen, in der Krankheit sowie Heilungsprozesse angegangen werden (vgl. Peez 2001: 309).

Dabei wird sich dem Phänomen der ersten Spuren des Kindes nicht nur kunstpädagogisch, sondern auch ethnologisch, psychologisch, tiefenpsychologisch und entwicklungspsychologisch angenähert (vgl. Schrader 2003: 3). Von Kindern erstellte Zeichnungen werden unter verschiedenen Gesichtspunkten gesammelt, geordnet und interpretiert, um ein Verständnis für bildnerisch-ästhetische Prozesse zu erhalten. Neben dem klassisch entwicklungsorientierten Ansatz, bei dem der Schwerpunkt auf den Fähigkeiten des zeichnenden Kindes liegt, welche sich altersbedingt verändern, wurden auch Verfahren zu psychometrisch orientierten Forschung konzipiert, wie beispielsweise der Draw-a-man-Test von Goodenough 1926 (vgl. Seitz 1995: 120). Dieser erhebt den Anspruch, den Wert des IQ9 feststellen zu können. Einen Projektionsansatz findet man bei dem Verfahren der Baumtest von Dr. Karl Koch (vgl. ebd.), indem anhand einer Baumzeichnung eine Analyse des psychischen Zustandes einer Person stattfinden soll. Der FIT-Test10 von Luitgard Brem-Gräser (vgl. Seitz 1995: 122) erhebt den Anspruch, unterbewusste Familienstrukturen aufzudecken, Andreas Iten etwa versucht, durch den Test Die Sonne in der Kinderzeichnung (ebd.) Hypothesen über zwischenmenschliche Beziehungen, Entwicklungsverlauf und psychische Positionen zu entwickeln. Daraus

Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven folgten weitere, kontrovers diskutierte Deutungsverfahren. Neuere Forschungen zur Kinderzeichnung beziehen sich vor allem auf gesellschaftliche Einflüsse, den Wandel der Zeit und speziell den Kontext medialer Erfahrungen in Kinderzeichnungen (siehe dazu die Dissertation von Wiegelmann-Bals 2009).

Lange folgte man Luquets11 These, wenn dieser behauptete: “Das Kind zeichnet von den Dingen nicht was es sieht, sondern was es weiß” (Luquet 1927 zitiert nach Schuster 1993: 61). Verschiedene Forschungsergebnisse konnten diese Annahme allerdings bald zurückweisen. Im Falle von den sogenannten Röntgenbildern, also dem in Kinderzeichnungen Transparentwerden von Objekten (siehe Schemaphase Kapitel 3.2.3 „Röntgenbild“) spricht man jedoch davon, dass Kinder tatsächlich das zeichnen, was sie wissen (und damit mehr, als gesehen werden kann). Allgemein zeichnet das Kind eher aus dem Gedächtnis, also demnach was es weiß und gesehen hat, aber nicht mit einer Realitätsabsicht. Ein Kind kann weniger, aber auch mehr darstellen, als es bewusst fähig ist zu verbalisieren.

“Weder nur das, was das Kind von dem Gegenstand sieht noch das was es von ihm weiß, sondern beides und vor allem noch viel anderes geht in die frühe Zeichnung ein, und zwar nach Maßgabe seiner Wesentlichkeit für das Kind und seiner zeichnerischen Faßlichkeit (!)” (Volkelt 1930: 199 zitiert nach Schuster 1993: 61).

Später konnte Meili-Dworetzki (1957) diese Gegenthese verstärken, in dem sie herausfand, dass Kinder viel mehr menschliche Merkmale aufzählen, als sie schlussendlich darstellen (vgl. ebd.).

Vom heutigen Verständnis ausgehend lässt sich sagen, dass Kinderzeichnungen also eine Reproduktion der Vorgänge aus dem Gedächtnis beinhalten, nicht ein Abbild der Wirklichkeit. Allerdings kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts neue Formen von bildnerischer Beschäftigung von Jugendlichen hinzu, wie etwa das Experimentieren mit Fotografie, Graffiti, Collagen oder computergestützten Ausdrucksmöglichkeiten, die weitgehend unerforscht sind. Auch dieser Bereich ist eine ganz eigene Thematik und kann hier aufgrund ihrer Umfänglichkeit nur skizziert werden. Allgemein kann man über die gegenwärtige Perspektive und Tendenz der Kinderzeichnungsforschung folgendes benennen:

Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven

„Für die Kinderzeichnungsforschung gilt es, die subjektiven Faktoren und biografischen Bezüge in der bildnerischen Handlung des Kindes aus Sicht des Erwachsenen zu rekonstruieren, d.h. Beweggründe, Ideen und Interessen im Vollzug des Zeichnens und deren kommunikative Beziehungsaspekte zu thematisieren“ (Peez 2008: 167).

Möchte man also Kinderzeichnungen nach gegenwärtigen Auffassungen verstehen, muss eine Analyse im Kontext von Entstehung und Lebenswelt erfasst werden.

3.1 Die Entwicklung der Kinderzeichnungen

Die Bildersprache der Menschen folgt einer Entwicklung, sowie die der Motorik, der Sprache und des Denkens. Diese wird dabei von jedem Kind individuell, aber doch nach erkennbaren Phasen erarbeitet, die einige Besonderheiten und Veränderungen aufweisen. Diese Phasen werden von verschiedenen Autoren unterschiedlich definiert, differenziert und benannt, ähneln sich aber im Grundkonstrukt.

Es existieren unzählige Theorien über die zeichnerische Entwicklung von Kindern. Bis heute gilt Luquet, der 1927 seine Theorie der Kinderzeichnungsentwicklung veröffentlichte, als einer der wichtigsten Autoren, wenn es um zeichnerische Entwicklungsprozesse geht. Er beschreibt vier zeitlich gestaffelte Entwicklungssequenzen: vom zufälligen, verfehlten, intellektuellen bis zum visuellen Realismus, welche viel Einfluss auf nachfolgende Studien hatte. Auch Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung ist hier zu nennen, die Luquets Ansätze integriert und auf den sich heute noch berufen wird (vgl. Grittner 2007: 17). Piagets Theorie begründet darauf, dass die Entwicklung der Zeichnung mit der kognitiven Entwicklung zusammenhängt. Beide Entwicklungsstränge folgen gewissen Phasen, die sich vom Einfachen zum Komplexen weiterentwickeln. Genauso wie sich Denken, Wahrnehmung und Vorstellung kontinuierlich verändert, verändert sich also auch die Kinderzeichnung vom Kritzeln zu einer realitätsbemühten Abbildung. Der Begriff ist also dynamisch und beeinflusst von Mensch und Umwelt. Nach Piaget lässt sich eine Analyse von Kinderzeichnungen im kognitiven Entwicklungskontext einbetten, welche im Folgenden nach Di Leo skizziert wird.

Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Die Entwicklung des Zeichnens bezogen auf die kognitiven Entwicklungsphasen nach Piaget (Di Leo 1992: 43)

Je mehr eine Entwicklung voranschreitet, desto differenzierter kann sich mit einer inneren (psychischen) und äußeren (physischen) Welt auseinandergesetzt werden. Das zeichnerische Gestalten der Kinder ist also beiderlei: Ausdruck von Entwicklung und Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven gleichzeitig entwicklungsfördernd. Die typischen Stufeneinteilungen werden allerdings kritisch betrachtet, denn bei einer Entwicklung „handelt es sich […] um eine Ordnung der Zeichnungen nach dem Grad ihrer formalen Schwierigkeit, d.h. um eine figurale Differenzierungsreihe, nicht aber um eine solche der psychischen Entwicklung […]. Die Konsequenz lautet, dass […] das Kind, besonders wenn es zeichnerisch gewandt ist, sich keineswegs an die Stufung hält, sondern zuweilen souverän in einem relativ weiten Bereich verschieden schwieriger Formgebung herumspringt“ (Mühle 1971: 68).

Die zeichnerische Entwicklung verläuft also nicht linear oder nach einem Rezept, sondern ist ein immer wieder neuartiger, durchlässiger und sukzessiver Prozess, gekennzeichnet durch Sprünge oder Verzögerungen, in dem künstlerische Problemstellungen auch individuell gelöst werden. Dabei können Entwicklungsphasen nur als Orientierungsrahmen gelten, da ein gewisser Freiraum für Individualität gegeben sein muss (vgl. Grünewald 2003: 92.). Jedes Kind, so Schuster, „nimmt sozusagen seinen eigenen Weg durch das Wissensuniversum Kinderzeichnung“ (Schuster 2010: 18). Es ist demnach nicht möglich, exakte Altersangaben zu einer bestimmten Phase zuzuordnen. Diese verlaufen nämlich, wenn auch grob nach dem Schema, sehr individuell und durchlässig. Je nach Kultur, sozialem Umfeld, Anregung und Einfluss von älteren Kindern etablieren sich bestimmte Merkmale verfrüht oder verzögert oder können teilweise auch übersprungen werden. Die sichtbaren Ereignisse einer Entwicklung der Kinderzeichnung lassen sich also in Phasen aufteilen, die sukzessiv auftreten, auch nebeneinander oder in Beziehung zueinander existieren können. Die Altersangaben können also bloß als grobe Orientierungshilfe dienen.

Richter beispielsweise teilte 1987 in seinem umfassenden Standartwerk die zeichnerische Entwicklung in einzelne Phasen ein, auf welche sich auch gegenwärtig oft bezogen wird, in welcher er u.a. Ansätze von Luquet und Piaget integriert. Bei Schuster findet man ebenfalls eine Dreiteilung in die Kritzelphase, Schemaphase sowie die Ü bernahme der kulturellen Vorbilder (vgl. Schuster 2010: 49ff).

Trotz eines vorhandenen Grades an Individualität kann man jedoch davon ausgehen, dass gewisse Entwicklungsschritte auftreten, welche die meisten Kinder in ihren Zeichnungen selbst bei unterschiedlichen Lebensbedingungen durchlaufen. Deswegen kann man von Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven „der“ Zeichenentwicklung sprechen, welche die meisten Kinder (ohne geistige oder körperliche Behinderung) durchwandern.

Nach welchen Phasen und Mustern nach dem heutigen Stand der Forschung die zeichnerische Entwicklung voranschreitet, soll im nächsten Kapitel zusammenfassend erläutert werden. Besonders wird dabei die Schemaphase berücksichtigt, da sich später zu untersuchende Zeichnungen darauf beziehen.

3.2 Phasen der Kinderzeichnung

3.2.1 Die Kritzelphase| ab etwa 18 Monaten

In den frühesten Darstellungen eines Kindes, in der sogenannten Kritzelphase, sind die Bewegungen stark impulsbestimmt und zielen noch nicht darauf ab, eine bewusste, visuelle Form darzustellen. Vielmehr steht hier noch das rhythmische Bewegen und Erleben an sich im Vordergrund. Diese Bewegung wird zurückgeführt auf ein pränatales „rotierendes Raumgefühl“ zitiert nach Richter 1997:20). (Grötzinger 1952 Abbildung 1: Urknäuel, Urkreuz, (Ur-) Zickzackstrecke und (Ur-)Kasten (v.l.n.r.)

„Mit dieser Bezeichnung wollte er [Grötzinger, L.M.] deutlich machen, dass sich in diesen Gebilden Erfahrungsweisen/Erlebnisspuren niederschlagen, die in die vorgeburtliche Existenz des Kindes, den Geburtsvorgang und die ersten extrauterinen Bewegungserfahrungen zurückreichen“ (ebd.).

Das Kind befreit sich nach Grötzinger im zweiten Lebensjahr in den ersten zeichnerischen Aktivitäten, die er „Urknäuel“ und „Urkreuz“ genannt hat, von diesen frühen (Raum-) Erlebnissen (Richter 1997: 20). „(Ur-)Zickzackstrecke“ und ein “(Ur-)Kasten, Liniengebilde und Kastenformen, kommen im dritten Lebensjahr hinzu“ (ebd.).

Als Charakteristika der Kritzelphase lassen sich vier Merkmale erkennen, die ebenfalls sukzessiv, aber auch nebeneinander auftreten können:

Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven

Noch bevor ein Kleinkind motorisch zum Halten eines Stiftes in der Lage ist, finden etwa ab dem fünften Lebensmonat die ersten ästhetischen Ausdrucksformen in Form von Schmierobjektivationen und Spurflecken statt. Im Mittelpunkt dabei steht nicht eine Abbildungsabsicht, sondern die Bewegungsfreude und das Erfahren des Spurenhinterlassens,

Abbildung 2: Kind (9;5 Jahre) verschmiert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

was von Karottenbrei auf einer Tischfläche

Bezugspersonen häufig als wenig positiv bewertet wird (siehe Abb.2). Lustvoll wird mit Materialien verschiedenster Aggregatzustände hantiert, wie etwa Wasser, Schnee, Brei, Sand, Speichel oder auch Kot. Dies wird auch mit der libidinösen Erfahrung der analen Phase (nach Freud) verknüpft (vgl. Mussen 1976 nach Richter 1997:34).

Die ersten „graphischen Äußerungen des Kindes“ (ebd.: 26) etwa ab

dem achten/neunten Lebensmonat, nennt Richter Spurkritzel. Diese stellen sich ein, wenn das Kind motorisch geführte Augen-Hand- Abläufe mit zunehmender Koordination steuert und Gegenstände wie etwa Stifte, Pinsel oder Ähnliches gezielter führen kann. Zu der Abbildung 3: Spurkritzel Befriedigung durch Funktion und Bewegung wird zusätzlich ein Genuss durch Werkzeugführung, an Kontrolle gewinnende Züge sowie das Beherrschen der Maltechnik gewonnen(vgl. ebd.). Die Linie wird noch nicht als Kontur, sondern als sichtbare Bewegungsspur eines bewegten Objektes (oft eines Flugzeuges oder eines fliegenden Tieres) wahrgenommen. Ab dem 18. Monat etwa verfeinert sich die Motorik, Bewegungen sind nicht mehr zufällige Erscheinungen, Gestenkritzel, also „verschieden geformte Kritzel, isolierte Kreiskritzel“ sowie Hiebkritzel, Schwingkritzel, Zick-Zackkritzel und Schreibkritzel (vgl. ebd.) treten auf. Abbildung 4: Verschiedene Gestenkritzel Das Kind kann nun Linien miteinander verbinden. Nach Wallon ist dies die Geburtsstunde der Zeichnung (vgl. ebd.).

In einzelnen Gesten finden sich verschiedenartige Emotionen wieder (wie etwa Aggression, Freude), die das Kritzelgeschehen beeinflussen. Die Grenze zur Vorschemaphase (ca. ab dem vierten Lebensjahr) leitet sich etwa im dritten Lebensjahr mit Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven dem Konzeptkritzel ein. Als Zeichenelemente des Übergangs findet man hier erste Tier-, Baum- und Hausdarstellungen, sowie Kopffüßler (vgl. ebd.). Diese Kopffüßler zeichnen sich dadurch aus, dass die Beine des dargestellten Wesens direkt vom Kopf abgehen. Ein Rumpf wird oftmals im Zuge dessen nicht dargestellt, weshalb die Arme ebenfalls an den Kopf geknüpft sind.

In der Kritzelphase entsteht zudem das erste Menschenschema, in dem meist der Kopf für das Ganze steht, weshalb man den Begriff Pars-Pro-Toto (ein Teil steht für etwas Ganzes) verwendet. Dabei meint die Begrifflichkeit des Konzeptkritzels das bereits

Abbildung 5: "Blöder Mann mit Bart, Ohren und langer Nase", Beispiel eines Konzeptkritzels/Kopffüßlers

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bildkonzepte bestehen, diese aber nicht dementsprechend ausgeführt werden können. „Die Realisationsfähigkeiten entsprechen in diesem Alter wohl am wenigsten (internen) Repräsentationsmöglichkeiten“ (Richter 1997:35). In diesen Abbildungen steht ein geringer Anteil von Gegenständlichkeit einer deutlich erhöhten Mitteilungsabsicht gegenüber.

3.2.2 Vorschemaphase und Werkreife | ca. ab 4 Jahre

In der Vorschemaphase gegen Ende des vierten Lebensjahres lernt das Kind, die Figuren auf der Fläche zu organisieren, sodass man von der „Geburt des Bildes“ (Pfleiderer 1930 nach Richter 1997: 43) sprechen kann. Das Bild verliert seine individuellen Anteile, an ihre Stelle treten Schematisierungen. Diese allerdings ist laut Mühle „von Zeit zu Zeit notwendig, weil sie den Formenbestand verfestigt und den ‚motorischen‘ wie dem ‚visuellen‘ Gedächtnis einverleibt“ (Mühle 1955: 57). Die Entwicklung in Richtung der Werkreife lässt sich anhand von vier Merkmalen erkennen:

Die verschiedenen Bildmotive werden nun an oben, unten sowie rechts und links, also an den Koordinaten des Blattes ausgerichtet, man spricht von der Respektierung der Flächenkoordinaten. Meistens beginnt ein Kind das Bild mit den typischen Linien am Himmel und Boden, ein sogenanntes Streifen- oder Linienbild entsteht. Manchmal werden auch mehrere Standlinien benutzt, um einen Sachverhalt darzustellen, dies nennt sich Mehrstreifenbild. Die Respektierung der Koordinaten sei der „entscheidende Wechsel in der Organisation des Bildes“ (Richter 1997:43). Langsam ist eine realistische Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven Abbildungsabsicht zu erkennen.

Eine Binnendifferenzierung zeigt sich beispielsweise durch die Ausdifferenzierung des menschlichen Gesichts: Menschen erhalten Wimpern, Augenbrauen, Haare oder auch Bäumen tragen plötzlich Früchte. Die Details nehmen zu, genauso wie die Beziehung von Abbildungsabsicht und tatsächlich dargestelltem Objekt.

Die Ausweitung des Repertoires an Motiven charakterisiert sich durch das Vorkommen an typischen Kinderzeichnungsobjekten: Menschen, Häuser, Bäume und Tiere (besonders Vögel, Hunde, Katzen, Pferde), Autos, Schiffe, Flugzeuge und viele weitere werden dargestellt. „Einige Elemente dieses Repertoires sind situationsgebunden, kulturabhängig und Traditionen unterworfen“ (Richter 1997:44). Die Auswahl der Motive hängt auch von ihrer „(optischen) Prägnanz, d.h. ihrer Nähe zu guten (leicht zu

Abbildung 6: Spät-Vorschematische Standlinien (Himmel und Wiese) mit Respektierung der Flächenkoordination, erweitertes sowie differenziertes Repertoire (Mädchen, 5;9)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

reproduzierenden) Gestalten, ab“ (ebd.). Zusätzlich zu der Bereicherung der Motive findet

man allmählich eine Handlungs- und Erzählstruktur im Bild wieder. Handlungs- und Erzählmuster sind dadurch erkenntlich, dass Motive nun verknüpft werden und dadurch eine Beziehung innerhalb dieser entsteht, die immer mehr ausdifferenziert wird. So lassen sich für die Vorschemaphase zwei charakteristische Stränge erkennen: Einerseits erfahren die Motive eine Ausdifferenzierung durch Detail- oder Repertoireanreicherungen (Binnendifferenzierung/Ausweitung des Repertoires), andererseits die Zunahme an Bildzusammenhang und Beziehungsstruktur (Flächenkoordination/Handlungs- und Erzählstruktur). Die Schematisierung dient dem Kind zunächst als vereinfachte Darstellungshilfe, zur Verflüssigung und Auflockerung. Diese sei sogar notwendig, weil sie den Formbestand dadurch verfestigt und im motorischen sowie visuellen Gedächtnis gespeichert wird (vgl. Richter 1997: 42). Die darauf folgende Aufhebung der Schematisierung ist dagegen ebenfalls ein wichtiger Prozess, da dieser zur Umstrukturierung führt und Weiterentwicklung zulässt (Richter 1997: 45 nach Mühle 1971: 28ff).

Die Werkreife bezeichnet Darstellungen etwa ab dem fünften Lebensjahr, in welcher sich zwar Ausdifferenzierungen an Details erkennen lassen, die grundlegenden grafischen Merkmale verschiedener Motive wurden jedoch bereits erarbeitet. Es kommen keine neuen Elemente hinzu. Trotzdem durchlaufen die Kinderzeichnungen einige Veränderungen: Mit Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven dem Eintritt in die Schule öffnet sich nicht nur eine neue, aufregende Welt, die Kinderzeichnung gewinnt auch an Individualität. Man spricht von der Individualisierung des Bildkonzepts, in denen sich die zunehmenden Erfahrungen und Möglichkeiten einer intellektuellen Verarbeitung spiegeln (Richter 1997:46). In den Bildern lassen sich verschiedene Motive und Thematiken erkennen, die aus der Erfahrungswelt des jeweiligen

Abbildung 7: Ausdrucksstarkes und farbenprächtiges Bild eines Mädchens (etwa 6;0 Jahre) vermutlich zur Zeit der Werkreife

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Kindes stammen. Gleichzeitig mit der Individualität in der Kinderzeichnung nimmt auch die Ausdruckssteigerung des Bildes zu. Langsam erkennt das Kind die Darstellungsvielfalt und die daraus resultierende Ausdrucksmöglichkeit. Das kann auch Einfluss auf die Organisation der Motive haben, um sich gezielt ausdrücken zu können (vgl. Richter 1997:46). Dies führt automatisch zu einem weiteren Charakteristikum, der Verdeutlichung des Mitteilungsgehalts. Hier steht eine Mitteilungsabsicht im Fokus, um die intendierte Mitteilung klar herauszustellen (vgl. Richter 1997:48).

3.2.3 Schemaphase I | ca. 5 bis etwa 8 Jahre

In der Schemaphase kommt es laut Schuster zu der „Geburt des Bildes“ (Schuster 2010: 52). Fünf typische Merkmale lassen sich hier erkennen, welche ca. dem sechsten bis achten Lebensjahr zuzuordnen sind: Ein frühes Merkmal in schematischen Darstellungen sind die Richtungsdifferenzierungen, auch „R-Prinzip“, oder „Prinzip der Rechtwinkligkeit“ genannt, welches das „Prinzip der größtmöglichen Richtungsunterscheidung“ bedeutet (Richter 1997:52). Dies lässt sich daran erkennen, dass die einzelnen Bildelemente möglichst rechtwinklig angeordnet werden (Mühle 1971: 90ff zitiert nach Richter 1997: 52). Bei Menschendarstellungen sieht man beispielsweise rechtwinklig vom Körper hängende Arme. Später überwindet das Kind dieses Prinzip, um gegenstandsorientiertere Abbildung 8: Röntgenbild eines Hauses Darstellungen zu erzeugen. Bei dem sogenannten Röntgenbild, einem der charakteristischsten Merkmale der Kinderzeichnung generell, stellt das Kind optisch Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven erkennbare und nicht sichtbare Bildebenen gleichzeitig dar, indem es Objekte transparent werden lässt. Beispielsweise werden so Innenleben von Häusern, Autos oder sonstig verschlossenen Gegenständen dargestellt. So gewährt das Kind Einblick in das Innenleben von Objekten, indem es Wände durchlässig werden lässt. Spricht man von der Bedeutungsgröße/ Bedeutungsperspektive in einem Bild, geht es um die Größe und Anordnung von Motiven. Diese folgt oft nicht den tatsächlichen Größenverhältnissen, sondern der

Abbildung 9: Prinzessin mit den Details; inneren Bedeutung des Kindes. Dinge, die wichtig sind Krone, langem Haar und trichterförmigen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Kleid. Das Schloss ist dabei in weiter Ferne

(ob nun bewusst oder unbewusst) werden groß, detailreich zu sehen (Mädchen 5;3 Jahre) -der auch mittig dargestellt und Dinge, die weniger Bedeutung erhalten, kleiner und wenig auffällig (vgl. Richter 1997:53f). Das exemplarische Detail ist meist ein charakteristisches, hervorgehobenes Merkmal eines Objektes, das verwendet wird, um es deutlich zu kennzeichnen. Das sind beispielsweise lange Zöpfe für Mädchen, kurze Haare für Männer, oder auch allegorisch dargestellt das Herz für die Liebe (Wildlöcher 1974 zitiert nach Richter 1997: 54). Findet sich eine Prägnanztendenz, oder auch Umklappung auf einem Bild, ist damit der Versuch des Kindes gemeint, Gegenstände in möglichst klarer und prägnanter Ansicht darzustellen. Demnach stellt es beispielsweise Hunde und Katzen von der Seite dar (da so besonders gut erkennbar), ein Auto etwa jedoch in Mischform, dessen Aufbau von oben, die Räder aber als Kreise von der Seite. Viele Schemabilder zeigen Kombinationen solcher Prägnanzformen (vgl. Richter 1997:54). Abbildung 10: Prägnante Darstellung eines Autos

3.2.4 Anmerkungen zur Schemaphase

Wenn eine Kinderzeichnung als schematisch gilt, geht dies oft mit einer Negativbewertung einher (vgl. Reiß 1996: 47). In der Kinderzeichnungsforschung meint das Schema ein „Form-Zeichen, das sich aus Vorstellungsbildern entwickelt und mit ihrer Hilfe gespeichert und wiederholt wird“ (Grittner 2007: 60). Luquet nennt es „automatisme graphique“ (Luquet zitiert nach Mühle 1971: 58). Kinder entwickeln also gewisse Schemata, innere Modelle, welche bildnerisch reproduziert werden und auch auf weitere Gegenstände übertragen werden können. Luquet nennt dies weiter einen „analogen Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven Transfer“ (Luquet 1927: 69 zitiert nach Grittner 2007: 30), Piaget eine Assimilation (vgl. ebd.). Nach Lange-Kuttner geschieht diese Schemabildung von Objekten durch Abstraktion, einer Reduktion des Komplexen auf einfache reproduzierbare Strukturen, die differenziert werden können (vgl. Grittner 2007: 31 zitiert nach Lange-Küttner 1994: 42). Diese Schemata können allerdings verändert werden, sei es durch prägende Erlebnisse, Erfahrungen oder Imitation, was der Akkommodation von Piaget gleichkäme (vgl. ebd.). Dass diese Schemata allerdings nicht willkürlich generiert werden, zeigte der Versuch von Reiß (1996). Dort versuchte er, ein kindliches Schema für die menschliche Figur zu ändern, welches allerdings nur für einen begrenzten Zeitraum glückte. Nach kurzer Zeit griffen die Kinder wieder auf die gewohnten Schemata zurück, die sie als schöner und stimmiger empfanden (vgl. Grittner 2007: 63). Daraus lässt sich schließen, dass die Kinderzeichnung eine gewisse, eigens konstruierte Schemaorientierung braucht, um sich weiterentwickeln zu können. Dass eine gewisse Schemaorientierung nicht nur in Kinderzeichnungen zu finden ist, benennt Arnheim:

„Dass ein einmal erworbenes Muster auf eine große Zahl verschiedener Themen angewendet wird, oft auf Kosten der Abbildungstreue, kommt auch auf den höchsten Ebenen des menschlichen Denkens vor. Zum Beispiel in den Formen, die dem Stil eines bestimmten Künstlers kennzeichnen, oder in den Schlüsselbegriffen einer wissenschaftlichen Theorie“ (Arnheim 1978: 176 zitiert nach Grittner 2007: 62). Diese Schematisierung eines Objekts darf allerdings nicht mit dem kindlichen Wissen um den Gegenstand verwechselt werden.

3.2.5 Schemaphase II | ca. 8 bis 12 Jahre

In der späten, oder auch „zweite Schemaphase“ (Richter 1997: 63), die in der fortgeschrittenen Kindheit etwa bis zum 12. Lebensjahr stattfindet, verändert sich das zeichnerische Verhalten erneut. Diese Phase muss allerdings als Abschluss der Kinderzeichnungsentwicklung angesehen werden. Ab diesen Zeitpunkt führen die meisten Kinder das Malen und Zeichnen nicht fort, da die „naive Schönheit“ (Schuster 2010: 53) der Kinderzeichnung an naturalistischen Darstellungsversuchen scheitert. Die entsprechenden Fähigkeiten bleiben meist hinter den kognitiven, sprachlichen und Über die Kinderzeichnungsforschung: Standpunkte und Perspektiven sozioemotionalen Entwicklungsschritten zurück. Laut Wildlöcher verliert das Kind in der „Krise der Pubertät“ (Depouilly 1964 zitiert nach Wildlöcher 1965: 220) das Interesse am Zeichnen, da es auf der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten auf Wege stößt, die den Bedürfnissen mehr entsprechen, wie beispielsweise eine literarische Beschäftigung (vgl. Wildlöcher 1965: 218). Die Merkmale der zweiten Schemaphase sind folgende: Das ältere Kind weicht nun von dem ichbetonten Selbstausdruck ab und wendet sich der direkteren Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu. Deshalb nehmen in Darstellungen realistische Elemente zu, welches auch als Zunahme an gegenstandsanalogen Details bezeichnet wird. Die Bilder der Kinder werden detailreicher, in Abbildungen sind sie um Ähnlichkeit von gezeichneten und realen Objekt bemüht. Dazu tauchen Grundrisse, Querschnitte mit akribisch-bildhaften und sprachlichen Beschreibungen auf Abbildung 11: Detailreiches Panzer- Kriegsschiff

(Richter 1997: 63). Zunehmend beachtet das Kind die Größenrelationen in seinem Bild. Weiter vom Betrachter entfernt liegende Objekte werden entsprechend kleiner im oberen Bereich des Bildes dargestellt. Das sogenannte "Steilbild" oder "Horizontbild" entsteht. Bei der Umstrukturierung des Bildschemas wird dieses nach dem „Prinzip der größten Deutlichkeit“ (Richter 1997:64f) umgeordnet. Auch eine Veränderung der Motivstruktur gegen Ende der Kindheit ist erkennbar. Dort lassen sich, in Zeiten der „Fernsehkindheit“ (Richter

Abbildung 12: Beispiel einer

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1997: 15 nach v. Hentig) auch dadurch geprägte Motive Umstrukturierung des Bildschemas auffinden. Diese wären beispielsweise Weltraum- und Autofantasien, comicartige Anlehnungen oder auch Werbemotive (vgl. Richter 1997:66f). Dazu kommen politische und kulturspezifische Inhalte: Das Kind reflektiert und verarbeitet Themen, die es von Erwachsenen aufgegriffen hat. Laut Richter erhalte die Kinderzeichnung hierdurch einen Moment von Geschichtlichkeit (vgl. Richter 1997: 67). Häufig neigen späte Kinderzeichnungen zu Karikierungen, Übertreibungen und Ironisierungen. Als Grund dafür wird eine Angst vor ungenügend realistischer Wiedergabe und Unsicherheit über eigene zeichnerische Kompetenz genannt, welche bis zum Einfügen von Sprachelementen, anstelle eines Objektes, führen kann. Die darauffolgende Jugendzeichnung stellt laut Richter keine Weiterführung der Kinderzeichnung dar, sondern ist von grundsätzlich anderer Qualität (vgl. Richter 1997:71).

[...]


1 Die Verwendung des Begriffs „Kinderzeichnungen“ orientiert sich am allgemeinen Sprachgebrauch und meint in dieser Arbeit damit nicht nur lineare, zeichnerische Darstellungen, sondern erfasst damit auch farbig gestaltete Werke und Malereien.

2 Der Name wurde aus Gründen der Anonymisierung mit der Abkürzung X. besetzt.

3 Damit sind alle ästhetischen, zeichnerischen und malerischen Darstellungen gemeint.

4 In der Psychologie ist „Projektion“ vor allem durch Sigmund Freud gekennzeichnet, als eine Übertragung von Dingen auf andere, welche das Subjekt in sich selbst noch nicht erkennen konnte (vgl. Wildlöcher 101).

5 Rezipierenden wird hier und im weiteren Verlauf neutral für Rezipient und Rezipientin verwendet.

6 Abgeleitet nach de Saussure: Ferdinand de Saussure (*1857 Genf; † 1913 Schweiz) war Sprachwissenschaftler und wird als Begründer der modernen Linguistik betrachtet. In seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (1916/ in deutscher Sprache 1967) entwickelte er eine allgemeine Theorie der Sprache, in dem er zwischen Signifikat (Bezeichnetes) und Signifikant (Bezeichnendes) unterscheidet.

7 Jean Piaget (*1896; † 1980) war ein Schweizer Entwicklungspsychologe und Epistemologe.

8 Piaget prägte die Begriffe der Assimilation, Akkommodation und Adaption: „ Assimilation bedeutet, dass Wahrgenommenes in die bereits vorhandenen, kognitiven Strukturen (Schemata) passt. Akkommodation meint, dass die kognitiven Strukturen (Schemata) an die neue Situation angepasst werden müssen, da die vorhandenen Strukturen für die Lösung nicht ausreichen. Assimilation und Akkommodation sind Formen der Anpassung (Adaption) des Individuums an seine Umwelt. Lebende Organismen streben nach einem Gleichgewicht (äquilibrium) zwischen Assimilation und Akkommodation“ (Universität Duisburg-Essen 2014).

9 Intelligenz-Quotienten.

10 „Familie in Tieren“.

11 Georges-Henri Luquet (*1876; † 1965) war ein französischer Philosoph, Ethnograph und Pionier in der Erforschung der Kinderzeichnung.

Fin de l'extrait de 147 pages

Résumé des informations

Titre
Bildnerische Entwicklung eines Kindes im biografischen Kontext
Sous-titre
Am Beispiel einer Längsschnittstudie
Université
University of Education Freiburg im Breisgau  (Institut der Bildenden Künste)
Note
1.0
Auteur
Année
2014
Pages
147
N° de catalogue
V278467
ISBN (ebook)
9783656711179
ISBN (Livre)
9783656712299
Taille d'un fichier
10148 KB
Langue
allemand
Mots clés
Kunst, Bildnerische Entwicklung, Biografie, Längsschnittstudie, biografischer Kontext, Zeichnerische Entwicklung
Citation du texte
Linda Macho (Auteur), 2014, Bildnerische Entwicklung eines Kindes im biografischen Kontext, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278467

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