Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN
THEOLOGISCHE FAKULTÄT
SEMINARARBEIT
„DER STREIT UM DAS BRANDENBURGER MODELL LER“
ZUM KIRCHENGESCHICHTLICHEN HAUPTSEMINAR
„KIRCHE UND SCHULE IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT“
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
GESCHICHTE DER ENTSTEHUNG VON LER
DIE EINZELNEN PHASEN VON LER
DIE VORBEREITUNGSPHASE
DER MODELLVERSUCH
DIE ABSCHLUßBERICHTE
Abschluß bericht der EKiBB (29.6.1995)
Abschluß bericht des MBJS (1.2.1996)
Abschluß bericht der wissenschaftlichen Begleitung
Projektgruppe des PLIB 12
Erörterung
WAS WILL LER?
JETZIGE SITUATION
ZUR VERFASSUNGSMÄßIGKEIT VON LER
ABWÄGUNG
SCHLUß
ANHANG
CHRONOLOGIE VON LER
1. Einleitung
Der Religionsunterricht (RU) ist das einzige Schulfach, das im Grundgesetz ausdrücklich genannt wird. Allein daran läßt sich erkennen, daß seine Stellung eine besondere ist, die ihn von allen andern Fächern unterscheidet.
Diese Regelung ist eine Besonderheit gegenüber anderen Ländern wie beispielsweise Frankreich, das in seiner Verfassung die Laizität der Schule1 verankert hat. In Berlin- Brandenburg wiederum ist das, was aus westdeutscher Sicht eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich daß die Schüler2 am Religionsunterricht teilnehmen oder sich befreien lassen, ein Wunschtraum, der möglicherweise wie eine Seifenblase zu platzen droht oder - die Hoffnung der Kirchen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu diesem Thema außen vor gelassen - längst geplatzt ist.
Selbst die Evangelische und die Katholische Kirche in Berlin-Brandenburg planen längst Modelle3, die anders aussehen, als die grundgesetzliche Vorgabe eines RU als ordentliches Lehrfach, obschon es diese Kirchen selbst sind, die in Karlsruhe eine Entscheidung im Sinne des Grundgesetzes herbeiführen wollen.
Diese juristische Urteilsbildung wurde angestrengt nicht aus freiem Entschluß, sondern aus der Ablehnung eines alternativen Modells heraus, welches das Land Brandenburg nach der Wende entwickelt und peuàpeu auf den Stundenplan gesetzt hat. Das Kürzel LER steht längst für mehr als für Lebenskunde-Ethik-Religion. Das mag zum einem daran liegen, daß die Bedeutung der einzelnen Buchstaben des Sigles einer schleichenden Erosion unterlagen, zum anderen an der gewaltigen Diskussion, die mit ideologischen, theologischen, politischen und pädagogischen Einwürfen geführt wurde und immer noch geführt wird. Während für manche die Einführung von LER scheinbar den Untergang des christlichen Abendlandes einläutet, bedeutet es für andere die Anerkennung der Verhältnisse in den sogenannten neuen Bundesländern.
Erfahrungen aus einem Assistentenjahr in Frankreich und aus Praktika in Schulen im Berliner Ostteil scheinen mir zu verdeutlichen, daß das konventionelle, „heile“ Modell des RU, wie während meiner Schulzeit in Baden-Württemberg erlebt, für die Kirche eine angenehme Lösung ist, da es ihre gesellschaftliche Bedeutung auch in der staatlichen Institution Schule unterstreicht. Dort jedoch, wo volkskirchliche Strukturen nicht oder nicht mehr zu finden sind, droht es an der Realität vorbeizugehen, da die Lebenswirklichkeit der Menschen und damit auch der Kirchen eine andere ist.
Vor diesem Hintergrund hat sich Brandenburg als einziges der neuen Bundesländer dazu entschieden, nicht den RU als ordentliches Lehrfach einzuführen, sondern ein alternatives Lehrfach zu entwickeln, daß allen Schülern gemeinsam die Vermittlung von Werten angedeihen läßt.
Dieses Fach ist LER, dessen Entstehung die vorliegende Arbeit aufzeigen und seine Risiken und Chancen im Vergleich zum RU beleuchten will.
Geschichte der Entstehung von LER
Am 9. November 1989 fand in der Kongreßhalle am Berliner Alexanderplatz ein Forum „Bildungsnotstand“ statt. Veranstaltet wurde dieses Forum im Zuge der Umwälzungen in der DDR von einer „Volksinitiative Bildung“. Schon zuvor hatte es in der DDR außerstaatliche Aktivitäten auf bildungspolitischem Gebiet gegeben. Daran waren die Evangelische Kirche in der DDR, die Bürgerbewegung und der Freidenkerverband beteiligt.
Thema des Kongresses im Wendeherbst war das Problem, wie „Fragen einer sinnvollen und selbstverantworteten Lebensgestaltung in der Schule insgesamt oder in einem besonderen Schulfach [zu] thematisieren“4 seien. Vermutlich fiel in diesem Zusammenhang zum ersten Mal coram publico das Wort „Lebensgestaltung“, das eine Zeit lang das L von LER ausmachte.
Es stellte sich heraus, daß die auf der Veranstaltung vertretenen Gruppen und Organisationen in ihren Positionen nicht sehr weit auseinander lagen, wiewohl ihr Hintergrund verschieden war. Was die Gruppen einte und den Keim für ihre Überlegungen bildete, waren die Erfahrungen, die sie im totalitären Weltanschauungsstaat à la DDR gemacht hatten. Außerdem erschien das Fehlen von Religon bzw. Religiösem an sich als Manko, wie es Jürgen Lott festhält.
„Einig war man sich dabei über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg darüber, daß die zwanghafte Ausgrenzung des Pluralismus religiöser und weltanschaulicher Orientierungen aus der Schule beendet werden und eine religionskundliche Grundbildung im Rahmen der Schulreform Berücksichtigung finden sollte. Damit war nicht nur die Vermittlung von religionskundlichem Wissensstoff gemeint, sondern ein grundsätzliches Bekanntwerden mit religiös vermittelten Denk- und Lebensformen. [...] Das Verstehen religiös vermittelter Lebensformen und Weltdeutungen sollte Teilgegenstand des Faches sein.“5
An dieser Konzeption wird deutlich, daß die Intention keineswegs religionsfeindlich war, sondern gerade die Begegnung für alle mit Religion ermöglichen wollte, um ein Defizit, das sich aus der DDR-Situation ergeben hatte, abzubauen. Politisch war zu dieser Zeit zwar von der Wiedervereinigung noch nicht die Rede, deshalb stand auch eine mögliche Übernahme des westdeutschen RU-Modells nicht zur Debatte. Für manchen in Ostdeutschland erschien jedoch später
„ein Religionsunterrichtsfach ein ähnliches Westimportprodukt zu sein wie das weitgehend westdeutsche Warenangebot in den nach Osten verlängerten Handelsketten, mit dem Eigenständiges und hier Entstehendes oft bewußt oder unbewußt blockiert wurde.“6
Nach der vollzogenen Vereinigung und der Wiederentstehung der Länder auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wurden diese Überlegungen vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg (MBJS) fortgeführt. Unter der ersten Bildungsministerin Marianne Birthler (Bündnis ´90), die durch ihren Beruf als Katechetin mit kirchlicher Bildungsarbeit vertraut war, entstand ein Konzept für ein Schulfach LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religion) in Brandenburg, wobei für die Ministerin „eine Beteiligung der Kirchen und Religionsgemeinschaften durch Einbeziehung der Kompetenzen ihrer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter selbstverständlich“7 war. Die Wurzeln von LER liegen damit keineswegs in einem kirchenfeindlichen Milieu, das es darauf angelegt hätte, Religion aus der Gesellschaft und der Schule zu drängen. Im Gegenteil saß an entscheidender Stelle eine frühere Mitarbeiterin der evangelischen Kirche. Nicht als Mitarbeiterin der Kirche, doch auch nicht gegen die Kirchen.
Marianne Birthler setzte deshalb auf einen Neuanfang in besonderer Art und Weise. Während sich im westdeutschen Modell von RU die teilnehmenden Schüler in eine evangelische und eine katholische Gruppe teilen und die nicht-teilnehmenden in der Regel Ethik-Unterricht besuchen, sollte diese Aufspaltung im Brandenburger Modell vermieden werden.
„Kernpunkt von LER war von Beginn an der gemeinsame Unterricht für alle Kinder, an dessen Konzeption und Gestaltung allerdings die Kirchen und andere Weltanschauungsgemeinschaften beteiligt sind.“8
Um herauszufinden, warum dieser Ansatz nicht bis zum Schluß durchgehalten wurde, muß die Geschichte von LER von der Entwicklung bis heute näher betrachtet werden.
Die einzelnen Phasen von LER
Die Geschichte von LER läßt sich in fünf Entwicklungsphasen einteilen. Diese Gliederung beruht auf einer detaillierten Chronologie, die sich im Anhang findet.
- Die Vorbereitungsphase von der Koalitionsvereinbarung nach der ersten Brandenburger Landtagswahl im November 1990 bis zum Beginn des Modellversuchs im August 1992.
- Der Modellversuch LER als Lebensgestaltung-Ethik-Religion von August 1992 bis Juli
1995.
- LER als Schulversuch im Schuljahr 1995/96
- Einführung von LER als reguläres Schulfach im August 1996.
- Ausweitung von LER und erprobung an der Grundschule.
Diese Gliederung beruht auf dem äußerlichen Merkmal des Voranschreitens von LER. Die einzelnen Phasen sollen nunmehr binnendifferenziert und im einzelnen nachvollzogen werden.
Die Vorbereitungsphase
Die politischen Entscheidungsträger manifestierten ihren Willen, einen Unterricht in „Religions- und Lebenskunde“ für alle Schüler einzuführen. Dies sollte das Recht der Kirchen unbeschadet lassen, RU in eigener Verantwortung anzubieten. Dies korrespondierte mit den Ansichten der Ministerin Birthler, die auf ihrer Biographie beruhen.
„Aus meiner DDR-Erfahrung stammte die Überzeugung, daß es gut ist, wenn christliche Unterweisung von Kindern, also Glauben-Lernen und In-der-Gemeinde-leben-lernen in der Gemeinde stattfindet. Die christliche Gemeinde (und nicht die Schule) als Ort christlicher Sozialisation - für uns in der DDR war das eine Selbstverständlichkeit und eine wichtige Aufgabe für die Kirchengemeinden.“9
Im Jahre 1994, also nach Beginn des LER-Modellversuchs, kam auch die EKiBB zu einer dem entsprechenden Beschlußfassung. In dem Papier „Der Bildungsauftrag der Kirche und ihre Mitverantwortung im Öffentlichen Bildungswesen“ heißt es „Der Bildungsauftrag der Kirche hat seinen ersten Ort in der Gemeinde“ und erst „seinen dritten Ort in allen öffentlichen Bildungsinstitutionen.“10 Dabei ist die Kirchenleitung der Auffassung:
„Für viele Schülerinnen und Schüler ist dieser dritte Ort des Bildungsauftrags der Kirche faktisch der erste, vielleicht sogar der einzige Ort der Begegnung mit Inhalten des christlichen Glaubens.“11
Dabei übersieht die EkiBB allerdings, daß in den RU in aller Regel nur getaufte Kinder kommen, die ohnehin schon religiös sozialisiert sind und fällt damit hinter eine Erkenntnis zurück, die seinerzeit das MBJS bewogen hatte Kompromisse einzugehen, um den Kirchen die Beteiligung am Modellversuch zu ermöglichen:
„Ein Ethikunterricht neben dem ‚klassischen‘ Religionsunterricht hätte unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen zweifellos zur Folge, daß - ähnlich wie in der Vergangenheit
- die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen keine Begegnungsmöglichkeiten mit den Religionen erhielten, die unsere Kultur geprägt haben.“12
Die EkiBB, die bezüglich des RU eine andere Rechtsauffassung vertrat als das MBJS, erklärte sich erst im Monat vor dem Start von LER zur Mitwirkung am Modellversuch bereit, nachdem sie Regelungen durchgesetzt hatte, die „allein dem Ziel [dienten], den Beginn des Evangelischen Religionsunterrichts und die Mitwirkung der Kirche im Modellversuch an Schulen im Land Brandenburg zu ermöglichen.“13 Hierzu zählt insbesondere die Festlegung, „daß der Unterricht im Modellversuch in Intergrationsphasen und Differenzierungsphasen von etwa jeweils gleichem Umfang gegliedert wird.“14
Damit hatte die EKiBB erreicht, daß zumindest in 28 Prozent eines Schuljahres RU in Brandenburg nach Art. 7 III GG erteilt wird, da in der Differenzierungsphase Religion und Lebensgestaltung/Ethik als ordentliche und damit verpflichtende Lehrfächer eingeführt werden.
Dies war eine bedeutende Veränderung des ursprünglich vom MBJS ausgearbeiteten Konzepts. RU war in Brandenburg in voll inhaltlich-juristischem, aber zeitlich reduziertem Umfang auf den Stundenplan gelangt. Das Agieren der EKiBB offenbart ein Drängen dahingehend, RU nach Art. 7 GG zu installieren, bzw. für eine spätere Einführung „einen Fuß in die Tür“ zu bekommen. Das MBJS läßt eine großes Maß an Flexibilität erkennen, um der EKiBB Brücken für die Teilnahme am Modellversuch zu bauen. Dies scheint geleitet von der Erkenntnis, daß sich zwar nur sehr wenige Menschen in Brandenburg noch zur christlichen Religion bekennen, aber gerade für die Kirchenfernen ein Kontakt mit den Vorstellungen und Traditionen des Christentums in unserer Zivilisation unerläßlich ist.
Der Modellversuch
In einem dreijährigen Modellversuch wurde das neue Unterrichtsfach erprobt. Dabei wurden die Bereiche Lebensgestaltung, Ethik und Religion in der Integrationsphase im Themenverbund unterrichtet. In der Differenzierungsphase konnten die Schüler dann wählen
für dieöffentliche Diskussion. Potsdam, p. 4.
[...]
1 Pr é ambule de la Constitution du 27 octobre 1946: „L’organisation de l’enseignement public gratuit et laïqueàtous les degrés est un devoir de l’État.“
2 Im vollen Bewußtsein, daß sich die Schüler (mindestens) zur Hälfte aus Schülerinnen zusammensetzen, beschränkt sich der Verfasser von nun ab ausschließlich aufgrund der stilistisch leichteren Lesbarkeit auf den Terminus „Schüler“, wobei dem Leser, der Leserin empfohlen wird, ebenso wie das der Verfasser tut, die weibliche Form in Gedanken selbst zu ergänzen.
3 Konkret das einer Fächergruppe mit mehreren ordentlichen Lehrfächern, also RU und Ethik, Pilosophie etc.
4 Jürgen Lott (1998) Wie hast du ’ s mit der Religion? Gütersloh: GTB, p. 121.
5 Lott, 121.
6 Roland Degen, Götz Doyé [Hg.] (1995) Bildungsverantwortung der Evangelischen Kirche in Ostdeutschland. Grundsatztexte, Entwicklungen, Kommentare. Berlin, p. 15.
7 Lott, 123.
8 Marianne Birthler „Antwort auf Fragen von Richard Schröder. Die Frage desWerteunterrichts im Rahmen der heutigen multikulturellen Demokratien.“ In: Brigitte Sauzay, Rudolf von Thadden [Hg. ](1999) Eine Welt ohne Gott?: Religion und Ethik in Staat, Schule und Gesellschaft. Göttingen, 173.
9 Birthler, 70.
10 URL http://www.EKiBB.com/info/misc/bildung.htm (4.03.2000).
11 Ibid.
12 MBJS (1991) Gemeinsam leben lernen: Modellversuch des Landes Brandenburg zu einem neuen Lernbereich und Unterrichtsfach ‚ Lebensgestaltung-Ethik-Religion ‘ - Grundsatzpapier
13 Zit. nach „Abschlußbericht zum Modellversuch ‚Lernbereich Lebensgestaltung-Ethik- Religion.“ In: EKiBB [Hg.] (1995) Dokumentation : Religionsunterricht und LER im Land Brandenburg (Stand: 30.11.1995) Berlin, 55.
14 Ibid.