Erziehung und Bildung zum "Übermenschen"


Tesis de Maestría, 2011

98 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsübersicht

Einleitendes Vorwort

1. „Also sprach Zarathustra“: Ein Überblick
1.1 Der sonnengleich verschenkende Zarathustra
1.2 „Gott ist tot“: Voraussetzung des „Übermenschen“
1.3 „Drei Verwandlungen des Geistes“
1.4 Der Mensch: Zu Überwindendes
1.5 Wegmarken zum „Übermenschen“

2. „Du-sollst“ versus „ich will“: Das Kind unter natürlichen Mächten
2.1 „Du-sollst“ der primären Bindungen
2.1.1 Abhängigkeit von den Eltern
2.1.2 Der gebende Blick
2.1.3 Verwirklichtes „Du-sollst“
2.2 „Du-sollst“ der Gesellschaft
2.2.1 Notwendige Gesellschaft
2.2.2 Notwendiges „Du-sollst“

3. Angst des „ich will“: Flucht in das „Du-sollst“
3.1 Flucht in das „Du-sollst“
3.1.1 Die Angst des „letzten verächtlichsten Menschen“
3.1.2 Primäre Beziehungen
3.1.3 Sekundäre Bindungen
3.2 Der „hässlichste Mensch“: Befreiung zum „ich will“
3.2.1 Im Angesicht der Angst
3.2.2 Notwendiges Schwergewicht des Lebens
3.2.3 Die ewige Wiederkehr des Gleichen

4. „Du-sollst“ für das „ich will“: Notwendende Erziehung und Bildung
4.1 Erzieher und Erziehung zum „ich will“
4.1.1 Erzieher als Befreier des Wesens
4.1.2 Die Berufung des Erziehers
4.2 Rationale Autorität des „Du-sollst“
4.3 „Du-sollst“ von Bildung und Erziehung

5. „Adler- und Schlangenweisheit“: Erkenntnisse des „ich will“
5.1 „Du-sollst“ gegen Erkenntnis
5.2 Erkenntnis aus der Vogelperspektive
5.3 Befreiende Erkenntnis
5.3.1 „Ekel“ der Einsicht
5.3.2 Bildung zur Einsicht
5.3.3 Brechen „alter Tafeln“

6. Zwischen „Du-sollst“ und „ich will“: Raum des „ich bin“
6.1 Notwendigkeit eines Freiraums
6.2 „Ich bin“ im „potentiellen Raum“
6.2.1 Der „potentielle Raum“
6.2.2 Spielendes Schaffen
6.2.3 Potentieller Selbst-Bildungs-Raum

Schlusswort

Quellenverzeichnis

Einleitendes Vorwort

„Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ (KSA 6, S. 365).

Was wie Eitelkeit klingt, ist Selbsterkenntnis. Friedrich Nietzsche ist ein Zerstörer, ein Werte-Brecher, das „Böse“. Er ist der mit dem Hammer Philosophierende. Hammer und Amboss sind seine Werkzeuge, sein Geist, seine Philosophie selbst. Alles, was auf seinem Amboss landet, wird erbarmungslos von seinen Hammerschlägen bearbeitet. Unter ihnen wird vernichtet, was ihrer Kraft nicht standhält. Zwischen den Bruchstücken von Lug und Trug der Menschheit offenbart sich die Wahrheit. Nietzsche reißt erbarmungslos die Schein- und Hinterwelten der Gesellschaft nieder. Er ist radikaler Kritiker: der Aus-einander-Setzer, Zerleger, Aufdecker, Entdecker. Wahrhaft philosophisch, liebt er Wahrheit und Weisheit. Dagegen ist der Mensch ein Verstecker und Verbieger der Wahrheit. Als solcher ist er verhasst, denn er steht der Erde, dem Ort des Schaffens entgegen, und damit sich selbst. Der Herden-Mensch, an die Gesellschaft verfallen, folgt Konvention, Tradition und Meinung der Gesellschaft, unterwirft sich ihrem „Du-sollst“. Von der Wahrheit und dem würdigen Mensch-Sein kam er ab. Alle seine Übel und Verfehlungen legt Nietzsche offen. Im gleichen Zuge zeichnet er Wege ihrer Überwindung, gibt Hoffnung für ein mögliches Besseres. Zuerst greift er in den menschlichen Morast und Abfall, den der gesellschaftliche Mensch lieber auf riesigen Misthaufen im weit entfernten Wald vor sich selbst versteckt. Diese, im wortwörtlichen Sinne, Aus-Scheidungen, karrt Nietzsche auf den belebten Marktplatz der scheinbaren Zivilisation und kippt sie ohne Scham vor die Füße des Herden-Menschen. Hinter seiner Tat steckt die Absicht eine Krise, eine Entscheidung und entscheidende Wendung, zu provozieren.

Wendung und Ausweg ist der „Übermensch“. In ihm wird die notwendende Überwindung personifiziert, in ihm gipfelt Nietzsches gesellschaftskritische Philosophie. Der „Übermensch“ lässt die Falschheit des gesellschaftlichen Herden-Menschen hinter – unter – sich. Er ist der große Überwinder und Übersteiger dieses „letzten verächtlichsten Menschen“, die Überwindung seiner selbst. Mit ihm weist uns Nietzsche eine Alternative zu den Verfehlungen der Gesellschaft seiner Zeit, die uns auch heute noch individuell und gesellschaftlich voran bringen könnte. Anstatt ihn en détail auszudefinieren, lässt er ihm den Freiraum zur Selbstbestimmung. Ihm kommt die völlige Freiheit der Individualität zu. Bedingung zum eigenständigen Schaffen sind Mut, Stärke, Härte und Wahrheitssuche. Auf seinem Aufstieg ist er vielen Gefahren ausgesetzt, sieht sich verschiedenen Ängsten gegenüber. Leicht ist sein Weg nicht. Doch eben das setzt nicht nur seine Fähigkeiten voraus, sondern hilft sie zu entwickeln. Um „Übermensch“ zu werden, braucht er erst etwas, das er überwinden kann. Daraus hervorgehende wahre Erkenntnis zieht den „Ekel“ nach sich. In ihm erkrankt der Mensch am Menschen selbst. Das ist die Stunde der Krise, der entscheidenden Wendung. Ob der schwerste aller Gedanken – die ewige Wiederkehr des Gleichen – zum Aufstieg verhilft oder in den Abgrund zieht, enthüllt sich im „Mittag“, der „stillsten Stunde“.

Die Essenz von Nietzsches Gedankenflut floss in sein Werk „Also sprach Zarathustra“, das er im Jahr 1885 vollendete. Entgegen seiner ursprünglichen Planung entstanden schließlich vier Teile, in denen der Hammer durch Zarathustra spricht. Anhand seiner Gesellschaftskritik sucht er die grundlegendsten Fragen des Lebens zu beantworten: Wie ist der Mensch? Wie soll der Mensch sein? Wohin geht der Mensch? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist ein gutes Leben? Wie finde ich mich selbst? Was Nietzsche uns hinterließ ist schwere Kost, zerstörerisch, widersprüchlich, die „stillste Stunde“ heraufbeschwörend, in welcher sich der (Ab-) Grund des Seins enthüllt. Er beschreibt nichts weniger, als den schwierigen Prozess der Mündig-Werdung. Zarathustra ist ein Pädagoge der ursprünglich griechischen Bedeutung von „paid-agōgós“: ein „Kinderführer“. Er will den Menschen zum „Übermenschen“ führen. Den Leser lässt er an seiner eigenen Reise, oder besser Mission, teilhaben. Im Mündigkeitsbegriff, der sich aus seinem Werk schließen lässt, stimmt Nietzsche mit Immanuel Kant überein, trotz seiner Hammerschläge gegen ihn.

Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant [1784] 1976, S. 9; Hervorh. im Original).

Im Umkehrschluss ist Mündigkeit das Vermögen, sich seines Verstandes zu bedienen, ohne auf die Leitung eines Anderen angewiesen zu sein oder sich freiwillig unter eine fremde Leitung zu begeben. Kant setzt mit der Verstandesfähigkeit und dem Mut zwei Voraussetzungen, die auch Nietzsche fordert. Nietzsche hebt durchgängig die eigene Verantwortung zur Mündigkeit hervor, die selbständige Tätigkeit bzw. Schaffen verlangt. Mit dem „Du-sollst“ als der ersten Bedingung des „Übermenschen“ und seiner unbedingten Forderung zur eigenen Werte-Setzung, hätte Nietzsche vermutlich Theodor W. Adornos Beschreibung von Mündigkeit zugestimmt.

„Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet; der nicht bevormundet wird. Das erweist sich aber an der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt.“ (Adorno [1969] 1977, S. 785).

Der „Übermensch“ ist der mündige Mensch, der für sich selbst denkt, spricht und schafft. Er widersteht allem „Du-sollst“, das nicht unumgänglich, weil von Natur her kommend, ist. Er ist ein Kritiker, wie Nietzsche einer war. Nietzsches Philosophie ist zugleich eine Pädagogik, eine Erziehungs- und Bildungstheorie. Er zeigt darin hemmende Faktoren, notwendende Fähigkeiten und erforderliche Taten auf. Erzieher und „Bildner“ stellt er als Helfer und Forderer zugleich an die Seite des „Überwindenden“. Grundtenor ist, dass jeder den Weg zum mündigen „Übermenschen“ beschreiten könnte, sofern er sich ernsthaft darauf einlässt und offen für Neues, Veränderndes, zu Lernendes ist. Der „Übermensch“ ist allerdings nicht dem „Erwachsenen“ gleichgesetzt. Mündigkeit ist nicht etwas, das automatisch erreicht wird. Sie ist an eigene Arbeit und Anstrengung gebunden. Mündigkeit ist bei Nietzsche etwas hart zu Erkämpfendes. Deshalb fordert er in hohem Maße Selbstverantwortung. Jeder soll sein Schicksal in die eigene Hand nehmen, es selbst bestimmen und schaffen. Um die Erlangung und Bewährung der Schaffens-Kraft des eigenen Willens dreht es sich. Auf dem ganz eigenen Weg zur Mündigkeit will Nietzsche dennoch keinen allein lassen. Gefährten sucht und braucht Zarathustra, den Aufstrebenden will Zarathustra ein Erzieher und Lehrer sein, der sich selbst auf seinem Weg zum „Übermenschen“, also der eigenen Mündigkeit, befindet.

Ziel dieser Arbeit ist die Entdeckung der Nietzsche-Pädagogik. Der Weg zum „Übermenschen“ wird nachempfunden und in einen pädagogischen Zusammenhang gebracht. Sein Potential für die Pädagogik wird aufgezeigt. Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ steht im Zentrum der Auseinandersetzung. Im ersten Kapitel wird ein inhaltlicher Überblick über das Werk gegeben, der den Einstieg erleichtern und die Basis für die weitere Arbeit bilden soll. Anhand des (gerade in der Pädagogik) durchgängigen Widerspruchs von „Du-sollst“ und „ich will“, Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, werden Probleme und Bedingungen der Mündig-Werdung herausgearbeitet. Thema sind außerdem die verschiedenen Notwendigkeiten auf beiden Seiten, von „Du-sollst“ und „ich will“. Das zweite Kapitel betrachtet dazu das grundsätzliche „Du-sollst“ von Familie und Gesellschaft, dem Kind und Heranwachsender von Natur aus ausgesetzt sind. Deren Notwendigkeit für Kind und Heranwachsenden, für deren „ich will“, ist zentral. Dabei werden erste Gefahren angedeutet. Die Rolle von Familie und Gesellschaft wird ebenso mit betrachtet, wie die von Erziehung und Bildung. Im dritten Kapitel wird die Angst des „ich will“ in den Blick genommen, die Kind oder Heranwachsenden in die Bindung an ein „Du-sollst“ treiben kann. Dem werden Bedingungen einer möglichen Wende der Angst und einer Befreiung zum eigenen Willen gegenübergestellt. Das vierte Kapitel konzentriert sich auf das „Du-sollst“ von Erziehung und Bildung, das den Heranwachsenden zur Mündigkeit unterstützt. Hier wird aufgezeigt, welche Bedingungen sie zur Förderung und Hilfe erfüllen müssen. Um die zur Befreiung führende Erkenntnis und Selbsterkenntnis, die Selbstbildung, des Heranwachsenden, dreht es sich im fünften Kapitel. Die angesprochenen Notwendigkeiten, Bedingungen und Verhältnisse laufen im abschließenden sechsten Kapitel zusammen. Es befasst sich mit dem Lösungsansatz, der sich bei Nietzsche versteckt. In einem Freiraum zwischen „Du-sollst“ und „ich will“ können beide vermittelt bestehen. Mehr noch: hier ist der eigentliche Lebens-, weil Schaffens-Ort des Individuums. Anhand der Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie werden Erziehungs- und Bildungsbegriffe inhaltlich herausgearbeitet. Heinz-Joachim Heydorns Definitionen sind ein Ausgangspunkt.

„Erziehung ist das uralte Geschäft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Gesellschaft für ihn bestimmt hat, fensterloser Gang! […]

Mit dem Begriff der Bildung wird die Antithese zum Erziehungsbegriff entworfen. Bildung begreift sich als entbundene Selbsttätigkeit, als schon vollzogene Emanzipation. Mit ihr begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber! Bildung ist eine neue, geistige Geburt.“ (Heydorn 1970, S. 9f).

Erziehung ist einerseits eine Form von Bestimmung der Gesellschaft über das Kind, mit dem Ziel der Integration. Bildung als Gegenbegriff meint eine Selbstbildung, Bildung des Selbst durch Selbsttätigkeit, als Teil der Mündigkeit. Mit Bildung wird oft Schulbildung und Lernen in Verbindung gebracht. Ein solcher Lern-Bildungsbegriff ist der bestimmenden Erziehung zugehörig. Auf den ersten Blick wenig emanzipatorisch, zählt dazu das, was nach der gesellschaftlichen Bestimmung erlernt werden soll. Erziehung ist andererseits eine „unvermeidliche soziale Tatsache“ (Bernfeld [1925] 1973, S. 49). Als diese umfasst sie „die Summe der Reaktion einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (Bernfeld [1925] 1973, S. 51). In diesem Erziehungsbegriff ist prinzipiell die Möglichkeit für eine Bildung und Mündigkeit fördernde Erziehung eröffnet. Die Thematik der Arbeit offenbart die widersprüchliche Aufgabe von Erziehung und Bildung, die sich in Nietzsches Philosophie verbirgt: die Vermittlung zwischen „Du-sollst“ und „ich will“ und die Unterstützung zum „Ich bin“.

1. „Also sprach Zarathustra“: Ein Überblick

1.1 Der sonnengleich verschenkende Zarathustra

Nachdem er zehn Jahre lang seinen Geist und seine Einsamkeit im Gebirge „genossen“ hat, entscheidet sich der mittlerweile vierzigjährige Zarathustra zu einem Lebenswandel (vgl. KSA 4, S. 12). Ausgerechnet die Sonne inspirierte ihn dazu.

So sprach Zarathustra: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!“ (KSA 4, S. 11).

Unermüdlich geht die angesprochene Sonne jeden Tag auf, verschenkt verschwenderisch ihre Wärme und ihr Licht, bevor sie wieder untergeht. Als Teil des ewigen Kreislaufs der Welt, geht sie auf und unter (zumindest aus der Sicht des Menschen), weil ebendies die Art und Weise ihrer Existenz ausmacht. Laut Zarathustra reicht dies offenbar nicht aus. Es genügt nicht, dass die Sonne tut, was sie in ihrer Funktion oder Eigenschaft als Sonne tut. Es genügt nicht, dass sie bloß scheint. Sie benötigt darüber hinaus einen externen Zweck: Etwas, das sie bescheinen kann. Erst dieses Wozu, das von ihr Beschienene, gibt ihr die tiefere Bedeutung ihres Seins und Scheinens. Sie wärmt und beleuchtet die Erde für die auf ihr lebenden Tiere und Menschen. Diese (wir) sind auf ihr Licht und ihre Wärme angewiesen, für sie (uns) ist die Sonne Lebens-Not-wendend. So schließt sich der Kreis der Notwendigkeiten: Sonne und Lebewesen sind wechselseitig voneinander abhängig. Dadurch geben sie sich gegenseitig einen Sinn, denn was wäre ein Geschenk, ohne einen zu-Beschenkenden und dieser ohne jenes?

Doch was meint Zarathustra, was verschenkt wird? Im Sonnen- und Höhlengleichnis von Platon repräsentiert die Sonne die höchste und vollkommenste „Idee des Guten“, die höchste Erkenntnis, die letzte und zugleich erste Wahrheit (Platon [370 v. Chr.] 2008,S. 411).

Sie ist „die größte Einsicht […] durch welche erst das Gerechte und alles, was sonst Gebrauch von ihr macht, nützlich und heilsam wird“ (Platon [370 v. Chr.] 2008, S. 411).

Die Welt beruht für Platon auf dem Gegensatz von Ideen und Materie, eine Art Urbilder und Abbilder, wie er es im Höhlengleichnis darlegt (vgl. Platon [370 v. Chr.] 2008, S. 420ff). Die dunkle Höhle repräsentiert die sinnlich wahrnehmbare Welt der Dinge, das sonnige Gebiet außerhalb bzw. oberhalb der Höhle das übersinnliche Reich der Ideen. Letztere sind die reinen, ewigen und absoluten Wahrheiten, der in allem wirkende Ursprung. In der Materie verwirklichen, vergegenständlichen sich die Ideen. Durch die Ideen geschaffen, haben alle Dinge, wie auch der Mensch, an ihnen einen Anteil. Die höchste Idee des Guten, strahlt sonnenhaft auf alle anderen Ideen und Dinge. Erkenntnis kann erst mit Erreichen des Höhlenausgangs, am und im Sonnenlicht stattfinden. Der Sehsinn braucht, um das Sichtbare sehen zu können, „ein Drittes Wesen […], welches eigens hierzu da ist seiner Natur nach“: das Licht (Platon [370 v. Chr.] 2008, S. 414).

„Das Gesicht ist nicht die Sonne, weder es selbst noch auch das, worin es sich befindet, und was wir Auge nennen. […] Aber das sonnenähnlichste […] ist es doch unter allen Werkzeugen der Wahrnehmung.“ (ebd.).

Die Idee des Guten findet sich in allem verkörpert wieder. Dementsprechend muss das Denkvermögen, die Fähigkeit zur Erkenntnis der höchsten Wahrheit (für die der Sehsinn steht), selbst Anteil an der Idee des Guten haben. Erkenntnisfähigkeit und Gegenstand der Erkenntnis sind ebenfalls von der Idee des Guten geschaffen worden, die in ihnen wirkt. Die Möglichkeit der Erkenntnis der höchsten Idee ist im Denkvermögen bereits angelegt. Dazu muss sich die Vernunft jedoch erst über die Materie erheben, über sie hinausdenken. Sie ermöglicht dem Menschen den Austritt aus der Höhle und die wahre Erkenntnis bzw. Erkenntnis der Wahrheit, d.h. der Ideen, zuletzt der obersten bzw. ersten Idee des Guten. Lebt der Mensch einzig in der materiellen Welt verhaftet, in den dunklen Schatten der Höhle, kann er das „Licht der Ideen“ nicht sehen. Da Ideen und Materie miteinander verbunden sind, ist mit Hilfe des Denkens der Umkehrschluss durchführbar. Von den Dingen ausgehend lassen sich auf die darüber- oder dahinterstehenden Ideen Rückschlüsse ziehen. Dank seines dialektischen Erkenntnisvermögens ist der Mensch in der Lage, von den Bildern ausgehend, die dahinter liegende Wahrheit zu schauen, bis er die Idee des Guten klar und deutlich vor sich sieht. Wahre Erkenntnis ist transzendent und einzig denkend erreichbar. Von allen Sinneswahrnehmungen muss abgesehen werden, um sich den übersinnlichen Wahrheiten zu nähern. Wahrheit kann man sich hier als das durch die Dinge Versteckte vorstellen, das gleichzeitig mit Hilfe der Dinge und Vernunfttätigkeit aufgedeckt und gefunden werden kann. Dass Erkenntnis mit Schwierigkeiten und Kraftaufwand einhergeht, machen Fesseln und unwegsamer, steiler Höhlenaufgang im Gleichnis deutlich (vgl. Platon [370 v. Chr.] 2008, S. 420f).

Nietzsche, dem Anhänger der Griechischen Antike, geht es in seinem Sonnengleichnis folgerichtig um mehr, als das bloße Sonnenlicht. Dahinter verbirgt sich die Erleuchtung des Menschen, im Sinne seiner geistigen Erhöhung und Einsicht in die Dinge und Belange der Welt. Die Sonne spendet dem Menschen ihre „gute Weisheit“. Sie kann als Vermittlerin – als Lehrerin – betrachtet werden. Ihren Überfluss sendet sie jeden Tag gen Erde, wo er ihr abgenommen wird, bevor sie in der Unterwelt versinkt, welcher sie ebenfalls Licht bringt (vgl. KSA 4, S. 11). Ihre Strahlen dringen bis in die dunklen Tiefen und Abgründe hinein. Weisheit wird demnach als ein Eindringen des Geistes in die Wahrheit verstanden, das nicht nur auf der Oberfläche, auf dem Offensichtlichen verweilt. Sie blickt unter die Oberfläche, hinter das Offensichtliche, deckt die dahinter verborgene, die versteckte Wahrheit auf. In diesem Zusammenhang hat die Sonne zwei Bedeutungen. Einerseits repräsentiert sie das Erkennen selbst, die nötige Verstandestätigkeit zum Beleuchten der Wahrheit. Andererseits ist sie in ihrer Eigenschaft der Lehrerin des Guten und der Wahrheit zu verstehen. Mit der ersten Bedeutung verknüpft, lehrt sie gleichfalls die Art und Weise des Erkennens, bringt den Gebrauch der Vernunft, der geistigen Sehkraft näher. Als Lehrerin liegt der Sonne Glück, ihr Sinn und Zweck, im Lehren. Somit ist sie von ihren Schülern abhängig. Der Lehrer kann ohne seinen Schüler nicht sein. Umgekehrt kann der Schüler nicht ohne einen Lehrer sein, ohne ihn ist er ein Unwissender. Zarathustra ist ein solcher Lehrer der Erkenntnis, Wahrheit und Weisheit, oder besser: er will dieser Lehrer sein.

„Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. Ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichthums froh geworden sind. Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn!“ (KSA 4, S. 11).

Seiner Einsamkeit und erlangten Weisheit überdrüssig, will er zurück in die Zivilisation. In ihr kann er die „Hände“, die Menschen, finden, die an seiner Weisheit teilhaben wollen. Der in ihm erwachte Lehrer begibt sich auf die Suche nach seinen Schülern. Zarathustra will der Lehrer werden, der die Unwissenden bekehrt, die Welt auf den Kopf stellt, in ihr Gegenteil verkehrt, die Armut der Reichen und den Reichtum der Armen aufdeckt. Zarathustra verlässt zu diesem Zweck seine Bergeshöhen, steigt in die Täler, den Lebensraum der Menschen, hinab. So muss er der Sonne gleich wortwörtlich zu den Täler-Menschen unter-gehen (vgl. KSA 4, S. 12). Sicherlich schwingt hierin der hierarchische Gedanke, dass der Weise über den Nicht-Weisen steht, mit. Bedeutsamer ist dagegen der sinnbildliche Untergang des Zarathustra. Dieser sieht seinem eigenen psychisch und erkenntnistheoretisch verstandenen Untergang entgegen. Gemeint ist einerseits die ‚Vernichtung‘ von Zarathustras Weisheit. Er will in der Tat nicht lediglich lehren, sondern seine angesammelte Weisheit wortwörtlich aus-teilen, seine eigene Weisheit wieder in Frage stellen, sie umwerfen, sie „gehen lassen“, sich selbstkritisch reflektieren. Das meint Zarathustra, wenn er sagt: „Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.“ (ebd.). Andererseits steckt im Untergang gleichsam ein Zu-Grunde-Gehen. Dieses Auf-den-Grund-Gehen deckt sich mit der Infragestellung und Umkehrung der eigenen Weisheit, zu deren Überprüfung und Erneuerung.

Nietzsche verriet uns im Sonnengleichnis des Zarathustra seine Intention für das vorliegende Werk. Seine errungenen Erkenntnisse will er über uns ‚ausgießen‘, für diejenigen unter uns, die sich nach seiner Weisheit sehnen. Es schwingt die Hoffnung mit, dass er, wie auch Zarathustra, Gleichgesinnte findet, die seine Einsamkeit durchbrechen. In jedem Falle will er die momentanen Verhältnisse radikal in Frage stellen und umkehren. Dazu darf er nicht nur das Offensichtliche aufdecken und verbreiten. Er muss in das Verdeckte, in die unterirdischen Tiefen der Welt und Menschheit hinein, in ihre Abgründe, um die ganze Wahrheit offenzulegen. Es deutet sich an, dass die angesprochenen Abgründe und Tiefen eine weitere Rolle spielen werden. „Also sprach Zarathustra“ ist nicht ‚bloß‘ die Konzentration von Nietzsches Philosophie und Gesellschaftskritik, es ist selbst-redend zutiefst pädagogisch motiviert. Zarathustra enthüllt sich gleich zu Beginn als Lehrer seiner Weisheit. Der Inhalt seiner Weisheit lässt sich in einem Überbegriff fassen: den „Übermenschen“. Dieser ist es, den uns Zarathustra lehrt (vgl. KSA 4, S. 14). Sämtliche seiner Wahrheiten und Weisheiten laufen schließlich im „Übermenschen" zusammen. Er ist der übergeordnete Zweck, das pädagogische Ziel, der Sinn in seiner ursprünglichen Bedeutung. Der Begriff „Sinn“ stammt vom althochdeutschen „sinnen“, dem „streben“ und „begehren“ ab, soll ursprünglich außerdem so viel wie „gehen“ und „reisen“ bedeutet haben. Das verwandte mittelhochdeutsche „sint“ und das althochdeutsche „sind“, unter denen „Reise“ und „Weg“ verstanden wurden, unterstützen die ursprüngliche Bedeutung. Zarathustras Streben oder Begehren, nach seinen gleich gesinnten Schülern, Gefährten, führt ihn auf eine Reise zu den Menschen, die sich als beschwerlicher Weg erweisen wird.

1.2 „Gott ist tot“: Voraussetzung des „Übermenschen“

Also steigt Zarathustra zu den Menschen hinab. Der Erste, auf den er trifft, ist ausgerechnet ein Heiliger. Der bereits zum Greis Gealterte lebt allein im Wald bei den Tieren (ähnlich wie Zarathustra), widmet sich ganz seinem Gott (statt wie Zarathustra seiner Weisheit), lobpreist ihn mit „Singen, Weinen, Lachen und Brummen“ (KSA 4, S. 13). Man muss sich schon über das Verhalten des Alten wundern, angesichts der erschütternden Neuigkeit, die uns Zarathustra am Ende der Begegnung enthüllt.

„Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen: ›Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört, dass Gott todt ist!‹“ (KSA 4, S. 14; Hervorh. im Original).

Gott ist tot. Die erste Erkenntnis, die wir von Nietzsches Zarathustra auf seinem Weg erfahren, löst unweigerlich eine Bestürzung aus. Sie ist sogar wortwörtlich stürzend, für Mensch, Gesellschaft und natürlich Gott selbst. Es ist nahe liegend, dass Gottes Tod als erste Voraussetzung für den „Übermenschen“ zu sehen ist. Nietzsche verkündete ihn bereits vor „Also sprach Zarathustra“ in „Die fröhliche Wissenschaft“. Der Tod Gottes ist so gesehen tatsächlich eine Vor-aus-Setzung der Philosophie des „Übermenschen“. Im „Aphorismus 125“ der „fröhlichen Wissenschaft“ sucht der „ tolle Mensch “ am Vormittag mit angezündeter Laterne auf dem Marktplatz nach Gott (KSA 3,S. 480). Unter den dort versammelten Ungläubigen erntet er nichts als Gelächter und Spott über sein Suchen.

Unbeirrt klagt er dennoch an: „ Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!“ (KSA 3, S. 481; Hervorh. im Original).

Der Mensch tötete Gott. Doch welcher Mensch ist zu einem solchen Mord, einer so großen Tat fähig? Es ist namentlich der „hässlichste Mensch“, dem Zarathustra gen Ende seiner Reise begegnen wird (vgl. KSA 4, S. 327). Äußerlich und innerlich „hässlich“, eine Un- oder Ab-Art des Menschen, Unaussprechliches tuend und seiend, Ekel und Abscheu hervorrufend, konnte er die verachtenswerte Tat vollbringen. Nein, er musste es tun, denn er ertrug den nicht, der ihn sah, der seine Verfehlungen, seine Abgründe und seelischen Missstände durchschaute (vgl. KSA 4, S. 328). Gottes Tod ist die erste Bedingung zur möglichen Existenz des „Übermenschen“, denn: Gott steht für das „Du-sollst“ (vgl. KSA 4, S. 30). Dieses „Du-sollst“ verkörpert jeden fremden Willen, der über den Einzelnen gebietet bzw. gebieten will. An erster Stelle stehen Gottes Gebote, religiöse Vorschriften und Lebensentwürfe. Es folgen Gesetze, Moral und Ethik, Konventionen und Traditionen der Gesellschaft. Wir sehen uns dem „Du-sollst“ auch in der Meinung der Öffentlichkeit gegenüber, werden mit ihm durch die Bestimmung konfrontiert, was „In“ und was „Out“, angesehen und verpönt ist. Alles, was den einzelnen Menschen mit Forderungen, Ansprüchen oder Bedürfnissen gegenübertritt, was ihn beeinflusst, ihn hemmt oder überredet, wirkt wie ein „Du-sollst“ über den eigenen Willen. Familie, Freunde, Arbeitskollegen oder Chefs können das ebenso sein, wie Schule, Lehrer, Prüfer oder Massenmedien. Wir werden allgegenwärtig mit einem fremden Willen konfrontiert. Erziehung und Bildung sind von diesem Gegensatz des „Du-sollst“ und „ich will“ durchdrungen.

1.3 „Drei Verwandlungen des Geistes“

Gottes Tod ist die erste Bedingung für den kommenden „Übermenschen“.

„Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der grosse Mittag, nun erst wird der höhere Mensch – Herr!“ (KSA 4, S. 357).

Zarathustra erzählt uns in seinen Reden, welche Verwandlungen des Geistes der Mensch auf seinem Weg zum „Übermenschen“ durchleben muss.

„Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.“ (KSA 4, S. 29).

Die Stärke des Kamels, das trägt, was ihm aufgelastet wird, ist notwendig, um die schwere Bürde der Wahrheit und zuletzt den schwersten Gedanken zu er-tragen. Außerdem ist die Übernahme von Fremdem notwendig zum Leiden, das für die Entwicklung des „Übermenschen“ ein ausschlaggebender Faktor ist.

„All diess Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich: dem Kameele gleich, das beladen in die Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste. Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen Wüste.“ (KSA 4, S. 30).

Die Stärke des Löwen verhilft ihm zum Kampf gegen den „Drachen Du-sollst“. Diesem tritt er mit einem „Nein“ entgegen, denn „der Geist des Löwen sagt „ich will““ (ebd.). Während der Drache fremde und alte Werte symbolisiert, strebt der Löwen-Wille nach eigenen, neuen Werten. Sie kann er sich zwar noch nicht schaffen, „aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen“, indem er das „Du-sollst“ zerstört (ebd.). Der Tod Gottes bringt die Freiheit zum eigenen Willen. Mit ihr geht allerdings eine Gefahr einher, welcher der Löwe ausgesetzt ist. Was folgt nach dem Tod Gottes? Nichts. Mit der Vernichtung des Drachens kommt der Nihilismus auf, die große Leere, das Nichts. Nun fehlt jeder äußerer Halt, jegliche Richtungs-Vorgabe. Der Löwe hat zwar bereits einen eigenen Willen, doch fehlt ihm die Fähigkeit, diesen tätig umzusetzen. Inwieweit er ihn (sich) erkannt hat, bleibt ebenfalls offen. Er steht in der Gefahr, dem Nichts zu verfallen. Nach Gottes Tod geht sein Kampf weiter. Gelingt ihm die Kehrtwende die das „Nein“ des Nihilismus und gegen Gott in ein „Ja“ zum Leben und eigenen Willen wendet, kann gleichzeitig die letzte Verwandlung des Geistes vollzogen werden.

Nietzsches Kamel und Löwe können wir auf die kindliche Entwicklung übertragen. Das Kamel verkörpert die Stadien des Kindes, in denen es von seiner Umwelt, allen voran seiner Familie, abhängig ist. Ohne einen ausgeprägten, voll entwickelten eigenen Willen, übernimmt es zuerst überwiegend das von der Familie Gegebene. Der Löwe repräsentiert den sich entwickelnden Willen des Kindes. Es lässt sich aber kein Zeitpunkt angeben, ab dem sich das „ich will“ entfaltet und dem „Du-sollst“ entgegenstellt. Vielmehr müssen wir Kamel und Löwe als Momente der kindlichen Entwicklung ansehen, die sich abwechseln, die parallel auftreten und die sich stets beide im Mensch befinden. Schließlich kann es keine Vollkommene Unabhängigkeit oder Unbeeinflussbarkeit von fremden Willen geben, solang mehrere Menschen – Willen – aufeinandertreffen und gemeinsam in Gesellschaft leben. Momente der Selbstbestimmung wechseln sich mit Momenten des Einflusses von Außen ab.

Das letzte Stadium des Geistes, das „Kind“, symbolisiert die Verwandlung zum „Übermenschen“.

„Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“ (KSA 4, S. 31; Hervorh. im Original).

Das „Kind“, der „Übermensch“, besitzt die Kraft, seinen Willen zu realisieren, sich seine Werte und Welt selbst zu schaffen. Statt bloß das „Du-sollst“ zu verneinen, bejaht es seinen Willen, indem es ihn tat-sächlich verwirklicht. Die Vergegenständlichung seines Willens ist das ausdrückliche „Ja“ zu ihm. Es ist allumfassendes „Ja“ zum Willen an sich und zum Leben. In allem Lebendigen steckt laut Zarathustra ein Wille, „aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht“ (KSA 4, S. 149). Man könnte auch sagen: Wille zum Schaffen. Schaffen ist Äußerung und Beweis von Macht, Handlungsmacht, Macht zur Selbstverwirklichung. Im Schaffen wird tat-sächlich ge-macht. Macht und Schaffen sind Ausdruck und Tätigkeit von Leben bzw. Lebewesen, zeugen von Leben, weshalb ihre Bejahung ein „Ja“ zu allem Leben und Schaffen ist. In jedem Willen steckt diese machtvolle Schaffenskraft. Es kommt darauf an, dem eigenen Willen, der eigenen Ausprägung des Willens zur Macht, zu folgen. Der Wille sagt dann „Ja“ zu sich selbst.

„Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit – so lehrt sie euch Zarathustra.“ (KSA 4, S. 111).

Das „Kind“ schafft, was dem Löwen nicht gelang: die Realisierung des „ich will“. Es fügt der negativen Freiheit von dem göttlichen bzw. gesellschaftlichen „Du-sollst“ die positive Freiheit zu dem eigenen, bestimmten Willen hinzu. Darin ist es Neubeginn, denn es schafft Neues. Unschuldig ist es, da es um des Schaffens und um seines Willen willen schafft, denen es nichts mehr schuldig bleibt. Es folgt keinem anderen Zweck, außer dem der Selbstverwirklichung. Alles hiermit Verbundene gilt Nietzsche als unschuldig. Zeugung ist der einzige Zweck und Zeugung von Leben ist unschuldig, weil es Lebensäußerung ist. Das Kind selbst ist unschuldig an seiner Existenz. Es ist Neubeginn, da es die Welt neu entdeckt, ohne Vorurteile, ohne feste Konventionen oder Plan. Das spielende Kind ist eins mit sich, ganz auf sein Tun konzentriert, in dem sich Vorstellung und Wirklichkeit vermischen. Im Spiel schafft es Neues, bringt Fantasie in die Realität hinein, verändert beides. Ihm gleich soll der „Übermensch“ sein.

1.4 Der Mensch: Zu Überwindendes

Zurück zu Zarathustras Abstieg. Als er endlich in die erste Stadt am Rande des Waldes ankommt, verliert er keine Zeit. Er spricht sogleich zu dem, auf dem Markt versammelten, Volk.

Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“ (KSA 4, S. 14; Hervorh. im Original).

Der Mensch muss überwunden werden. Offenbar ist er eine wesentliche Verfehlung, die erst mit der Schaffung einer neuen Art bzw. seiner Umwandlung in eine neue Art zu beheben sei. Nach dieser Auffassungsmöglichkeit ist es kaum verwunderlich, dass Nietzsche vom Regime des Nationalsozialismus für die philosophische Begründung der Rassenpolitik missbraucht wurde. Tatsächlich ergibt der Blick in Nietzsches Schriften ein anderes Bild. Durch seine Werke zieht sich eine fundamentale Gesellschaftskritik, die nicht gerade positiv ausfällt. Er zerlegt gängige Meinungen, Moralvorstellungen, Verurteilungen, Handlungsweisen, Intentionen und Strebungen: Alles, was die Gesellschaft charakterisiert und aus- macht. Genau genommen richtet sich Nietzsches Kritik nicht an den Mensch per se, vielmehr an das spezifische Gesellschaftswesen zu seiner Zeit. Den Menschen auf dem Marktplatz versucht Zarathustra jenes nahezubringen, ihnen die Falschheit ihrer eigenen Gesellschaft bewusst zu machen. So will er ihnen den „Verächtlichsten“ aufzeigen, „das aber ist der letzte Mensch “ (KSA 4, S. 19; Hervorh. im Original).

„›Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. […]

Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.

Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen als sündhaft: man geht achtsam einher. […]

Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.

Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.

Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.

Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. […]

Man ist klug und weiss Alles, was geschehen ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.

Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.

›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“ (KSA 4, S. 19f).

Der „letzte verächtlichste Mensch“ vereint in sich alle Eigenschaften, die Nietzsche am realen Menschen seiner Gesellschaft verachtet. Wahre Liebe (zu Mensch und Welt), wirkliche Schöpfung (Schaffen) und drängende Sehnsucht (Antrieb zur Verwirklichung) sind für die „letzten verächtlichsten Menschen“ zu leeren Worthülsen, bedeutungslosen Begriffen, verkommen. Dementsprechend ‚leer‘ ist ihr Wesen, das ihrem Sein Zugrundeliegende, folglich ihre Gesellschaft. Derart „klein geworden“ – im Vergleich zu dem, was dem Mensch eigentlich möglich wäre, schafft er nur Kleines in der Welt, verkleinert auch sie. Seine Potentiale und die der Welt bleiben unentdeckt. Ein leichtes und sicheres Leben ist ihm das Wichtigste. Darauf konzentriert, umschifft er Schwierigkeiten, wendet sich Annehmlichkeiten und Ablenkungen zu. Selbst die Arbeit soll keine Belastung oder gar Anstrengung sein, mehr ein Vergnügen. Anstatt zu streben, zu suchen, verbleibt er im Einfachen und Bekannten. Letzten Endes erhalten sie einen Schein aufrecht, in dem sie sich wohl fühlen können. Erschreckende Parallelen existieren zum heutigen Menschen, zu unserer heutigen Gesellschaft. Wir finden Menschen, die sich mit einer beengenden Welt arrangieren. Käufliche Annehmlichkeiten und Ablenkungen aller Art erleben seit Jahrzehnten einen Boom, der nicht abzureißen scheint. Drogen sind bei weitem nicht das einzige Gift. Viele suchen einen leichten Weg. Wer anders ist, wird ausgeschlossen. Einiges hat sich bis heute aber auch verändert. Arbeit ist für die Mehrheit längst keine Unterhaltung, sondern eine unabwendbare, manchmal lästige, oft überfordernde und unterbezahlte ‚Schufterei‘. Glück hat, wer seine Arbeit liebt. Reichtum ist zu einem großen Ziel aufgestiegen, dem nicht Wenige verfallen sind. Geld kann Leichtigkeit kaufen. Arroganz, Ignoranz und Überheblichkeit lassen das Ego anschwellen. Der Mensch von Heute hat die Weisheit gepachtet, erlaubt sich Urteile über andere und über die Geschichte, weiß alles besser. „Gott sei Dank“ muss man sagen – ohne zu wissen, an welchen Gott sich die Dankbarkeit richtet, sind nicht alle Menschen so. Vielfalt ist sicherlich eine unserer Stärken. Trotz stagnierender, engstirniger oder hemmender Tendenzen schaffen es Menschen mit anderen Einstellungen zu (über-)leben und zu wirken. Wir dürfen hoffen, dass sich unter den „letzten verächtlichsten Menschen“ unserer Gesellschaft viele andere befinden, vielleicht einige „Übermenschen“. Sogar Zarathustra hat Hoffnung, während er auf dem Markt zu den Menschen spricht.

„Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“ (KSA 4, S. 19).

Für den Moment lasse ich Zarathustras lyrische Worte ohne Erklärung wirken, am Ende des ersten Kapitels sollte uns ihre Bedeutung klarer werden.

Zarathustra bringt seine bzw. Nietzsches Gesellschaftskritik auf einen vernichtenden Punkt.

„Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.“ (KSA 4, S. 15).

Ebenso, wie die Abstammung des Menschen und des Affen von einem gemeinsamen Vorfahren nach Charles Darwin für die einen eine lächerliche und falsche, für die anderen eine beschämende Erkenntnis bedeutet, soll es dem „Übermenschen“ mit dem Menschen ergehen. Der „Übermensch“ ist so gesehen ‚nur‘ ein Mensch, der die Verinnerlichung gesellschaftlicher Maßstäbe und Forderungen hinter, oder besser: unter, sich gelassen, der sich selbst, seine Fehler und Unfähigkeit, überwunden hat. Die Verallgemeinerung des an die Gesellschaft zur Zeit Nietzsches angepassten Menschen verleiht seinem Urteil zusätzliche Härte und Nachdruck. Gleichzeitig deutet sie die allgegenwärtige Gefahr für den (Über-)Menschen an, sich selbst und seinen Willen in den aufdringlichen Forderungen von Staat, anderen Obrigkeiten und Gesellschaft zu verlieren. Der Kampf um die Verwirklichung des „ich will“ ist ein lebenslanger. Versuche von äußeren Zugriffen auf eigene Sichtweisen, Moralvorstellungen, Lebensweisen, Kritiken etc. müssen immer wieder abgewehrt werden. So sehr, wie der zum „Übermenschen“ Aufstrebende und der „Übermensch“, der nach Machtgewinn und -erhalt strebt, so sehr bemühen sich die ‚alten‘ Machtinhaber und Anhänger der Gesellschaft um den Erhalt ihrer Machtposition. Aus dem Verständnis von Mensch und „Übermensch“ folgt schließlich, dass der „Übermensch“ das wünschenswerte Ziel, die wahre Daseinsweise des Menschen nach Nietzsche ist. Der vollendete Mensch, der alle seine Potentiale entfaltet, ist der „Übermensch“. Hingegen ist der „Mensch“ die Versinnbildlichung des unvollendeten menschlichen Potentials. Wie Zarathustra verkündet, ist der Mensch etwas Vorläufiges, ein Zwischenstadium und Übergang.

„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.“ (KSA 4, S. 16f; Hervorh. im Original).

Im „Menschen“ sind sowohl die Weisen des Daseins als „Tier“, wie auch als „Übermensch“, samt ihren Zwischenstufen, in Form von Möglichkeiten angelegt. Er kann in der Scham des Herden-Menschen, der dem „Du-sollst“ der Gesellschaft blind folgt, existieren, in dem er tierähnlich seinem bloßen Überlebensinstinkt folgt und sich in den Schutz der Masse begibt. Oder er lässt das ‚ich-willenlose‘ Stadium hinter sich und schreitet zum „Übermenschen“ voran. Er bildet so eine Brücke, eine Verbindung, zwischen „Tier“ und „Übermensch“. Sie zu sein ist sein Sinn, in der ursprünglichen Bedeutung des Weges und Zieles. Der „Mensch“ auf dem Weg zum „Übermenschen“, ist ein Hinübergehender. In der Folge ist er gleichzeitig ein Untergehender, schließlich ist der Zweck seiner Existenz ein ‚Anderer‘ zu werden. Der Mensch soll sich sozusagen selbst töten, damit er als „Übermensch“ leben kann. Er ist die Vorbereitung des Besseren. Darin liegt sein Zweck. Eben deshalb kann und muss er, trotz seiner Fülle an Fehlern und Missständen, geliebt werden. Genauer gesagt muss er wegen diesen geliebt werden, da an sie die Möglichkeit ihrer Überwindung und des Besseren überhaupt geknüpft ist. Ohne das Falsche gäbe es kein Richtiges, wie ohne Böse kein Gut, ohne Dunkel kein Hell, ohne Tod kein Leben. Hinzu kommt, dass die tatsächliche Lebensweise des Menschen als ,Herden-Tier‘ seine Überwindung ermöglicht. Gäbe es diese nicht, müsste oder könnte sie nicht überwunden werden. Wesentlich ist, dass erst die Überwindung den „Übermenschen“ als solchen auszeichnet. In ihr, durch sie, gewinnt er seine Fähigkeiten, die ihn über sich selbst erheben.

Jene Überwindung lässt sich, ähnlich treffend wie zur Beschreibung des Menschen, ebenfalls mit dem Seil-Gleichnis deuten. Egal an welcher Stelle des Seiles er sich befindet, er hat stets einen tiefen Abgrund unter sich. Die Gefahr des Scheiterns hängt ihm an. Gefahren auszublenden, zu ignorieren oder ‚kleinzureden‘, hilft wenig zu ihrer Minimierung. Im Gegenteil, die Gefahr muss erkannt und analysiert werden, um daraufhin eine Erfolg versprechende Strategie zu entwickeln. Was bewusst wahr genommen wird, kann auch bewusst bekämpft werden. Dem Blick in die abgründige Tiefe – in seine eigene und die der Menschheit – kann sich der Einzelne bei Nietzsche nicht entziehen. Wer könnte das über dem Abgrund gespannte Seil besser meistern, als ein „Seiltänzer“? Ein solcher erschrickt nicht vor dem unter ihm liegenden Abgrund, an Höhe und Tiefe ist er gewöhnt. Einen Blick in die Tiefe kann er riskieren, verfällt nicht in Schwindel, gefährdet seinen Weg auf dem Seil nicht. Sein Wille, die andere Seite zu erreichen, überwiegt die Angst und unterstützt das Vertrauen in seine Fähigkeiten. Das Ziel auf der anderen Seite fixierend, bewegt er sich mit der Leichtigkeit eines Tänzers selbstsicher auf dem dünnen Seil. Windstöße vermag er dank seines guten Gleichgewichtsinns auszubalancieren. Ein solcher Seiltänzer muss der Mensch werden, damit er seinen Weg zum „Übermenschen“ erfolgreich meistern kann.

Der „letzte verächtlichste Mensch“ muss überwunden werden, denn er verhindert die Entfaltung des Menschen, seines Potentials, das in ihm schlummert. Seine größte Scham ist die Unfähigkeit zur Selbstgesetzgebung, zum Setzen des „ich will“, zum Gebrauch seiner positiven Freiheit. Als ein gesellschaftlicher Herden-Mensch, ist er eine verächtliche Variation oder Möglichkeit, die überwunden werden soll. „Mensch“ und „Übermensch“ sind bei Nietzsche Begriffsverwendungen, die zuallererst den Unterschied zwischen dem „Du-sollst“-Ergebenem und dem Selbstgesetzgebenden verdeutlichen. Desweiteren drückt das „Über-“ die Art der Entstehung des „Übermenschen“ – durch Überwindung des „Menschen“ – aus. Das im Begriff der Überwindung enthaltene mittelhochdeutsche „winnen“ bedeutete ursprünglich soviel wie kämpfen, streiten, toben, sich anstrengen, sich abmühen, sich plagen, leiden, erringen, erlangen, erobern. Dieses steckt ebenso in „gewinnen“, welches durch Anstrengung, Arbeit oder Kampf zu etwas gelangen, schaffen, erringen, erlangen“ meint. Unter der Überwindung können wir uns sämtliche Bemühungen des Menschen vorstellen, sein Dasein als „Herden-Mensch“ bzw. „letzten Menschen“ unter sich zu lassen und sein Dasein als unabhängigen Mensch zu setzen. Sie ist dabei der anstrengende, mühsame Kampf um die Eroberung des „ich will“, der entsprechend mit Leid verbunden ist und durch Arbeit errungen werden muss. Zur erfolgreichen Verwirklichung, zum tat-sächlichen Ausleben des eigenen Willens sind Anstrengung, Arbeit und Kampf erforderlich, die bei Nietzsche im Begriff des Schaffens zusammenfließen.

Zurück zu Zarathustra. Seine Ansprache zum Volk missglückt, denn es versteht ihn nicht.

So sprach er zu Beginn: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?“ (KSA 4, S. 14; Hervorh. im Original).

Seine indirekte Anklage, seine fordernde Frage und seine weiteren Ausführung über die Verächtlichkeit der „letzten Menschen“, lösen beim Volk Abwehr, Gegenwehr aus. Von Zarathustra unbeabsichtigt, verlangen sie überdies den „letzten Menschen“ jubelnd für sich (vgl. KSA 4, S. 20).

Traurig erkannte Zarathustra: „Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten.“ (ebd.).

Währenddessen spielte sich über ihren Köpfen eine dramatische Szene ab. Auf einem über dem Markt in luftigen Höhen gespannten Seil machte sich ein Seiltänzer auf den Weg. Ein Possenreißer stahl sich dazu, narrte den Seiltänzer und sprang übermütig über ihn hinweg. Dieser stürzte vom Seil in Tiefe und landete direkt neben Zarathustra. Dieser suchte nach Worten des Trostes und der Ehre, die er für den Sterbenden empfand. Womöglich eine Mischung aus Schmach, Verantwortungsgefühl, Ehrerbietung und Respekt, Suche und Hoffnung brachten Zarathustra dazu, den Toden mit sich zu nehmen und ihn zu begraben. Auf dem tagelangen Weg dämmerte es in ihm schließlich.

„Ein Licht gieng mir auf: Gefährten brauche ich und lebendige, – nicht todte Gefährten und Leichnahme, die ich mit mir trage, wohin ich will.“ (KSA 4, S. 25).

Hernach machte er sich auf die Suche nach Gefährten, nach den Ohren für seine Lehre. Zu ihm stießen ein Adler und eine Schlange – die Tiere und Wegbegleiter Zarathustras, die ihm bereits im Gebirge Gesellschaft leisteten (vgl. KSA 4, S. 11 u. 27).

1.5 Wegmarken zum „Übermenschen“

Zarathustra begegnete auf seiner Reise durch die Lande verschiedenen Menschen. Ihnen versuchte er seine Lehre und Erkenntnis nahezubringen, gleichzeitig lernte er von ihnen, machte selbst einen Verwandlungsprozess durch. Aus seinen Reden erfahren wir, dass Leid und „Ekel“ am derzeitigen Menschen ausschlaggebend für den Wunsch nach dem „Übermenschen“ sind. Erst durch das Sehen und Erfahren des Schlechten an ihm und der Gesellschaft, dem Einblick in die dunklen Abgründe und Tiefen, ist eine Erkenntnis desselben und einhergehend die Entwicklung einer Idee des Guten und Besseren möglich. Ohne das Böse und Schlechte gäbe es kein Gutes und Schönes, es ist die Bedingung, die Kehrseite, der nötige Widerpart. Die Welt ist quasi eine ‚Doppelwelt‘. Sie, und das in ihr Befindliche, besitzt je zwei gegensätzliche Seiten, die sich aber doch zusammengehörend ergänzen, als zwei sich bedingende Teile des Ganzen. Der „Übermensch“ muss beide Welten kennen, beide Welten erfahren.

„Aus dem Tiefsten muss das Höchste zu seiner Höhe kommen.“ (KSA 4, S. 195).

Ohne die Erfahrung des Schlechten, ist die Erfahrung des Guten als ein solches nicht möglich. Hernach kann sich eine Vorstellung des „richtigen Weges“, der „guten Menschheit“ – die über der jetzigen steht, also Über-Menschheit ist – entfalten. Darum muss der Mensch zu seiner Überwindung tief in das Leben hineinsehen, denn „so tief der Mensch in das Leben sieht, so tief sieht er auch in das Leiden“ (KSA 4,S. 199). Einerseits ist das Leben der Menschen leidvoll, weshalb ein Blick auf selbiges immer (mit) ein Blick auf das Leiden ist. Gleichzeitig neigt der Mensch zum mit-leiden, „Mitleiden aber ist der tiefste Abgrund“ (ebd.). Mitleid ist Zarathustras größte Schwäche und letzte Prüfung. Er hat Mitleid mit den höheren Menschen, deren Notschreie er nachgeht, die er schließlich in seinem Wald einsammelt und in seine Höhle einlädt (KSA 4,S. 301ff). Der Mensch darf aber nicht lediglich am einzelnen Menschen, seinem Mitleid leiden, oder an seinem eigenen Leben, seiner Situation, seinen Problemen, seinen Schwächen etc. Sein Leid muss zum Leiden am Mensch selbst, an der Existenz der gesamten Menschheit, werden. Das Leiden an der Gesellschaft, mündet in ihrem Höhepunkt im „Ekel“. Er ist die „Erkrankung“ des Menschen am Menschen selbst. Das ist sozusagen die Geburtsstunde für die Sehnsucht und den Wunsch nach dem „Übermenschen“ und zum Wollen desselben. Die derzeitige Gesellschaft muss dem Menschen ein „Dorn im Auge“, er muss ihrer überdrüssig, von ihr angeekelt sein. Der Notschrei der „ höheren Menschen “, die auf einer vorangeschrittenen Erkenntnisstufe stehen und bereits an der Menschheit leiden, bildet den Höhepunkt ihres Leidens und „Ekels“ und ist wortwörtlich der Ruf nach Befreiung (KSA 4, S. 302). Leiden, „Ekel“ und Mitleid sind zu überwinden. Was den Menschen hierbei besonders hilft, ist Härte.

„Von sich absehn lernen ist nöthig, um Viel zu sehn: – diese Härte thut jedem Berge-Steigenden Noth.“ (KSA 4, S. 194; Hervorh. im Original).

Härte gegenüber sich selbst braucht der Mensch, um sich von seinen eigenen Leiden zu distanzieren. Distanz ist für das Erkennen nötig. Sie ermöglicht es, den Blick auf den Menschen an sich und die Gesellschaft zu richten. Gegenüber den Menschen braucht er Härte, zur Kritik und Überwindung des Mitleids. Härte muss er gegenüber sich selbst üben, zum Vorantreiben der Überwindung eigener Schwächen. Hart gegenüber allem und allen anderen muss er sein, damit ihm die Zerstörung des „Du-sollst“ gelingt. Als Zerstörer ist er gleichzeitig aus Sicht des Zerstörten böse.

So stimmt auch, „dass alles Böseste seine beste Kraft ist und der härteste Stein dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser und böser werden muss“ (KSA 4, S. 274).

Die Genesung, die Überwindung des „Ekels“, ist der Weg zur Befreiung. Als langwieriger Prozess der Einsicht führt sie zur „letzten Erkenntnis“ und zum „Übermenschen“, der von alldem befreit ist. Die Einsicht in die Abgründe des Menschen kommt als „schwarze Schlange“, die sich im Rachen eines Erkrankten festbeißt, so wie sie es bei einem Hirten tat, auf den Zarathustra traf (KSA 4, S. 201). Der „Ekel“ kommt mit der Einsicht. Dank der tragenden Stärke des Kamels ist der Mensch in der Lage die Bürde der Erkenntnis und des Leides zu ertragen. Erkennt er die hemmenden Momente, das fremde „Du-sollst“, vermag er sie mit der Kraft eines Löwen zu besiegen, der Schlange den Kopf abzubeißen und ihn auszuspucken (vgl. KSA 4, S. 202).

„Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte ! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte!“ (ebd.).

Der Befreite lacht das erleichterte Lachen des „Übermenschen“. Eindeutig fand in ihm die Not-Wende statt.

„Schaffen – das ist die grosse Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden.“ (KSA 4, S. 110).

Die Befreiung vom „Drachen Du-sollst“ und von der „schwarzen Schlange“ des „Ekels“ ist das erste, was der „höhere Mensch“schafft. Mit dem Gelingen steigt er gleichzeitig zum „Übermenschen“ auf.

Zarathustras Formulierung seiner Hoffnung wird mit diesem Hintergrund besser verständlich.

„Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“ (KSA 4, S. 19).

Im „Chaos“ drückt sich das Leid aus, das der Mensch in seinem Innersten empfindet. Trotz der gesellschaftlichen Ablenkungen brennt es noch in ihm. Noch ist er „menschlich“, nicht „tierisch“. Als Mensch ist er stets das Seil, der Übergang, daher auch der, der Uneins mit sich ist, gespalten, im Chaos. Erkenntnis brächte das im Inneren verborgene Chaos ans Licht, in dem es sich zum „Ekel“ entfalten könnte. Der „tanzende Stern“ versinnbildlicht den leicht gewordenen und lachenden, weil vom Leid und „Ekel“ befreiten, „Übermenschen“. Dieser schwebt einem Stern ähnlich am unendlichen Himmelszelt über der Welt. Er besitzt die Weitsicht, Distanz- und Reflexionsfähigkeit zur Erkenntnis des Wahren. Er besitzt die Fähigkeit sein schier unendliches Potential zu entfalten. So vergleichsweise leicht gelingt es ihm, dass er tanzend voranschreitet, Schwierigkeiten oder Hindernisse tanzend überwindet. Wir können im Tanzen das spielerische Moment des Schaffens wiederfinden. Im Tanz drückt sich der Geist körperlich aus, Psyche und Physis verbinden sich in ihm. Der Tanzende ist im Tanzen Eins mit sich. Außerdem ist der Stern am Himmelszelt ein Hinweis auf die Göttlichkeit des „Übermenschen“. Gottähnlich erschafft er sich die Welt und sich selbst, setzt sein „ich will“ als „Du-sollst“für sich.

„Das eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott giebt!“ (KSA 4, S. 254).

2. „Du-sollst“ versus „ich will“: Das Kind unter natürlichen Mächten

2.1 „Du-sollst“ der primären Bindungen

2.1.1 Abhängigkeit von den Eltern

Begeben wir uns an den lebensweltlichen Anfang des Menschen, an seine Geburt, und gehen wir von einer Idealvorstellung aus, in der das lang ersehnte Kind die kleine Familie von Mutter und Vater zu ihrem Glück vervollständigt. Der soeben das Licht der Welt erblickende Säugling beginnt zu schreien. Sein Vater durchtrennt mit zittrigen Händen die Nabelschnur, über die der Fötus seine letzten bzw. ersten neun Monate von seiner Mutter ernährt wurde. Mittlerweile haben Ärzte und Hebamme begonnen, das Neugeborene zu wiegen, messen und waschen. Seine Reflexe und Sinneswahrnehmungen werden getestet, ihm wird Blut abgenommen. Es schreit – aus Angst, aufgrund von Stress, um Hilfe und nach Geborgenheit. Aus seiner ,heilen Welt‘, dem Uterus seiner Mutter, wurde es herausgestoßen, befindet sich nun in einer völlig neuen Welt. Unbekannte Eindrücke stürzen auf es ein, auf es wird wortwörtlich zu-gegriffen. Es kann sich nicht wehren, nichts für sich tun. Der Säugling ist ganz und gar hilflos. Sein Körper ist vergleichsweise winzig, noch ,unausgereift‘, ebenso wie sein Geist. Ihm mangelt es an Fähigkeiten und Fertigkeiten. Er ist ein Mängelwesen, ein „Dasein“ als „In-der-Welt-sein“, welches die „ Sorge “ um sein „In-der-Welt-sein“, als „ Besorgen “ und „ Fürsorge “, nicht übernehmen kann (Heidegger [1927] 2001, S. 57 u. 193; Hervorh. im Original). Er befindet sich in der absoluten Abhängigkeit von einem fremden Willen, in erster Linie dem seiner Eltern. In unserer Idealvorstellung hat er Glück, denn seine Eltern lieben ihn vom ersten Augenblick seiner Existenz an, er ist erwünscht und gewollt.

Die Erwachsenen haben die Macht inne: das Vermögen, handelnd ihr eigenes Dasein in der Welt zu besorgen. Körperlich und geistig weit genug entwickelt, finden sie sich in der Welt zurecht, verfügen über alle notwendigen Fähigkeiten, um in ihr zu überleben, sie mit zu gestalten und sie sich in diesem Sinne anzueignen. Die Eltern haben zwangsläufig die Macht über den Säugling. Sie gründet sich auf ganz banale, natürliche physische und psychische Überlegenheiten, wie Kraft, Fertigkeiten, Erfahrung und Wissen. Da es ihr Säugling ist, d.h. sie ihn gemeinsam gezeugt und zur Welt gebracht haben, erhält ihre Macht von ihrer Umgebung Legitimität. Nach Außen hin besitzen sie die anerkannte Autorität über ihr Kind. Ihre Macht und ,äußere Autorität‘ ist von Beginn an eine natürliche. Die Eltern verkörpern (wortwörtlich) einen fremden Willen. Zunächst hält sich dieser bei unseren Ideal-Eltern zurück. Anstatt Forderungen an den Säugling zu stellen, werden sie ihm ein Zuhause geben, ihn Füttern, in den Schlaf wiegen usw. Mit anderen Worten: sie sorgen sich um ihr Kind, be- und umsorgen sein Dasein, sein „In-der-Welt-sein“. Von ihrer Fürsorge, der Sorge eines fremden Willens, eines potentiellen „Du-sollst“, ist der Säugling abhängig. Hier ist das sich zurückhaltende „Du-sollst“ des elterlichen Willens noch ganz für den Säugling. Die Eltern wollen ihn schützen, sich um ihn kümmern, haben sein Wohl im Sinne. Sie erfüllen seine Grundbedürfnisse nach Geborgenheit, Ernährung und Zuwendung, sichern seine Existenz. Ihr „Du-sollst“ sagt: „Du sollst es gut haben, Du sollst geborgen sein“. Der Säugling profitiert von diesem fremden Willen. Seine Abhängigkeit erweist sich als für ihn nützlich, solang die über ihn Mächtigen für ihn handeln. Erich Fromm nennt unsere beispielhaften Eltern in diesem Zusammenhang „primäre Bindungen“ (Fromm [1941] 2008, S. 24).

„Sie sind organisch in dem Sinne, als sie ein Bestandteil der normalen menschlichen Entwicklung sind; sie implizieren einen Mangel an Individualität, aber sie verleihen dem Betreffenden auch Sicherheit und ermöglichen ihm Orientierung. Es sind jene Bindungen, die das Kind mit der Mutter, den Angehörigen eines primitiven Stammes mit seiner Sippe und der Natur oder den mittelalterlichen Menschen mit der Kirche und seinem sozialen Stand verbinden.“ (Fromm [1941] 2008, S. 24f).

Primäre Bindungen übernehmen die not-wendigen Funktionen für das Kind, über die es selbst nicht verfügt. Die Sorge um sein Dasein übernehmend, füllen sie den Mangel seiner Macht, ersetzten die derzeitig unfähigen körperlichen und geistigen Organe. In ihrer Sorge dienen sie ihm als äußere Organe, passen sich ihm an.

2.1.2 Der gebende Blick

Schauen wir auf unseren Säugling, der gerade seine ersten Erfahrungen in der neuen Welt macht. Nachdem er untersucht, von Blut und Käseschmiere befreit wurde und seinen ersten Strampler angezogen bekam, wird er in die erwartungsfrohen Arme seiner Mutter gelegt. Der emotional ergreifende Moment hat eine darüber hinausgehende fundamentale Bedeutung für den Säugling und dessen Beziehung zur Mutter. Zum ersten Mal spürt er ihre beschützende Umarmung, fühlt ihre liebevollen Berührungen. Sein Stress löst sich auf, seine Angst verfliegt. Der Blick unserer Mutter ruht auf ihrem Kind. Vielleicht suchen seine Augen bereits jetzt die ihrigen, vielleicht nimmt es ihren Blick wahr. Wurde mit der durchtrennten Nabelschnur ihre innigste Verbindung gekappt, so wird sie nun wieder unmittelbar hergestellt.

Das Sprichwort „ein Blick sagt mehr, als tausend Worte“ kommt nicht von ungefähr. Ein Blick ist ein fester Bestandteil der zwischenmenschlichen Kommunikation. Er kann böse sein, abweisend, verachtend, liebevoll, erfreut oder mitfühlend. Etwas Unmittelbares liegt in ihm, das lediglich unzureichend umschrieben werden kann. Das Gefühl während des Anblickens zweier Menschen verweist auf eine fundamentale Ebene des Miteinanders. Wir verstehen intuitiv, was uns der Blick eines Menschen sagen will, selbst dann, wenn Gesprochenes und Blick sich widersprechen. Letzterem vertraut unser Bauchgefühl. Der Blick ist direkt, wir können ihn kaum willentlich steuern. Ein unechtes, aufgesetztes Lachen erkennen wir an, oder besser in, den Augen, die nicht mitlachen. In den Augen sehen wir die eigentliche Traurigkeit, die zu überdecken versucht wird. Sie sind diesbezüglich wirklich eine Art „Fenster zur Seele“ bzw. zu innerem Gefühlsleben und Gedankenwelt.

Für einen Säugling ist der Blick seiner Mutter, seiner primären Bindungen generell, von entscheidender Bedeutung. Seine Sehkraft ermöglicht ihm gleich nach der Geburt das Wahrnehmen von Gesichtern, welche es sucht und am längsten, vermutlich am liebsten, anschaut. Ganz natürlich geschieht der elterliche Griff, der es in die Arme nimmt, das Köpfchen ein Stück höher hält und den eigenen Kopf neigen lässt. Automatisch bringt die Mutter ihr Gesicht in den Sehschärfenbereich des Säuglings von etwa zwanzig bis dreißig Zentimeter. Im Verhältnis zu seinen anderen motorischen und sinnlichen Fähigkeiten, ist der Sehsinn am weitesten herausgebildet. Bleibt der Blick des kleinen Wesens im Arm zum ersten Mal auf den eigenen Augen ruhen, überschlagen sich die Gefühle der Eltern vor Glück. Unsere Worte und Gesten versteht der kleine Mensch zwar noch nicht, doch ein Gesichtsausdruck, ein Blick, hat bereits eine Wirkung auf ihn. Unbewusst versteht er ihn vielleicht. Im Alter von mehreren Wochen beginnt er, uns auf unseren Blick aktiv zu antworten. Ist unser Blick böse, weil wir es sind, wendet er sich eher ab oder beginnt zu schreien. Ist er wie wir fröhlich, schaut er uns länger und zufrieden an, ahmt unsere positiven Gesichtszüge nach, beginnt zu lächeln. Über den Blick nehmen wir den ersten, unmittelbarsten Kontakt zum Säugling auf.

„Was erblickt das Kind, das der Mutter ins Gesicht schaut? Ich vermute, im allgemeinen das, was es in sich selbst erblickt.“ (Winnicott [1971] 2002, S. 129).

Im Blick der Mutter, die ihr Kind anschaut, drückt sich direkt ihr Gefühl gegenüber ihm aus. Das Kind erlebt im liebevollen Blick der Mutter ihre Liebe, ebenso direkt und unmittelbar. Über ihn wird ihm im Besonderen ihre Liebe zu ihm selbst gewahr. Es erfährt sich als geliebt und liebenswert. Der Blick zeigt ihm auch, dass es überhaupt ein Dasein ist, ein „In-der-Welt-sein“. Dem Kind ist die Mutter ein Spiegel seines Seins. So erfährt es durch die soziale Reflexion seiner primären Bindungen eine Resonanz, die Bestätigung seiner eigenen Existenz. Die körperliche Nähe unterstützt dies, lässt ihn die Begrenzung seines Körpers, dessen Art und Weise, erfahren. Über den Kontakt mit anderen Menschen und Dingen kann er ihn, sich und seine Fähigkeiten kennen lernen und erproben.

In Bezug auf den Blick trifft Winnicotts Annahme zu: „Wenn ich sehe und gesehen werde, so bin ich.“ (Winnicott [1971] 2002, S. 131).

Oder mit den Worten Hegels ausgedrückt: „Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ (Hegel [1807] 2008, S. 145).

Erst in der Anerkennung, d.h. vermittelt über bzw. durch einen anderen Menschen, erfährt und beweist sich der Mensch als wahres Selbstbewusstsein. Der für sich seiende, seiner selbst bewusste Mensch glaubt zu wissen, wer er ist. Sein Selbstbewusstsein entwickelt er über die innerliche Konfrontation mit der Außenwelt, den Vergleich und die Abgrenzung zu anderen Menschen. Allein, für sich, bleibt sein Selbstbewusstsein, sein Wissen um sich selbst, nur für ihn und theoretisch. Er lebt in seinen Vorstellungen. Ohne die Reaktion eines anderen Menschen darauf, bleiben sie bloße Phantasien. Erst in der Äußerung, in der Verwirklichung seiner Vorstellungen durch Taten, zeigt er sich als tat-sächliches „In-der-Welt-sein“ bzw. An-sich-Sein. Andere erkennen ihn als das an, als was er sich zeigt. Sie spiegeln ihm sein reales, geäußertes Ich-Sein, lassen ihn eine Resonanz auf sich erfahren. Hierüber kann er die Wahrheit seiner Vorstellungen, ihre reale Umsetzung, prüfen. Stimmen Spiegelung bzw. Anerkennung und Vorstellung überein, hat sich sein Selbstbewusstsein wirklich bewiesen. Wahrheit über uns selbst erfahren wir demzufolge einzig und allein in der Vermittlung mit unserer Außenwelt, innerhalb sozialer Beziehung, in der Gesellschaft – zuerst über unsere primären Bindungen. Anerkennung kann als die soziale Reflexion oder Resonanz über uns selbst betrachtet werden. Darüber hinaus erfahren wir erst in ihr, dass wir vom Anderen ,gesehen‘, wahrgenommen werden, dass wir ein „In-der-Welt-sein“ sind, ein anerkennenswerter Teil der Gemeinschaft.

Ein Säugling ist kein Selbstbewusstsein in dieser Bedeutung. Er kann sich weder in der geforderten Weise mit der Außenwelt auseinandersetzen, noch seine eigenen Schlüsse ziehen oder sie gar tätig umsetzen. Über den Blick seiner Mutter und seiner anderen primären Bindungen erfährt er erstmals, dass er ist. Er muss dafür (idealerweise) nichts tun, sich nicht in einer spezifischen Art und Weise äußern, hat keine Erwartungen zu erfüllen. Anerkennung wird ihm zunächst gegeben. Über sie erfährt er wie er ist – in unserem Idealfall ein geliebtes Wesen. Die Anerkennung der primären Bindungen ist anderer, bedingungsloserer Art. Sie halten in diesem Fall ihre Forderungen zurück. Allein seine Existenz genügt zur ersten Anerkennung. Die bedingungslose Gabe der Anerkennung bedeutet weiterhin, dass etwas in den Säugling hinein-gelegt, hinein-interpretiert wird. Der Säugling wird nicht allein als das betrachtet, das er ist, sondern auch als das, was er einmal werden kann, was in ihm steckt: sein Potenzial. Im Hinblick auf die Anerkennung müsste allgemein im Säugling der spätere Mensch gesehen werden, sein innewohnendes Potenzial zur Verwirklichung seiner Individualität. Die Mutter unseres Idealfalls sieht im Säugling auf ihrem Arm einen Teil von sich, dem sie ihre Liebe schenken kann, der ihrem Dasein einen Zweck außerhalb ihrer selbst gibt. Ferner wird ihr Blick von dem beeinflusst, was sie sehen will. Wie die Mutter ihr Kind anschaut, hängt wesentlich „davon ab, was sie selbst erblickt“ (Winnicott [1971] 2002, S. 129). Ihre Hoffnungen, Ängste, Wünsche, Erwartungen etc. drücken sich in ihrem Blick aus. Selbige erfährt das Kind ebenfalls. Ähnlich, wie es den liebevollen Blick auf sich bezieht, bezieht es den ängstlichen, hoffnungsvollen, erwartenden etc. auf sich. Im Laufe der Zeit nimmt das Kind unbewusst oder bewusst wahr, was die Mutter übermittelt. Zwangsläufig reagiert es darauf ebenso unbewusst oder bewusst, ablehnend oder annehmend.

Nicht nur das „Was“ des Selbstbewusstseins wird dem Kind mit dem Blick gegeben, der sagt „du bist da, in der Welt“ und „du bist ein kleiner Mensch, ein Lebewesen“. Das „Wie“ wird mehr oder weniger mit transportiert. So übernimmt das Kind unbewusst, später eventuell sogar bewusst, das, was die Eltern ihm vermitteln. Über sie bzw. seine primären Bindungen definiert es ein vorläufiges Ich. Vorläufig, weil unter Berücksichtigung seines Potentials oder einer Befürchtung, Hoffnung usw. der Eltern aktuell je mehr gesehen wird, als der Säugling tatsächlich äußert. Der elterliche Blick geht sozusagen in die Zukunft vor, ersinnt sich das, was kommen könnte und überträgt es auf den Säugling. Die Erwartungshaltung der Eltern an die Zukunft beeinflusst ihren gegenwärtigen Blick. Vorläufig außerdem, weil der gegenwärtige Säugling während seiner psychischen Entwicklung ein eigenes Bild von sich aufbauen und das alte zerstören kann. Nach und nach entwickelt er das bewusste Ich, welches ihm Identität gibt, seinen Charakter auszeichnet. Wobei dieses keineswegs statisch ist. Vielmehr ist es einem gewissen Wandel oder einer Entfaltung unterlegen, insofern die Auseinandersetzung mit der Außen- und Innenwelt immer wieder Neues hervorbringt.

Bedeutend für unseren Säugling ist die Vermittlung eines Ich-Bewusstseins. Gemeint ist, dass er bereits von seiner Existenz erfährt, obwohl er nicht zwischen dem eigentlichen Ich und seiner Umwelt unterscheiden kann. In der ersten Phase der Ich-Entwicklung bzw. der Entstehung des Ich-Bewusstseins, verschmelzen quasi Säugling und Mutter. Unsere ideale Mutter geht auf die Bedürfnisse ihres Säuglings ein. Sobald er nach Milch, Trost oder Beschäftigung schreit, ist sie zur Stelle. In ihrer Mutter-Tätigkeit, ihrem Mutter-Sein ist sie ganz für ihren Säugling. Dieser erfährt seine Mutter ausschließlich in ihrer organischen Funktion. Wird er hungrig, beginnt er zu schreien, woraufhin Brust oder Fläschchen ihn stillen. Macht ihm ein unbekanntes Geräusch in der Nacht Angst, schreit er, wird kurz darauf hochgenommen und erfährt die Beruhigung durch die Mutter. Seine Mutter erscheint ihm wie ein Teil seiner selbst, was sie tut erscheint ihm als eigenes Tun, er erfährt sich als omnipotent (vgl. Sesink 2001, S. 170f). Die Macht der Mutter wird für ihn zu seiner Macht.

„Nach der völligen Verschmelzung mit der Mutter tritt das Kleinkind in eine Phase, in der es die Mutter vom eigenen Selbst trennt und in der die Mutter das Ausmaß ihrer Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes einschränkt, um sich selbst nach weitestgehender Identifizierung mit dem Kind wiederzufinden und weil sie auf das veränderte Bedürfnis des Kindes, sie jetzt als unabhängiges Wesen zu erleben, eingeht.“ (Winnicott [1971] 2002, S. 124f).

In dieser Phase lernt das Kleinkind zwischen Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden. Dinge erkennt es als ihm äußerliche, entgegenstehende Objekte, die Mutter als eigene Person, als Subjekt. Für Letzteres ist bedeutsam, dass sich die Mutter dem ständigen Zugriff durch das Kind entzieht, sie nicht andauernd zur sofortigen Bedürfniserfüllung präsent ist. Ihrem Kind gegenüber muss sie sich als eigenständiger Mensch, der nicht ausschließlich Mutter ist, äußern. Das Kleinkind erfährt den Bruch seiner Omnipotenz, den Schein seiner Allmacht. Ehemalige Subjekt-Objekte, wie die Mutter, werden zu Subjekten, die sich selbst bestimmen und über die es nicht nach Belieben Macht besitzt. Die Erfahrungen seiner Grenzen, seiner körperlichen Begrenzung und seiner Verfügungsmacht, verhelfen dem Kleinkind zum Ich-Bewusstsein. Ein weiterer, für das Kind wesentlicher Entwicklungsschritt, liegt in der Macht seiner Eltern bzw. primären Bindungen, einer fremden Macht, einem „Du-sollst“.

2.1.3 Verwirklichtes „Du-sollst“

Der liebevolle Blick der Eltern kann ein machtvolles Instrument sein. Im angenommenen Idealfall ist er zuerst ein Ausdruck der Liebe und Sorge um den Säugling. Was er intendiert, liegt ganz im Interesse des Säuglings. Gleichzeitig kann er sich, geprägt durch den elterlichen Willen, in sein Gegenteil verkehren. Dann wäre er (wie der Wille der Eltern) nicht mehr für den Säugling, sondern über ihn, das sich bemächtigende „Du-sollst“. Der „Drache Du-sollst“ äußert sich zuerst im Blick, genährt von den Vorstellungen der Eltern. Der Blick steht jedoch nicht allein und isoliert, Handlungen sind eng an ihn gebunden. Was die Mutter will, äußert sich in ihrem Blick dem Kind gegenüber und in ihrem Handeln. Will sie das Wohl ihres Säuglings, weil sie ihn liebt, sprechen ihr Blick und Tun dieselbe Sprache. Beide sind gemeinsam wirkende Äußerungsformen ihres Willens. Ein Blick allein kann nicht genügen, ohne die tat-sächliche Umsorge seines Daseins verkümmert der Säugling. Die Liebe bliebe ein leeres, unerfülltes, unbewiesenes Versprechen. Handelnd drücken wir unsere Intentionen aus, mit ihm unterstützen und beweisen wir unseren Blick, oder nicht. Wir können das Handeln als zweiten Spiegel betrachten, über den sich der Säugling erfahren kann. Mit der tätigen Befriedigung seiner Bedürfnisse beweist sich der liebevolle Blick, der Säugling erfährt sich ,rundum‘ als geliebt, gewollt und umsorgt. Die natürliche Macht der primären Bindungen äußert sich in ihrem Blick und ihrem Handeln. Beide sind Ausdruck, Äußerung, ihres eigenen „ich will“, also grundsätzlich ein fremder Wille und eine fremde Macht gegenüber dem Kind.

In unserem Idealbild richten sich Wille und Handeln der Eltern auf dasselbe Ziel. Doch bereits hier können sie voneinander abweichen. Fälle von Vernachlässigung oder gar Säuglingsmord zeigen auf grausame Weise die reale Macht der primären Bindungen. Ihr Wille kann ein „Du-sollst nicht leben“ oder „Du-sollst alles bekommen was du brauchst“ sein. Ihre natürliche Macht kann eine positive, bestärkende Wirkung für das Kind entfalten, aber auch eine negative, hemmende Wirkung über es. Der Blick einer Mutter kann ihre Liebe spiegeln, zugleich kann sie dem Kind die körperliche Nähe verweigern, nicht mit ihm spielen, ihm wenig Nahrung geben. Für das Kind entsteht ein verwirrendes Bild. Die Handlungen seiner Mutter laufen seinen Bedürfnissen zuwider, es fühlt sich trotz des Blickes ungeliebt und unerwünscht. Wille, Blick und Tat der Mutter werden zum „Drachen“, der das selbstbewusste „ich will“ des Kindes gefährdet. Findet eine Mutter ihr heranwachsendes Kind schön, vertraut es ihm, sieht in ihm eine Prima-Ballerina, wird sich das Kind selbst schön finden, von seinem Können überzeugt sein und womöglich Ballerina werden wollen, wenn die Mutter ihren Wunsch aktiv dem Kind übermittelt hat. Ebenso wirken sich negative Aspekte, wie Misstrauen, Ablehnung, Verachtung usw. aus. Ob nun die verpasste eigene Chance oder der Wunsch auf Ruhm durch das Kind für die Mutter verwirklich werden soll oder andere Gründe vorliegen, im Ergebnis sieht sie den potenziellen „Übermensch“, den mündigen selbstbestimmten Mensch nicht in ihrem Kind. In diesem Moment betrachtet sie ihr Mädchen nicht als eigenständigen Mensch, der einmal seine individuellen Willen verwirklichen können will und soll. Hingegen projiziert sie ihren Willen auf die potentielle Mündigkeit des Kindes, macht es für sich zur Ballerina. Sie versucht die eigene Macht über das Kind zur Verwirklichung egoistischer Ziele oder Wünsche auszunutzen, ob bewusst oder unbewusst. Der Wille der Mutter will über das Kind bestimmen, berücksichtigt die Bedürfnisse des Kindes nicht. Ihre Macht, an die das Kind durch Abhängigkeit gebunden ist, ist zum „Drachen Du-sollst“ geworden.

Zwangsläufig ist der mütterliche (Über-)Wille dem im Kind erwachenden und wachsenden Willen eine Fremdbestimmung. Mit der Regung des „ich will“ im Kind kommt es zum Bruch oder Kampf zwischen dem „Löwen-ich will“ und dem „Drachen-Du-sollst“. Erfuhr unser Kind zuvor Sicherheit, Bedürfnisbefriedigung und Orientierung in der Welt durch seine primären Bindungen, verband Positives mit ihnen, entsteht jetzt eine zweite, negative Seite. Mit der Zeit gerät die positive Besetzung der primären Bindungen in Widerspruch zum wachsenden Selbstbewusstsein und Willen des Kindes. Was ehemals Schutz und Bedürfnisbefriedigung bot, bedeutet immer mehr Bestimmung, Einschränkung, Bevormundung. Der fremde Wille der Eltern steht zunehmend dem eigenen Willen des Kindes entgegen. Das von den Eltern vorgesetzte Essen wird verschmäht, weil es dem eigenen Geschmack und den eigenen Gelüsten nicht passt. Aus dem Zuhause wird teils wortwörtlich ausgebrochen, Verbote werden übertreten. ,Verschrobene‘, ,altbackene‘ Ansichten der Eltern, die nicht wissen, was „up to date“ ist, prallen auf das immanente Bedürfnis der Abgrenzung im aufkommenden „ich will“. Dabei müssen die elterlichen Bestimmungen nicht unbedingt in einem übermächtigen, sich bemächtigenden „Du-sollst“ auftreten. Der aufkeimende Wille des Kindes wird, dank der wachsenden geistigen Kräfte, den Willen der Eltern vom eigenen unterscheiden, solang diese sich als Subjekte äußern.

[...]

Final del extracto de 98 páginas

Detalles

Título
Erziehung und Bildung zum "Übermenschen"
Universidad
Technical University of Darmstadt
Calificación
1,0
Autor
Año
2011
Páginas
98
No. de catálogo
V278767
ISBN (Ebook)
9783656723776
ISBN (Libro)
9783656723714
Tamaño de fichero
967 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Philosophie, Pädagogik, Nietzsche, Übermensch, Heydorn, Winnicott, potenzieller Raum, Bindung, Zarathustra
Citar trabajo
Nathan Rosental (Autor), 2011, Erziehung und Bildung zum "Übermenschen", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278767

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Título: Erziehung und Bildung zum "Übermenschen"



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