Die erkenntnistheoretische Masterarbeit untersucht die kognitionstheoretischen Gründe und die Kontinuität der Weiterverbreitung von Vorurteilen. Das Phänomen Angst kennzeichnet die mangelnde Fähigkeit komplexe, differenzierte Kategorien des Denkens zu bilden. Die psychologischen und sozial-psychologischen Ursachen werden nicht allein der soziologisch begründeten „anerzogenen Dummheit“ (Mitscherlich, 1969) zugeschrieben, sondern explizit der unterentwickelten personalen Intelligenz, die mit der Ängstlichkeit korreliert und somit den Nährboden für vorurteilsbehaftetes Denken der gesellschaftlichen Majorität ergibt.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit stellt ein Denkmuster dar, das unterschiedlich gefüllt sein kann. Dehumanisierung bis hin zur Elimination sind die Formen einer distanzierenden Verweigerung von Identifikation.
Die Intersektorale Vorurteilsforschung stellt, als ein aktuelles Beispiel der Queer- u. Gendertheorie, dar, dass diskriminierende Zuschreibungen mehrdimensional sind und auch innerhalb von Gruppenhierarchien latent oder offen gelebt werden. Daneben werden Tokeneffekte sichtbar. Diese sozialen Konkretionen des vorurteilsbehafteten Denkens lassen kaum Revisionsmöglichkeiten zu. Bipolare Zuschreibungen bestätigen und reproduzieren die tradierten Vorurteile.
Vorurteile sind immer auch mit Ressourcenverteilung, z.B. am Arbeitsmarkt, verkoppelt und so ist auch die fakultative Medizin nicht frei von Angst und Machtgefügen. Nicht-öffentliche Finanzierung und Rationalisierung führen zur sozialen Normierung. Daneben sind benevolente Vorurteile in der Pflege von Menschen mit einer Behinderung traditionell vorhanden, sie adeln die Helfenden, darin liegt ihre primäre gesellschaftliche Funktion.
Mit Canguilhems Dissertation, Versuch über einige Probleme, das Normale und das Pathologische betreffend von 1943, wird ein Perspektivwechsel möglich, der dem Selbstverständnis von Menschen mit einer Behinderung als gleichwertige Menschen entspricht. Während die Medizin-Philosophie den ideengeschichtlich verankerten Gesundheitsbegriff aus seiner starr monistischen Bipolarität löst, hin zu einem komplementären Modell des Pathologischen, erlaubt auch die exemplarisch durchgeführte theologische Interpretation des Alten und Neuen Testaments diese Sicht: Die sozialen Hierarchisierungen zu überwinden.
Inhaltsverzeichnis
Teichoskopisches Vorwort
Zu Inhalt, Aufbau und Methode dieser Arbeit
Exposition: - Vorurteilsmuster nach Horkheimer
- Selbstportrait durch Andere
- Das wissenschaftstheoretische Konstrukt „Behinderung“ im historischen Abriss
- Zum Begriff des „normalen“ bei Canguilhem
I. Individualität Psychologische Betrachtung: Angst, der Nährboden für Vorurteile
I.1 Fremd ist Feind
I.2 Pathologie der Vermeidung
I.3 Lernen als gesunde Auseinandersetzung Konditionierung, Erziehung oder Erkenntnisfähigkeit des Menschen?
II. Identifikation Psycho-soziologische Betrachtung: nicht-reflektierte, tradierte Vorurteile in Gruppen
II.1 Vermeidung, Aggression und exklusive Dehumanisierung
II.2 Im Konfliktfall: Tokenism vs. Identifikation
II.3 Soziale Konkretion statt Revision
Quod erat demonstrandum
Wissenschaftskritischer Exkurs: Objektivität – Das Individuum als Objekt der Professionalisierung in der Medizin und Pflege
III. Responsivität Katharsis: Philosophische Kritik
III.1 Kurze Chronologie der ideengeschichtlichen Verflechtungen der Begriffe von gesund, normal, und pathologisch innerhalb der fakultativen Medizin seit der Moderne
III.3 Canguilhems Begriff der „Heilung“
Theologischer Epilog
Die Téchne der Moral vs. die Logik der Ethik
- Beispiele der Thora
- Beispiel des Neuen Testaments
Quellenangaben
Aphorismen / verwendete Literatur
Anmerkungen
Teichoskopisches Vorwort
Der Alltag von Menschen mit einer Behinderung ist gekennzeichnet durch diskriminierende Exklusion.[1] Dies gilt insbesondere, wenn sie versuchen ein eigenständiges Leben in freier Wildbahn, außerhalb der Pflegeeinrichtungen und Heime, zu führen; und so hätte ich dieser Arbeit auch den Titel „Die drei Formen der Dummheit: Dummheit, Ignoranz und Überheblichkeit“ geben können. Die einfache Dummheit ist die Unfähigkeit zu lernen, Ignoranz der Unwille, dies zu tun, und die Überheblichkeit schließlich das mangelnde Bewusstsein der eigenen Beschränktheit.
In den vergangenen 20 Jahren hat die Behinderten-Emanzipationsbewegung[2] vieles bewegt: Wir konnten mit der Grundgesetzänderung[3] die rechtliche Anerkennung als Menschen erreichen. Menschen mit einer Schwerbehinderung, so nun die politisch-korrekte Bezeichnung, besitzen ihre eigene Vertretung, ihr Sprachrohr, sie gründeten Beratungsstellen, haben ihre eigenen Zeitschriften, geben eigene Bewerbungstrainings, haben eigene Psychologen/innen, Rechtsanwälte/innen, eigene Pflege- und Assistenzdienste, sind national und international sehr gut vernetzt. Sie spenden und organisieren Rampen für Geschäfte in der Innenstadt[4] und sie lösen sich zunehmend aus der fürsorglichen Umklammerung der Sondereinrichtungen über die budgetierte „persönliche Assistenz“, die anfangs noch jede(r) einzeln für sich erstreiten musste, für die heute ein Rechtsanspruch besteht. Und für die Zukunft am wichtigsten, konnten sie erreichen, dass Kindern mit einer Schwerbehinderung der Zugang zu „normalen“ Schulen nicht mehr verwehrt werden kann, denn nur so, durch die Begegnung, können mittelfristig Vorurteile abgebaut und langfristig eine Bewusstseinsänderung in der Gesellschaft erreicht werden. Dies und vieles mehr zumeist aus eigener Kraft, mit eigenen Mitteln.
Die bundesdeutsche Behindertenbewegung hat von Anfang an im Konsens der einzelnen Gruppen vor Ort entschieden, dass wir uns nicht über Leistung profilieren wollen, für ein bisschen Anerkennung und womöglich die Chance auf einen bezahlten Job, damit diejenigen von uns, denen dieser Weg versperrt ist (aufgrund ihrer Behinderung), nicht außen vor bleiben; es wäre sonst zu leicht, sie komplett auszubooten, d.h. ihnen letztendlich das Recht auf Leben abzusprechen.[5] Ich nenne dies das Mendelsohn-Problem: Die, die konvertieren, dürfen bleiben und sparen die Sonder-Kopfsteuer, und die, die das nicht wollen oder aus irgendeinem Grund nicht können, was passiert mit denen? Sie verlieren jedwede Legitimation.[6] Die aktiven Menschen mit einer Schwerbehinderung haben das ganz bewusst gesehen und entschieden, dass wir alle Menschen sind – egal, ob ein bisschen mehr oder weniger „geistig behindert“.
Mit der Grundgesetzänderung[7] wurde der rechtliche Rahmen gesteckt, der im sozialen Umfeld gefüllt werden muss. Dies betrifft primär helfende und unterstützende Personen, und veranlasst (durch die UN-Aufforderung von 2008[8] ) auch die Einrichtungen selbst, die MitarbeiterInnen der Einrichtungen und ihre Führungen, die Inklusionsbestrebungen der Behinderten- Emanzipationsbewegung zu befördern, denn hier beschränken sich die Aktivitäten bislang immer noch grundsätzlich darauf, uns kompatibel zu machen, was allgemein als „defizitfokussierende Sichtweise“ beschrieben wird. Wissen um die alltäglichen Auseinandersetzungen und ihre Ursachen soll deren Arbeit erleichtern. Die soziale Konfrontation bedeutet Gewalt an Menschen mit einer Behinderung[9]. Sie ist begründet in den Machtverhältnissen und in der Anthropologie einer oberflächlich zivilisierten Gesellschaft. Die Gewalt besteht in den repressiven gesellschaftlichen Strukturen, deren brutale Auswüchse zu den ganz alltäglichen Lebenserfahrungen von Menschen mit einer Schwerbehinderung gehören: der Ausgrenzung. Begründet wird sie, die Exklusion, mit vorgeschobenen, pseudorationalen Argumenten und Sachzwängen, die auf Leistung bzw. Unfähigkeit und finanzielle Gründe rekurrieren. Dass dies nur scheinbare Gründe sind, belegt beispielsweise der signifikant bessere Bildung- u. Ausbildungsstand arbeitsloser Menschen mit Behinderung im Vergleich zu denen ohne Behinderung[10], oder die allgemeine Beschäftigungsquote oder die Lebenssituation von Frauen, die intersektoral betroffen sind.[11] Bezeichnend ist, dass die breite Öffentlichkeit keinerlei Verständnis hat für die Belange von Menschen mit einer Behinderung – verwunderlich ist es nicht, denn es verhält sich analog zu der exklusiven gesellschaftlichen Stellung, die wir innehaben. Der gesellschaftlichen Gewalt in ihrer realen Konkretion, der Exklusion, der Isolation von der Teilhabe am öffentlichen Leben, fehlt in einem demokratischen Rechtsstaat jedoch die Legitimation, denn der sinnlich wahrgenommene Unterschied ist kein kategorialer: Solches wäre bei Leibeigenen vs. Freien der Fall, oder bei unmündig gehaltenen Frauen[12]. Doch die Ungleichheit beruht auf Zufall, seien es äußerliche Umstände oder individuell gegebene Qualitäten (z.B. der IQ) und ist deswegen nur ein gradueller, was nichts anderes bedeutet, als dass wir alle „Menschen“ sind. Es geht bei der Behinderten-Emanzipations-Bewegung also keineswegs um die Nivellierung von sinnlich-wahrnehmbaren Unterschieden, sondern um ein menschenwürdiges Leben, was Entfaltungsmöglichkeiten und Partizipation an materiellen und immateriellen Gütern beinhaltet. So geht es in dieser Arbeit darum, die bestehenden Gründe aufzudecken, von denen die wesentlichen Formen vorurteilsbehafteten Denkens und Handelns abhängen.
Die hohe Resilienz[13] von Menschen mit einer Schwerbehinderung resultiert aus den Alltagserfahrungen; wir haben zahlreiche Schutz- und Bewältigungsstrategien erlernt, sind in hohem Maße stress- und mobbing[i]-resistent – zwangsläufig![14] Eigene, behinderte Psychologinnen und Psychologen wissen um die Ängste und Vorurteile der Umwelt und erklären sie den Ratsuchenden, damit sie sie in ihrem Alltag besser handeln können, indem sie sich über die oktroyierte Opferrolle hinwegsetzen.
Dieses Wissen um die gesellschaftliche Gewalt gegenüber Menschen mit einer Schwerbehinderung, kann auch für die qualifizierten, nicht-behinderten Inklusionsbegleiter (Pflegepersonal) nutzen. Eigenverantwortung und die Verantwortung für die betreuten Personen heißt, die soziale Gewalt zu mildern, indem der Isolation vom öffentlichen Leben entgegengewirkt wird. Es besteht die „Chance für einen Wechsel der Blickrichtung, der den Menschen nicht bei seinen Defiziten behaftet, sondern trotz seiner Bedürftigkeit wahr- und ernst nimmt.“[15]
Der Begriff Isolation mag verwundern, doch ohne Arbeit kein Geld, d.h. kaum Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben. Der Ausdruck Gewalt mag übertrieben klingen, doch alltägliche Diskriminierung ist brutal, macht mürbe. Es mag kaum nachvollziehbar sein, dass wir Behinderung als gesellschaftliches Konstrukt bezeichnen, doch ist es, so die Absicht dieses Vorwortes, dem Verstand etwas näher gekommen, für die, die diese gesellschaftliche Realität nicht aus eigener Erfahrung kennen. Für die nun folgende Arbeit werde ich mich bemühen, dem Phänomen nach wissenschaftlichen Kriterien und sachlich auf den Grund zu gehen – doch ohne meine Identität zu verbergen.
Mein besonderer Dank gilt allen BiBeZ-Frauen, ohne die ich nie so weit gekommen wäre, und meiner Mutter.
Zu Inhalt, Aufbau und Methode dieser Arbeit
Horkheimers Reden zum Thema Vorurteile – zusammen mit Adorno, Fromm et. al. betrugen die empirischen Untersuchungen immerhin fast 30 Jahre Feldforschung, sodass eigentlich alles gesagt ist - bilden den Ausgangspunkt zu meiner erkenntnistheoretischen Vorurteilstheorie. Ich gehe dabei davon aus, dass
I. personale Ängste der Nährboden für Vorurteile sind,
II. die verweigerte Identifikation mit dem Anderen, die als Vermeidungsstrategie zu verstehen ist, neben der Aggression im situativen Konfliktfall, also dann, wenn Vermeidung unmöglich erscheint, zur konkreten Umweltgestaltung führt. Im Umfeld dieser Konkretionen ist eine Revision kaum noch möglich, zumal dafür die persönlichen Anreize fehlen. Die direkte Folge ist Exklusion.
In Anlehnung an Canguilhems Begriff einer pathologischen Heilung folgt daraus in Kapitel III dieser Arbeit, dass die verweigerte Identifikation von „normalen Menschen“ mit solchen, die sich unterscheiden, bei Ersteren von einem pathologischen Bewusstsein zeugt.
Entsprechend sind die Kapitel eingeteilt.
Die multidisziplinäre Argumentation entspricht einer erkenntnistheoretischen Beweisführung, die auch die professionelle Rationalisierung und Objektivierung im Rahmen einer Wissenschaftskritik untersucht. Der pseudowissenschaftliche Umgang mit Minderheiten stellt sich im Spannungsfeld zwischen normativem Objekt und Subjekt, zwischen Unterschied und Identität dar. Die Ich-Identität erscheint in den Kapiteln I und II als das selbstbewusste Subjekt, welches ein gesundes Bewusstsein trägt – und nur so zu einer Identifikation mit dem Anderen überhaupt fähig ist. Anders gesagt: Wer sein Ego allein über das „Wir-Gefühl“, die sinnlich wahrnehmbare Gleichheit zur Norm, definiert, ist nicht dazu in der Lage, einen „gemeinsamen Nenner“, das Verbindende zwischen verschiedenen Menschen, zu sehen – weil das Ego, das Selbstbild und Selbstwertgefühl sonst nicht mehr aufrecht erhalten bleibt. Diese Borniertheit ist Ausdruck eines unreflektierten, pathologischen Bewusstseins und ist kennzeichnend für die Intoleranz des Vor-Urteils[16]. Es ist der Widerspruch zum (eigen-)verantwortlichen Subjekt, bzw. Individuum, das unter dem Canguilhems Begriff der Responsivität in Kapitel III eingeführt wird.
Abschließend soll mit dem theologischen Epilog eine andere, menschliche Sichtweise möglich werden, wie die narrativen Geschichten und Gleichnisse der Bibel dies offerieren. Denn: Vernunft ist nicht Ratio alleine, sie setzt die Emotio und die Sinnlichkeit voraus, Wissenschaft ist nicht Welt, sie ist eine Sichtweise, die uns hilft, die Welt und den Anderen besser zu verstehen, wie Wahrheit nicht mit Wirklichkeit gleichzusetzen ist. Ich werde hierzu chronologisch vorgehen und zuerst exemplarische Stellen des Alten Testaments, der Thora, anführen und darauf ein Beispiel des Neuen Testaments.
Wenn das Individuum (Kap. I) im Fokus der Untersuchung steht, stellt sich die Frage nach den kognitiven Prozessen, die bei manchen Menschen zu vorurteilsvollem Denken und Handeln führen. Es sind dies universale, einfach strukturierte Formierungen des Denkens, die gleichwohl nicht im isolierten Raum entstehen, sondern im Austausch mit der sozialen Umwelt. Das Denken des Individuums wird von seiner Umgebung beeinflusst – der Grad an Autonomie dabei ist vom Intellekt abhängig.
Wenn machtstrukturelle Vorurteile (Kapitel II), also solche, die sich auf ein Abweichen von der Majorität beziehen, Muster sind, die unterschiedlich gefüllt werden können, sodass das Ausgrenzungsmerkmal austauschbar ist, wovon ich ausgehe, dann stellt sich die Frage, warum ich gerade Menschen mit einer Schwerbehinderung als abweichende Minderheit ausgewählt habe. Ich tat dies, weil wir in besonders offenkundiger Weise Ängste provozieren. Gerade wenn die Behinderung sichtbar ist, dienen wir als Projektionsfläche für die missliebigen Vorstellungen von Krankheit, Unfall und Tod. Dies sind die Ängste, von denen sich kein Mensch je gänzlich befreien kann, weil niemand gegen sie gefeit ist. Folglich werden die Angstreaktionen[17] hier besonders deutlich, was jedoch Ängste vor Fremdem nicht ausschließt. Im Lateinischen sind fremd und feind der gleiche Begriff und immer, wenn sich eine Differenz zeigt, verlangt dies eine Auseinandersetzung vom Individuum. Die notwendige Neupositionierung ist ein gelungener Lernprozess – für sein Scheitern können zwei Fälle verantwortlich sein: die Unfähigkeit zu lernen oder der Unwille zu lernen. Die mangelnde Motivation kennenzulernen, spiegelt die eigene Angst vor Veränderung und möglicherweise auch vor Vergänglichkeit bzw. die Unfähigkeit mit ihr umzugehen. Sie lässt sich als kausale Pathogenese der Vermeidung und Verweigerung der Identifikation bezeichnen; Sie macht die Akzeptanz von Unterschieden unmöglich. In beiden Fällen findet keine Verinnerlichung des Neuen, des Fremden statt, die ein ausgleichendes Gegengewicht zur Differenz eröffnen könnte und keine Erweiterung des Selbst.
Exposition: Vorurteilsmuster nach Horkheimer
Ein Vorurteil oder „verhärtetes Urteil“[18] ist nach Horkheimer ein Urteil, das zu rasch gefällt wurde, d.h. nicht belegt und dennoch generalisiert. Dergestalt übertragen auf „Kategorien“ von Leuten entspricht es einem Klischee, Stereotyp oder wird schlicht zum Gemeinplatz.[19] Es zeigt sich als verallgemeinerte Antipathie, soziale Benachteiligung, auf schwächere Gruppen gerichteter Hass, organisierte Verfolgung, bis hin zu entfesselter Mordlust.[20]
Als Ursache von Vorurteilen steht zuerst die Eigenliebe, das Bedürfnis nach Prestige i.S.v. positiven Vorurteilen über sich selbst, also dem Selbstbild, das auch nach außen vermittelt werden soll und schließlich die Machtgier, der Neid und die Grausamkeit.[21] Es erfüllt primär irrationale Funktionen beim Urteilenden, was bedeutet, dass eben nicht die angeführten Gründe zur vorurteilsbehafteten Haltung geführt haben, sondern Affekte. Dadurch wird das Vorurteil immun gegen Argumente, die der Begründung entgegenstehen, weil die eigentlichen Momente ganz andere sind. Das Vorurteil kann also nie zu „…einem rationalen Ende…“ kommen und der affektive Drang wird nie wirklich befriedigt oder verarbeitet.[22]
Das Vorurteil ist attraktiv, „…weil es dem Subjekt gestattet, schlecht zu sein und sich dabei für gut zu halten“[23], denn der äußerlich rationale Grund spiegelt in Wirklichkeit einen geheimen, verbotenen Wunsch.[24] Wahrheit und Wirklichkeit klaffen im vorgeblichen Selbstbild auseinander.
Zerstörerische Triebe und „…die Umstände des gesellschaftlichen Lebens treiben…“ zum Vorurteil, es sind demnach psychologische wie auch soziale Mechanismen im Spiel. Es sind Ablenkungsmanöver oder Verdrängungsmechanismen, denn wer das „…je gefundene Opfer [am lautesten F.V.] verhöhnt, […] den plagt die Schwäche, die er beim anderen findet, damit er sie bei sich besser vergessen kann.“[25] Der irrationale Hass bzw. die Aversion vergeht nicht, wenn der Grund weggefallen ist, er bleibt bestehen. Als Beispiel führt Horkheimer die Konkurrenzsituation an, die zu einer Entschärfung kommt, sobald der Konkurrent abgehängt ist; anders beim destruktiv-irrationalen Vorurteil.
Das destruktive Vorurteil – in Abgrenzung zum ursprünglich harmlosen Vorurteil, das auf einer „…früheren Erfahrung und Entscheidung“[26] beruhende Urteil, welches bewusst oder halbbewusst verallgemeinernde Aussagekraft für Alltagssituationen erfährt –, das verhärtete, zerstörerische Urteil also, von dem hier die Rede ist, stellt zwei Seiten einer Sache dar: Der Anstoß, das Ausgrenzungsmoment, ist ein Index der eigenen Verfasstheit, die abwertende Projektion verhält sich negativ reziprok zur Aufwertung der eigenen Person oder Gruppe, bzw. des Selbstbildes oder der kollektiven Identität.[27] Das derart „aufgeblähte Ich“[28], das vorzugsweise in einem Kollektiv aufgeht, degradiert den Einzelnen unter den Allgemeinbegriff, eliminiert geradezu sein autonomes Wesen, seine Identität und Persönlichkeit. „Er gehört [nun F.V.] zu einer niederen Gattung. Die Verfolgungen sind [nun F.V.] logische Konsequenzen.“[29]
Für diejenigen, die Vorurteile pflegen, sieht die Sache anders aus: „Je weniger sie ihr eigenes Subjekt infrage stellen, desto rascher sind sie bei der Hand, die anderen anzuklagen.“[30] Solche vorurteilsvollen, „autoritären Charaktere“ zeichnen sich aus durch:
- hierarchisches Denken
- Einteilung der Menschengruppen in Sorten od. Arten
- konservativ-anpasslerische Haltung
- Unfähigkeit, Fehler und Schuld bei sich selbst zu suchen
- opportunistische Anpassung an die jeweiligen Machtverhältnisse
Der Selbst-Erhalt, oder vielmehr das Bild, das sie gerne abgeben möchten, erfordert die situative Anpassung an die jeweiligen historischen, politischen und kulturellen Gegebenheiten, jedoch verhindern Angst und Projektion eine vernünftige Selbstreflexion, steigert sich ihr verhärtetes Urteil bis zum Fanatismus, der weder von logischen noch ethischen Argumenten durchdrungen werden kann – sonst, so die innere, irrationale Logik, drohte ja der existenzielle Selbstverlust.[31] Eigenverantwortlichkeit kennt der autoritäre Charakter nicht und er kann sie sich auch nicht leisten.
Der Gegenpol zum autoritären Charakter ist das Subjekt, das aufgeklärte Ich, das autonom denkt. Sein Urteil ist „...nicht starr, sondern sinnvoller Entfaltung fähig…“, es strebt nicht nach Macht, sondern nach fantasievoller Lust am eigenen Denken, eigener Entwicklung, die intrinsisch motiviert ist.[32]
Offenheit ist die Fähigkeit zur eigenen Erfahrung und zum Glück. Ein autonomes Gewissen und ein seiner selbst sicheres Ich zeichnen ein Subjekt aus, das überhaupt als selbstbewusstes Individuum gelten kann. Das nicht-selbstbewusste Ich, das nur sein verklärtes Selbstbild lebt, braucht eine übergroße Gruppe, mit der es sich zur Selbsterhöhung identifiziert und eine schwache Minorität, auf die es leicht und gefahrlos projizieren kann, um seine Ängste vor verbotenen Wünschen abzuwälzen.[33]
Bleibt die Frage, warum kommt es überhaupt zum Vorurteil, das dann auch noch tradiert, weitergegeben wird und zur konkreten, wenn auch aus der selektiven Wahrnehmung geborenen Umweltgestaltung wird? Horkheimers Antwort lautet: „weil es so schwer ist, die Zivilisation zu lernen.“[34] Denn das muss jede(r) Einzelne ganz für sich alleine leisten; das ist Arbeit, ist unbequem, ist Verstand. Vorurteile werden antrainiert, durch „vorurteilsbestimmende Handlungen“[35] ; das ist operante Konditionierung, ist auswendig lernen, ist funktionieren.
Nun, nach 45 können wir statt von Verfolgungen von Ausgrenzung und Gettoisierung sprechen, soweit wir nicht pränatal eliminiert werden. Und wer schon mal in Urlaub war, kennt vielleicht solche Sprüche wie „Alle Deutschen sind Nazi“ und wurde dadurch gezwungen sich selbst zu positionieren. Bezüglich „Behinderung“ ist das schon schwieriger, denn, so Horkheimer (angesichts der Kriegserfahrungen), „Wer möchte sich vor Schmerz, Verstümmelung und Tod nicht drücken.“ Wenn nun also weder rationale noch ethische Argumente greifen können, Argumentationen nur Schein sind, dann bedeutet dies für Menschen mit einer Schwerbehinderung auch, angesichts der bestehenden, oftmals latenten Vorurteile gegen sie, dass eine einseitige Veränderung i.S.v. Anpassung an die Norm oder Majorität sinnlos bleibt, auch wenn sie für einige von uns über Leistung zu erreichen wäre. Das erklärt auch das Scheitern der Sonder-Bildungseinrichtungen, die uns zwar Schul- und Studienabschlüsse und Berufsausbildungen gebracht hat, jedoch ohne nennenswerte Erfolge bei der Stellenvergabe auf dem Arbeitsmarkt generieren zu können. Behinderte Frauen sind „…von Armut bedroht…“.[36]
- Selbstportrait durch Andere
„Am 1. Dezember 1955 stieg eine gut aussehende Negerin, die Näherin Mrs. Rose Parks, im Hauptgeschäftsviertel von Montgomery in den Cleveland - Avenue - Bus.“[37] So lapidar fängt sie an, die Geschichte der amerikanischen Schwarzen-Bürgerrechtsbewegung, wenn es nicht vor 50 Jahren gewesen wäre, wenn es kein aufbegehrender Skandal gewesen wäre, dass Colored People für sich Rechte, gleiche Rechte und Jobs[38] in Anspruch nehmen wollten. Der Traum, dass Menschen nicht nach Äußerlichem, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden – wenigstens für die kommenden Generationen[39] - der sich immer noch nicht erfüllt hat (so wichtig ist es uns Menschen mit Schwerbehinderung, dass die Kinder in normale Schulen dürfen, damit sich etwas ändern kann. F.V.).
Ortswechsel: Der DFB (Deutsche Fußball Bund) gab 2013 zum Thema FUSSBALL UND HOMOSEXUALITÄT[40] eine 28-seitige Informationsbroschüre heraus – dass mensch schwarze Spieler nicht ausbuhen oder mit Gegenständen bewerfen darf, hatte sich schon etabliert. Der DFB erklärt seinen Fans, dass Fußball „Vielfalt“ (S. 20) ist und unterstützt das „Profi-Coming-Out“ (S.12) – Menschen können also vom Fußball etwas lernen.
Und wo sind wir? Irgendwo - nicht weit von Lavaters Physiognomik[41] des 18. Jhs Gesellschaftliche Veränderungen gehen langsam von statt. Auch die bundesdeutsche Behinderten-Emanzipationsbewegung, die seit weit über 20 Jahren aktiv ist, hat ihre Kämpferinnen (tatsächlich sind es vornehmlich Frauen) und ihre Heldinnen und Helden, „Superkrüppeltum“[42] mit Nobelpreis, als Top-Model, als Leistungssportler, und ganz normale, behinderte AktivistInnen.
Aber was macht die Gesellschaft mit dem <<schwarzen, jüdischen, transsexuellen RollstuhlfahrerIn << ? Er, respektive Sie, stellt ein intersektorales Problem dar, das sich auf Grund der Komplexität methodologisch nicht erfassen lässt – ebenso wenig wie Persönlichkeit. Die UN-Konvention, EU-Recht[ii] und bundesdeutsches Recht stellen klar, dass Frauen und Mädchen mit Behinderung einer mehrdimensionalen Behinderung ausgesetzt sind und fordert zugleich konkrete Maßnahmen von den Unterzeichnerländern. Anders als bislang, werden die Differenzkategorien nun als interdependent angesehen, d.h. Ausgrenzungsfaktoren addieren sich nicht einfach, sondern es kommt zu neuen, strukturell bedingten, spezifischen Formen von konkreter Diskriminierung, Segregation und Gewalt[43] bzw. gesellschaftlichen Privilegien und Verteilungsmechanismen immaterieller und materieller Ressourcen. Bipolare Zuschreibungen bestätigen und reproduzieren jedoch die tradierten Vorurteile. Der Mensch ist ein Augentier und so entscheidet die visuelle Evidenz, Mann – Frau, normal, was mit gesund gleichgesetzt wird – abnorm, jung – alt, was mit gebrechlich gleichgesetzt wird, über den Wert oder Unwert eines Menschen. Hingegen soll die Dekonstruktion kategorial-binärer Zuschreibungen problematisieren, z.B. Zweigeschlechtlichkeit oder sexuelle Orientierung, und die realen Effekte offenlegen, die historisch wie kulturell unterschiedlich ausgeformt sind, also gesellschaftliche Konstrukte darstellen. So komme ich ein letztes Mal auf Lavater zurück, dieser hatte in seiner Physiognomie (1772) den kleinwüchsigen, buckligen Moses Mendelssohn als einen „…von den Verständigsten, Geschmackvollesten, Geniereichsten…“[44] Männern erkannt – was heute eher undenkbar wäre.
Das wissenschaftstheoretische Konstrukt „Behinderung“ im historischen Abriss:
Das „individuelle/medizinische Modell“ betrachtet Behinderung als Defekt, der behoben werden muss – geht dies nicht oder nur unzureichend, bleiben Almosen. War das Individuum nicht gesellschaftskompatibel, ergaben sich als quasi-natürliche Konsequenzen: schlechte Bildung und Ausbildung, kaum Chancen auf bezahlte Arbeit, reduzierte Mobilität. Entsprechend wurde dem Individuum jedwede physische, kognitive und emotionale Fähigkeit abgesprochen[45] und es zum asexuellen Wesen[46] erklärt – damit ist der erste und entscheidende Schritt zur Dehumanisierung getan, denn für „Persönlichkeit“ bleibt hier nichts übrig. (Hierzu gehören bis 1992 auch ZwangssterilisationenViii.)
Mit den 70gern[iii] wurde unter der Parole: <<Man ist nicht behindert, man wird es.>> oder <<Behindern ist heilbar!>> das „soziale Modell “ von Behinderung angebahnt – vornehmlich in England. Im Fokus stehen Teilhabe, Anerkennung (von Leistung) und Respekt. Es trägt der Erkenntnis Rechnung, dass Behinderung gesellschaftlichen Prozessen und Wertungen unterliegt und ferner nicht die gesamte Person dominiert, sondern als ein anzunehmender Teil angesehen wird, der als wertvoll gelten kann, der als pathologisch gewertet wird. Sowohl die Gender- wie auch die Disability-Studies dividieren also Körper und Effekte, die allein aus dem gesellschaftlichen Konstrukt resultieren auseinander: Die Biologie ist Sex bzw. Impairment, sozial-historische Kultur (Menschengemachtes) ist Gender bzw. Disability/Abelism, d.h. „der Verlust oder die Beschränkung von Möglichkeiten, am Leben in der Gemeinschaft gleichberechtigt teilzunehmen aufgrund räumlicher und sozialer Barrieren.“[47] - Oder weil mensch sonst Nix mehr an uns verdient: Sozialamt wie auch die anderen Kostenträger spielen mit weitergeschobenen Zuständigkeiten ihre "kostensparenden" Verzögerungstaktiken meist jahrelang durch – in bester Einvernehmlichkeit mit den Einrichtungen.[48]
Disability und Gender, der Fokus bei beiden liegt nicht auf dem biologisch-medizinischen Körper oder Impairment (dies schließt den Geist, also organisch das Gehirn, mit ein), denn es ging den Pionierinnen der Behindertenbewegung um Identität, um weibliche Identität, um Persönlichkeit und Ganzheit – mit ihrer Schwerbehinderung, nicht trotz.[iv] Die Behinderung wurde als Teil der Identität und als identitätsstiftend[49] angesehen; so war es Voraussetzung für die Aufnahme in eine der Gruppen und Organisationen, dass mensch sich als „Behinderte“ empfand, diesen Teil annehmen wollte (identifiziert)[50] – unabhängig von Impairment, d.h. den tatsächlichen körperlichen Einschränkungen. Ferner wurden Diskriminierungen und Vorurteile nicht als Spezifikum in Bezug auf Behinderung angenommen, denn Ausgrenzung findet überall statt; so können grün gefärbte Haare oder damals noch Alleinerziehende ähnliche Reaktionen hervorrufen. Beispielhaft für diese Sichtweise steht das damals von uns viel propagierte „Universale Bauen“[51], das heute von vielen Gemeinden und Landesvertretungen unter Bezug auf den demografischen Wandel umgesetzt wird. Barrierefrei ist für alle gut, nicht nur für Rolli-FahrerInnen, egal ob mit Kinderwagen, Rollator oder voll bepacktem Fahrrad und drei kleinen Kindern, ohne Stufen geht es besser. „Behindert? – Na, ja und?“ zeigte, dass Behinderung nie als etwas Exklusives gesehen wurde, sondern neben anderen Ausgrenzungsfaktoren[52] Verhaltensmuster triggert[53]. Hier setzte die systemische Psychologie[54] an, die uns aus der Opferrolle beförderte, und die Behinderten-Emanzipations-Bewegung erkämpfte unsere Anerkennung als Menschen: Es war die Zeit der Grundgesetzänderung vor 20 Jahren. Diese Haltung des Disabelism war bis vor ca. 10 Jahren aktuell und sie findet mit anderen wissenschaftstheoretischen Ansätzen der Queer-Forschung, von Feminismus, Schwulen u. Lesben und sogenannten Behinderten, Eingang in den Intersektionalismus. Der Ansatz stammt ursprünglich aus den USA, der aktivistisch-akademischen Critical-Race-Theorie des Black Feminism[55], und hat mit den UN-Bestimmungen Eingang gefunden in die Bundesdeutsche Gesetzgebung[v].
Intersektionalität will nun diesen Dualismus von Impairment und Disability bzw. Sex und Gender überwinden. – Vielleicht ist dies auch nur eine Abwandlung des „ganzheitlichen“ Ansatzes von damals, der auch die Person als Ganzes sieht: Der ganze Mensch in seinem Lebenskontext mit der Betonung von Subjektivität und Individualität, gerne in Kombination mit der (neuerdings auch wieder aktuellen) Systemischen Verhaltenspsychologie. Jedenfalls können die Masterkategorien: Klasse, Geschlecht, Ethnizität, erweitert[56] werden, um ein komplexes Verständnis der Wechselwirkungen und Überschneidungen zu generieren. Dies erscheint sinnvoll, weil sich bei manchen Kombinationen unerwartete Mechanismen der Diskriminierung ergeben – auch innerhalb von Minoritäten und Gruppen.
Methodologisch ergeben sich jedoch Schwierigkeiten, diese Komplexität darzustellen – äußerst komplexe logische Strukturen auf der Grundlage von Kombinatorik sind notwendig, weil Bicodierung nicht ausreicht. Ferner müssen Zuordnungskategorien definiert werden, was eine alte Krux bedeutet – wieder Stereotypen, nur diesmal differenzierter, was jedoch noch nicht individueller bedeutet. Und schließlich sind Diskriminierungserfahrungen auch an die subjektive Wahrnehmung[57] geknüpft, also nicht objektiv; dennoch objektivierbar[58]: Wir sprechen von „Behindertenerfahrung“. Es sind nicht nur deutlich andere Perspektiven, ob mensch beispielsweise mit dem Fahrrad oder mit dem Auto fährt, sondern auch gänzlich andere Bedingungen, die herrschen. Die Wahrnehmungen und Erfahrungsmöglichkeiten unterscheiden sich z.B. was Wind und Wetter, Temperaturen und Gerüche angeht. Bei Zweirädern ist auch eine weitere physikalische Kraft im Spiel, die Zentrifugalkraft, die ein anderes Handling bedingt bzw. möglich macht. Deutlich anders, nicht nur wenn’s gerade regnet, ist das Gefahren- und Verletzungsrisiko. Das Auto umgibt seine Insassen schützend – mit dem Fahrrad ist bei jedem kleinen Unfall mit einem Sturz und also mit Verletzung zu rechnen. Daraus resultiert auch ein besonderer Umgang, nämlich seine Umgebung konzentriert und vorausschauend zu beobachten. Auch lässt sich mit den unterschiedlichen Medien/Fortbewegungsmitteln ganz unterschiedlich bremsen, was zu einer anderen Betrachtung der Umwelt zwingt i.S. der eigenverantwortlichen Unfallvermeidung. Vulnerabilität, die mehrdimensionale Verletzlichkeit – so zeigen die dargestellten Interdependenzen für Menschen mit einer Schwerbehinderung - ist subjektiv, situativ und abhängig von der Kultur. Sprüche und Situationen beinhalten unterschiedliche Bedeutung, werden auf der Grundlage der Alltagserfahrungen und des Wissens u.U. ganz anders erfahren, d.h. bewertet, je nach dem in welcher Kultur ein Mensch seine Wurzeln hat, ob Jude, also einhergehend mit der intensiven Auseinandersetzung mit dem Holocaust, seinen Gründen und „Begründungen“, seinen latenten Folgen und seinem Weiterleben in den Köpfen, ob als Mensch mit Behindertenerfahrung und eben dem Wissen um Ursachen, Folgen, Wechselwirkungen, Verstärkern und verhaltenspsychologischen Instrumenten zur Minderung und des Selbstschutzes. Interessant scheint mir angesichts der Tatsache, dass nun, nach 45 die ersten „alten“ Behinderten existieren, wie sie wohl mit der verschwindenden Selbstständigkeit umgehen werden, die mit dem Alterungsprozess natürlich auch Menschen mit einer Schwerbehinderung betreffen wird. Die Freiheiten, die sie sich mühsam erkämpft haben, wieder zu verlieren, wird sie eventuell ganz anders betreffen als andere alte Menschen. Empirische Untersuchungsergebnisse aus Österreich, Belgien, Bulgarien, Zypern, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Irland, Lettland, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden und der Schweiz machen deutlich, dass „…Behinderung einen signifikanten Einfluss auf das soziale Wohlbefinden in der dritten Lebensphase hat“. Die Analysen zeigen außerdem, dass die Benachteiligung älterer Menschen mit Behinderung über finanzielle Benachteiligung hinausgeht und multidimensional ist. Gleichzeitig gibt es jedoch kein Muster sozialer Benachteiligung, das sich über alle untersuchten Dimensionen erstreckt. Der Einfluss der Behinderung auf das soziale Wohlbefinden ist vielmehr von Indikator zu Indikator verschieden. Während die Unterschiede in der Bewertung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebenssituation sehr ausgeprägt sind, ist die Diskrepanz zwischen älteren Menschen mit und ohne Behinderung in den Kategorien des Umgangs miteinander und der sozialen Unterstützung eher gering. Innerhalb der Dimension der sozialen Kontakte und Aktivitäten zeigen sich nur[59] bei den Fragen nach der gesellschaftlichen Teilhabe deutliche Unterschiede.“[60]
Als letzter Kritikpunkt sei angeführt, dass allein die Effekte analysiert werden, die Ursachen hingegen außen vor bleiben.[61] Damit verbleibt die Intersektionalität im Phänomenologischen angesiedelt.
Ich will die Interdependenz der Ausgrenzungsfaktoren, bzw. Gewaltachsen an drei Beispielen veranschaulichen, zuerst die Kombination: weiblich und behindert, dann weiblich, behindert und schwarz, sodann Jungs mit einer Behinderung.
Erstes Beispiel:
„ Mein Körper gehört mir !“[62] – nachdem die einen erfolgreich für ihr Abtreibungsrecht gekämpft hatten, haben die anderen dafür gekämpft, ein Kind austragen zu dürfen. Die Praxis sah das nicht vor: Unabhängig von der Erblichkeit der Behinderung und unabhängig davon, wie gut oder auch nicht die Frau sich und wahrscheinlich ihr Kind hätte versorgen können, wurde grundsätzlich eine Abtreibung empfohlen.[vi] Damals, vor gut 20 Jahren, gab es solche „Kinderwagen für Rollis“, wie im Bild noch nicht, aber Tragetücher waren „in“ und später, wenn die Kleinen laufen konnten, nahmen die Frauen, auch blinde[63], sie an die Langlaufleine, um ihrer Fürsorge- und Aufsichtspflichten nachkommen zu können im öffentlichen Raum. Gleiche Parole, gleicher Anspruch, unterschiedliche Formen und unterschiedliche Begriffe von Selbstbestimmung.
Gemeinsam traf sie das Vorurteil der Unverantwortlichkeit, die Konstellation weiblich und behindert erklärte dies scheinbar selbstverständlich mit der unterstellten Unfähigkeit der Frauen – eine differenziertere Analyse wird von der intersektoralen Forschung angestrebt, sie definiert die Gewaltachsen weiblich, behindert mit dem zu erwartenden[64] Ergebnis: Frauen sind unverantwortlich, behinderte Frauen unfähig (physisch) und unmündig, weil sie das nicht einsehen wollen. Die inhaltlichen Zuschreibungen (Items od. Werte) müssen vorab z.B. mittels assoziationspsychologischer Begriffsanalyse experimentell ermittelt werden. Die Ausgrenzungsfaktoren (Kategorien), die als Linien bzw. Graphen dargestellt werden, und so Schnittpunkte oder Schnittmengen (intersections, engl.) ergeben, dürfen entweder als gleichwertig angesehen oder hierarchisch gewichtet werden: Beispielsweise beinhaltet die Zuschreibung von „behindert“ Asexualität und dominiert damit die kulturhistorisch begründete Zuschreibung von „irrational“ auf das weibliche Geschlecht. Die Hierarchisierung ermöglicht eine kulturspezifische Darstellung der Ausgrenzungsfaktoren bzw. Gewaltlinien[65].
Zweites Beispiel:
Schwarze Frauen haben als erste die Erfahrung gemacht und differenziert erfahren, dass sie innerhalb ihrer Gruppe von schwarzen Männern dominiert wurden, außerhalb von weißen Männern und Frauen und innerhalb der feministischen Gruppe von weißen Frauen – jeweils wurde die Person unter das Klischee subsumiert und der „Rest“ der Person ausgeblendet. Solche Erfahrungen zeigen die multiple Verwobenheit von verschiedenen Machtpositionen im Alltag:
1. auf der rassistischen Strukturebene: Dominanzmuster: Colored vs. Weiß, Rollenanforderung/Verhalten: erotisch-exotisches Objekt / unterwerfen.
Forderung: stillschweigend dienen.
2. die sexistische: Nicht-Rationalität infolge übersteigerter Emotionalität, Frauen, homosexuelle Frauen und Männer vs. heterosexuelle Männer: Rollenbeschreibung/Verhalten: Unverantwortlichkeit / bevormunden.
Forderung: verfügbar sein.
3. die dis/abelistische Ebene: Angst, behinderte oder kranke vs. nicht-behinderten und nicht-kranken Menschen, Rollenanforderung: Unfähigkeit, physisch, psychisch, emotional und sexuell / möglichst klein halten bis eliminieren.
Forderung: gefügig sein.[66]
Die Generalisierung, die meist negativ wertend ist[67], entspricht den kategorialen Typisierungen – die Verletzungen, die sie hervorbringt, sei es durch rassistische Beschimpfungen, machtgeile oder abwertende Blicke und Sprüche trifft dann allerdings die ganze Frau – nicht nur einen Teil ihrer selbst. Ich möchte an dieser Stelle noch erwähnen, dass überhöhte Zuschreibungen (z.B. Schwarze sind potenter, Juden intelligenter etc.) nach dem gleichen Zuschreibungsmuster Verlaufen, also genauso vorurteilsbehaftet sind, nur eben die positive Verdrehung darstellen.
Drittes Beispiel:
Jungen mit einer Schwerbehinderung können die gesellschaftlich geforderten Attribute, die über die Medien verbreitet werden, nicht einlösen, haben jedoch im Unterschied zu Mädchen mit einer Behinderung die Möglichkeit sich schulisch über Intelligenz und beruflich durch die Übernahme einer aktiven Rolle teilweise der tradierten Männerrolle anzunähern, d.h. die Behinderung teilweise wettzumachen.[68]
Ich hätte lieber blonde Haare .
Gerade innerhalb der Rehasysteme und deutlich auf dem Arbeitsmarkt werden Mädchen und Frauen in besonderem Maße benachteiligt, bzw. wird ihnen Leistung nicht angerechnet.[69] Das multifaktorielle Zusammenwirken von biologischen Gegebenheiten, individuellen Entwicklungsbedingungen und soziokultureller Tradition bewirkt Bild und Selbst-Bild – unabhängig von der individuellen Selbstbeschreibung. Die Gewichtung, z.B. der eigenen Behinderung, divergiert deutlich bei Selbst- und Fremdzuschreibung.[70]
„be young, be wild, behindert!“ Was Menschen mit Schwerbehinderung sich wünschen[71]:
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Die grundlegenden Rechtsnormen[72] sind längst da, die soziale Utopie verlangt seither nach Maßnahmen zur Umsetzung: Forschungs-, Sensibilisierungs-, Informations- und Aufklärungsprojekte.
Der Intersektionalismus deckt kategoriale Zusammenhänge[73] der sozialen Wirklichkeit auf. Empirische Studien zu unterschiedlichen Gruppen, bzw. den spezifischen Zuschreibungen (Antisemitismus, Heterosexismus etc.), zeigen auf, dass „…Individuen, die dazu neigen, Vorurteile gegenüber einer bestimmten sozialen Gruppe zu hegen, zugleich auch anderen Gruppen gegenüber voreingenommen sind. Das gilt sowohl gegenüber ähnlichen oder sich überschneidenden Gruppen (wie Einwanderern und Muslimen) als auch gegenüber sehr unterschiedlichen Gruppen wie zum Beispiel Menschen mit Behinderungen…“[74] Somit lässt sich von einem Vorurteilsmuster sprechen, das auf eine bestimmte Denkweise zurückzuführen ist, welche auch als „Syndrom gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet werden kann.[75]
Als Folge der ostentativ-abgewerteten Normabweichung bleibt Stigmatisierung, die sich auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt, und der faktische „Ausschluss von der völligen Teilhabe am gesellschaftlichen und ökonomischen Leben.“[76] Im „…vorherrschenden ökonomischen Zeitgeistes (…) bedeutet „Gesellschaft […] lediglich eine Summe von Individuen“ (…), die als Unternehmer, im Rahmen ihrer unternehmerischen Zielsetzung, miteinander in Kontakt treten. D.h. die Wechselseitigkeit zwischen den Individuen reduziert sich auf das Verschränken von Handlungen, die aufgrund der Marktdynamik jeweils am eigenen Erfolg orientiert, initiiert werden. Dieses ökonomisch geprägte Verständnis von Gesellschaft verändert das Rollenverständnis zwischen Gesellschaft und Individuum und somit auch das zwischen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und Individuum.[77] Die identitätsstiftende Behindertenerfahrung prägt auch das Bewusstsein von Menschen mit einer Schwerbehinderung: Mangelnde Anerkennung befördert die intrinsische Motivation und die Resilienz[78] in besondere Weise, m.E. unaufholbar für Menschen, denen derartige Erfahrung fehlt, sogenannten „Normalos“[79], die sich darauf ausruhen können „normal“ zu sein – was immer das heißt: durchschnittlich, gewöhnlich, gemein, mittelmäßig, unauffällig, uninteressant, vulgär – und sich dabei als überlegen empfinden, zumeist völlig unreflektierter Weise. Angesichts der Etappen der Behindertenbewegung ist auch nachvollziehbar, warum mitleidsbekundende Moral-Appelle als pietätlos und pseudotolerant zu werten sind, weil sie in Wirklichkeit auf distanzierende Minderwertigkeit rekurrieren. Mensch sein genügt! Ich meine, so sollte es sein, aus juristischer Sicht und so müsste es auch für Christen sein, wenn sie Menschsein nicht auf Leistung, also einer schlussendlich monetären Messgröße, beziehen, denn:
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„Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.“
Zum Begriff des „Normalen“ bei Canguilhem
„Normal“ oder „der Norm entsprechend“ drückt im Alltagssprachlichen die Majorität aus – anders in der Medizin und deren verwandten Disziplinen, der Psychologie etwa. Hier bedeutet normal das Gegenstück zum Pathologischen. Normal könnte also mit „gesund“ übersetzt werden – doch damit fangen die definitorischen Probleme erst an.
Gesundheit, aus medizinischer Sicht, ist objektivierbar i.S. der Funktionstest und Einzelergebnisse einzelner Organe. Die quantitative Bewertungsskala obliegt statistischen Durchschnittswerten; bewertet aber nie den ganzen Körper. In Ermangelung von objektivierbaren Anhaltspunkten für ein dys oder hyper schließt der Arzt zurück, nicht ohne die Selbsteinschätzung des Patienten, dessen subjektivem Gesundheitsempfinden, das dem Arzt als wesentlich gilt. Der subjektive Anteil, der das Gesundsein ausmacht, wird deutlich bei der psychosomatischen Medizin, aber auch bei der Immunabwehr oder der Vielzahl an aggressions- und stressbedingten Erkrankungen.
Gesundheit ist also ein umfänglicher Begriff, der quantitative und subjektive, qualitative Werte ausmacht. Somit werden diagnostische Behandlung und psychologische Fähigkeiten angesprochen. Die Homöostase, „die Fähigkeit mit seinen Schwierigkeiten selbst fertig zu werden“[80], fordert Selbstregulation wie Anpassungsfähigkeit in Verkoppelung mit der Umwelt, d.h. Gesundheit ist seit dem letzten Viertel des 19. Jhs. kein statischer Begriff mehr, vielmehr rekurriert das Gesundheitsbild, die Vorstellung von Gesundheit, die sich ideengeschichtlich selbst jeweils anpasst und wandelt, auf der Vorstellung von einem offenen, dynamischen System, ist also zwingend wandelbar, nicht statisch. Heilung, Genesung und schließlich das Wiedererlangen von Gesundheit, als der Fähigkeit des Individuums sich anzupassen, bedeutet also auch nicht in den Zustand vor der Krankheit zurückzukehren und steht dabei immer schon unter dem „Stigma des Verfalls“[81]. Leben ist ein Prozess des Niedergangs und die Gesundheit nach der Krankheit ist nicht die frühere Gesundheit. So ist es allein unlogisch einen Gegenbegriff, das Pathologische nämlich, als Fixum anzusehen. Gesundheit ist eine apriorische subjektive Wahrheit, deren qualitative Messgröße subjektiv und individuell bleibt. Die quantitativen, objektiven Werte einzelner Organe oder psychischer Fähigkeiten bilden gleichfalls keinen statischen Begriff von Gesundheit, sondern den statistischen Durchschnittswert dessen, was als normal angesehen wird. Nicht nur, dass diese Norm bereits anfänglich zum Scheitern verurteilt ist, stellt sie ein irreführendes Fixum dar, das gerade nicht als gesund zu bezeichnen ist, da Leben nach Homöostase, als Veränderung, und nach eigenverantwortlich aktiver Anpassung verlangt. Gesundheit ist demnach ein Lernprozess und kein logischer Wert.
Gesundheit wurde seit der Industrialisierung zu einem kollektiven Ideal, das den „einzigartigen Kranken“[82] verdrängt. Systematische Präventivmedizin, wie Impfungen, öffentliche Hygiene, das Antibiotikum bis hin zu den Erfolgen der Chemotherapie stützen durch ihr objektives Maß der statistischen Überlebensdauer scheinbar dieses Wunschbild; doch es trübt sich ein, angesichts der Erscheinung neuer Krankheiten und der Zunahme der Häufigkeit alter Krankheiten wie Krebs oder Allergien. Die sozialen und politischen Implikationen von Krankheit entspringen einem „…volkstümlichen Reflex des Erschreckens und der Abstoßung…“.[83] Krankheit bedeutet soziale Ausschließung und organische Auszehrung, selbst lange Zeit nach der Genesung haftet der „…Verdacht auf bleibende Schädlichkeit (...). Selbst nach der Kontrolle durch Labortests vollzog sich die Heilung nicht als Wiedereinbeziehung in die Existenz und (dies F.V.) eher durch die Angst vor Absonderung als durch die Einschränkung vitaler Fähigkeiten.“[84] Bei Krebserkrankungen sind solche „ängstlichen Reaktionen auf die Vorstellung, die das Umfeld der geheilten Person gehalten ist, sich von dieser Krankheit, die keine Gnade kennt, zu machen…“ als pathologische Heilung zu bezeichnen. Der ehedem kranken Person wird keine aktive Wiederaufnahme seiner sozialen Existenz gestattet. Oder aber die ehedem kranke Person verharrt nach der Gesundung in einer Schonhaltung, anstatt die neue Existenz mit ihren veränderten Bedingungen zu akzeptieren und konstruktiv zu nutzen, d.h. zu leben. Eine solche Vermeidung bezeichnet Canguilhem als pathologische Heilung. Sozialpolitisch ergaben sich seit dem 19. Jh. daraus Implikationen, die das Individuum wie auch die Allgemeinheit des „sozial normalisierten Lebens“[85] versichern soll, anstatt zu erklären, dass es normal ist, von dem Zeitpunkt an, da mensch lebt, krank zu werden. Ebenso, dass Gesundheit und Heilung in die Grenzen des Vermögens biologischer Regulation eingebunden sind. „…Lebewesen sind zu Veränderungen der Struktur oder Störung der Funktion fähig, die (…) besondere Aufgabe des Menschen [erfordert] das Lernen und die (aktive, therapeutisch selbstverantwortliche F.V.) Initiative in einer Umwelt (…) für die Ausübung des Lebens.“[86] Denn es ist eine „…Sache (…), die Gesundheit zu erhalten, die man zu verdienen glaubt, eine andere, die Gesundheit zu verdienen, die man sich verschafft.“ Die „Pädagogik müsste danach streben, beim Subjekt die Anerkennung der Tatsache zu erreichen, dass in Gegenwart und Zukunft keine Technik oder Institution die garantierte Integrität seiner Beziehungsvermögen zu den Menschen und den Dingen sicherstellt.“[87] Und so ist der „…Prüfstein für die erstrangige Intelligenz [ist] die Fähigkeit, zwei entgegengesetzte Ideen zugleich im Kopf zu (…) behalten: Leben ist ein Prozess des Niedergangs. Heilung zu erlernen heißt, den Widerspruch zu erkennen zwischen der Hoffnung des einen Tages und dem Scheitern, am Ende…“[88] – und es dennoch auf sich zu nehmen.
Daraus folgt:
1. Qualität und Quantität bedeuten einen Kategorienwechsel, sodass keine Substitution von gesund und normal statthaft ist.
2. Die mit der Homöostase einhergehende Auffassung von Gesundheit als einem flexiblen und offenem System erlaubt keinen logisch-bipolaren Gegenbegriff. Gesundheit und Krankheit sind multifaktorielle, korrelative Wahrscheinlichkeiten.
3. Gesundheit bedeutet zu lernen sein Leben zu leben, d.h. Veränderungen in Bezug auf die Umwelt zu erstreben. Die therapeutische Selbstverantwortung muss hierzu abwägen zwischen kurativem Erhalt und aktiver Freiheit. Vermeidung ist Mangel an Selbstregulation und psychischer Anpassungsfähigkeit, ist pathologisch.
4. Die nicht-statischen, biologischen Normalitäten erfahren keine andere Legitimation als ihre Tatsächlichkeit[89], d.h. zu leben. Da „zu leben“ ein qualitativer, also nicht-steigerungsfähiger Begriff ist, ähnlich wie ein Gegenstand nicht rot, röter oder am rötesten sein kann, gibt es auch kein mehr oder weniger Menschsein.
[...]
[1] Portrait Anette Albrecht - „…eben alles auf meine Art“ unter: http://medienprojekte-behnen.de/?cat=16
[2] Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) ist ein partei- und verbandsübergreifender Zusammenschluss von Juristinnen und Juristen aus der Praxis, die als Richterinnen und Richter, als Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Verwaltungs- oder Verbandsjuristinnen und -juristen arbeiten oder gearbeitet haben und selbst behindert sind. Die ehrenamtliche Mitarbeit in diesem Zusammenschluss dient der Erarbeitung von Vorschlägen zur Unterstützung der Behindertenverbände, Behinderteninitiativen und Behindertenselbsthilfegruppen. Bereits im Jahr 2000 hat das FbJJ eigene Gesetzentwürfe vorgelegt, die später im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG, 2002) oder im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG, 2006) in Teilen umgesetzt wurden. Die Erarbeitung des Gesetzentwurfes zur sozialen Teilhabe des FbJJ wurde finanziell und logistisch von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL e.V.) und dem Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA e.V.) unterstützt. Vier weitere Verbände haben finanzielle Hilfe geleistet und wollen dies auch weiter tun: Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV), Weibernetz e.V., Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. (BSK) und Mobil mit Behinderung e.V. (MMB). http://www.teilhabegesetz.org//pages/startseite/fakten-und-argumente.php s. dazu: Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik aus Sicht der Disability History, 2010:http://www.bpb.de/apuz/32707/die-geschichte-der-behindertenpolitik-in-der-bundesrepublik-aus-sicht-der-disability-history?p=all
[3] „Am 15. November 1994 trat das nach der Vereinigung überarbeitete Grundgesetz in Kraft, in das auch ein Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen aufgenommen wurde.“ http://www.kobinet-nachrichten.org/de/nachrichten/?oldid=10034
[4] Projekt “tausendundeine Rampe“ unter: http://public-correlations.de/2013/06/12/barrierefreie-umbauten-kommen-allen-menschen-zu-gute/
[5] s. dazu „Mendelsohn-Lavater-Streit“, z.B. unter: http://nibis.ni.schule.de/~lessing/www_mat/nathan/mend_lav.htm)
[6] Das ist nicht so abwegig, wie mensch meinen möchte, das zeigt die Debatte um legalisierte Beihilfe zum Suizid in England von 2009. s. dazu: http://www.zenit.org/de/articles/grossbritannien-gesetzesantrag-zur-beihilfe-zum-selbstmord-abgelehnt oder 2012/13 in der BDR zum §217StGB .
[7] aktuell: Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ): Gesetz zur Sozialen Teilhabe Gesetz zur Änderung des SGB IX und anderer Gesetze, Mai 2013. http://www.weibernetz.de/GST_Bremen_Mai_2013.pdf
[8] http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/?id=467 ; zur aktuellen Situation s.: http://www.netzwerk-artikel-3.de/
[9] vgl.: Konzept zur Kriminalitätsverhütung. Gewalt gegen Menschen mit Behinderung, Kiel 2003. http://www.schleswighlolstein.de/IM/DE/InnereSicherheit/RatKriminalitaetsverhuetung/Downloads/konzept_menschen_mit_behinderung__blob=publicationFile.pdf
[10] Die Bundesagentur für Arbeit hat sogar selbst in einer aktuellen Statistik vom Juni 2012 veröffentlicht, dass der Fachkräfteanteil bei schwerbehinderten Arbeitslosen höher ist als bei nicht schwerbehinderten Arbeitslosen! So weisen schwerbehinderte Arbeitslose zu 56 Prozent eine betriebliche oder schulische Ausbildung auf, ohne Abschluss sind 40 Prozent. In der Vergleichsgruppe der nicht schwerbehinderten Arbeitslosen haben nur 49 Prozent eine betriebliche oder schulische Ausbildung und ohne Abschluss sind 45 Prozent. Juni 2012: http://www.isl-ev.de/de.html?view=article&id=859%3Abundesregierung-unterschlaegt-behinderte-fachkraefte
[11] http://www.integrationsaemter.de/Arbeitsmarkt-Aktuell/390c/index.html; http://forum.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=658&pk_campaign=RelatedContent
[12] http://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/tid-21578/zum-weltfrauentag-meilensteine-der-frauenemanzipation-in-deutschland-die-erste-frau-die-ohne-erlaubnis-ihres-ehemannes-arbeiten-darf_aid_605621.html oder als Buch: Frauen im Islam, Uni Bonn 2001 http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/104907.html
[13] allgemein zum Begriff Resilienz: http://www.ibs-berlin.net/fachart/konturen.pdf; detailiet bei: Julia Böhm: Resilienz-und ihre Bedeutung für eine positive Entwicklung bei Kindern (Bachelorarbeit) Potsdamm,2010.http://www.google.de/#bav=on.2,or.r_qf.&fp=d219cf7128f6f4df&q=resilienz+bei+menschen+mit+behinderung. pdf-download Eine herausragende Arbeit liefert Prof. Dr. Monika Seifert, seit 1990 Forschung und Lehre im Bereich Geistigbehindertenpädagogik an Universitäten in Berlin und Köln; seit 2004 Gastprofessorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (Fachgebiet: Heilpädagogik) Monika Seifert: Lebensqualität von Menschen mit schweren Behinderungen. Forschungsmethodischer Zugang und Forschungsergebnisse. Zeitschrift für Inklusion, Nr. 2 (2006): http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/7/7
[14] vgl. Gendering Disability, S. 62; 65; 218
[15] Albert, A., S.14
[16] Die psycho-soziologische Vorurteilsforschung stellt ein mittlerweile riesiges, ausdifferenziertes Gebiet dar, mit unterschiedlichen Aspekten im Fokus: Instinkt, Trieb, Motivation, Zuschreibung, Persönlichkeit und öffentlich-rechtliche Kontrolle bzw. Organisation. Entsprechend vielfältig sind die Begriffe wie Stigma, bias, Stereotyp, ingroup-favourism. Vgl. Condor, S, 202; allein zu der Frage, ob Kontakt mit „den anderen“ Diskriminierung reduziert, liegen über 700 Studien vor! vgl.: Beelmann,A.; Jonas, K.J. (hrsg.): S.12 Diskriminierung und Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven. SV-Verlag, Wiesbaden 2009
[17] vgl. Nickel, Kap. 2,1.1.1
[18] Horkheimer-Sociologica, S.93
[19] vgl.Horkheimer-Persönlichkeit, S.248
[20] vgl.Horkheimer-Sociologica, S.87
[21] vgl.ebd., S. 88
[22] vgl.Horkheimer-Persönlichkeit, S.248f
[23] Horkheimer-Sociologica, S.88
[24] vgl.Horkheimer-Persönlichkeit, S.249
[25] Horkheimer-Sociologica, S.89
[26] Horkheimer-Sociologica, S.89
[27] vgl.ebd. S.87; 89.
[28] ebd. S.90
[29] ebd. S.91
[30] ebd. S.91
[31] vgl.Horkheimer-Sociologica, S.91
[32] vgl.ebd. S.90f
[33] Horkheimer-Persönlichkeit, S.254 ; 256f
[34] ebd. S.252f
[35] ebd. S. 255
[36] Gendering Disability, S. 22
[37] http://www.muenster.de/~promis/king_busstreik.htm
[38] unterstrich Präsident Obama anlässlich des 50. Jahrestags der M.L.King-Rede.
[39] King-Rede beim Marsch nach Washington am 28. August 1963
[40] www.dfb.de/uploads/media/Informationsbroschuere_Fussball_und_Homosexualitaet_01.pdf
[41] Habersaat, S.: Verteidigung der Aufklärung: Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. Königshausen u. Neumann 2001, S. 84f. e-book: http://books.google.de
[42] Der Begriff rekurriert auf die Anfänge der Behindertenemanzipationsbewegung, die Krüppelmärsche. Er bedeutet Gegenentwürfe, lebendige Aushängeschilder, die uns Mut machen und Vorurteile und Ängste bei der Normalbevölkerung abbauen sollen; auf sie wird in Kap. II unter Tokenism nochmals eingegangen. F.V.
[43] s. Anm. VIII
[44] http://gutenberg.spiegel.de/buch/752/1 (Kap.5)
[45] Heppenheimer/Sperl: Emotionale Kompetenz und Trauer bei Menschen mit geistiger Behinderung. Kohlhammer. Stuttgart 2011, S.; 14; 19; ebenso Franke, S.122
[46] In der Sonderpädagogik/Behindertenhilfe gibt es noch keine geschlechtsbezogene Arbeit. vgl. Gendering Disability, S.197
[47] Jacob, J.; Köbsell, S.; Wollrad, E. (hrsg.): Gendering Disability. Intersektorale Aspekte von Behinderung und Geschlecht. Transcript, Bielefeld 2010, S. 7 - 19
[48] http://maria-elisabeth-bolsinger.jimdo.com/über-marlies/ ebenso: http://www.kobinet-nachrichten.org/de/nachrichten/?oldid=29440
[49] hierzu: Maria Borcsa (Diss): Identitätskonstruktionen blinder Menschen aus drei Generationen: Eine rekonstruktive Analyse. Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2001
[50] mit Blick auf Cangulhem kann dies als gesunder Umgang mit der Behinderung bezeichnet werden, nämlich im Bewusstsein der eigenen Grenzen und Fähigkeiten das Leben zu leben. Es steht im Gegensatz zum pathologischen verharren, vermeiden und ängstlichem Schonen. F.V.
[51] vgl.: Der lange Weg zur Bau-DIN «Barrierefreiheit» von Kobinet, Veröffentlicht am Mittwoch, 26. 11. 2003: http://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/560/Der-lange-Weg-zur-Bau-DIN-«Barrierefreiheit».htm/?search=Zufriedenheit
[52] Oft treffen Vorurteile z.B. Migranten, Drogensüchtige und Wohnsitzlose – was mit der Bewertung ihres sozialen Status zusammenfällt. Vgl. Haslam, S. 89
[53] Ein Trigger, Schlüsselreiz, kann angeboren (AAM) oder erlernt sein z.B. bei posttraumatischen Belastungsstörungen; sie sind motivierend, richtend und auslösend. Sie sind schwer von konditioniertem Verhalten zu unterscheiden.
[54] angewandte Luhmannsche Systemtheorie (1984) ist als Therapieform in Dt. seit 2008 anerkannt. F.V., s.a.: http://de.wikipedia.org/wiki/Integrierte_l%C3%B6sungsorientierte_Psychologie
[55] Lesbische, schwarze sozialistische Feministinnen betonen erstmals die dynamisch-strukturelle „Verwobenheit unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen, in: Black Feminist Statement, 1977. vgl.Faust, F.: Intersektionalität: www.schwarzweiss-hd.de
[56] um bis zu 16 Kategorien – was die Auswertung dann schon unübersichtlich werden lässt. F.V.
[57] d.h. auch emotional bzw. affektiv und geprägt durch frühere Erfahrungen, ebenso wie durch Erziehung und Kultur. F.V.
[58] Alle subjektiven Wahrheiten sind wahr. Sie sind jedoch oft nicht zu belegen. Sie können durchaus verallgemeinerbar sein, was sich jedoch nur mittels empirischen Erhebungen belegen lässt, die wiederum nur die Effekte aufzeigen – die ursächlichen Zusammenhänge bleiben spekulativ. Und wenn es keine empirische Datenerhebung gibt, z.B. tatsächlich schwerbehinderte Arbeitssuchende, dann gibt es auch kein Problem – bei der Arbeitssuche oder wie oft Frauen mit Behinderung in den Beratungsstellen eine Abtreibung dringend angeraten wurde im Vergleich zu nichtbehinderten Frauen. F. V.
[59] Hervorhebung d.d. Verfasserin.
[60] Gasior, K.; Zaidi,A.: Individuelle Erfahrung des Alterns stark von Behinderung beeinflusst. Analysen zum sozialen Wohlbefinden älterer Menschen mit Behinderung in Europa. Europäisches Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung Wien in: ISI 45, Febr.2011 (S.7-10) pdf-download: http://www.gesis.org/fileadmin/upload/forschung/publikationen/zeitschriften/isi/isi-45.pdf. s.a. Gusset-Bährer, Sinikka (Diss.): Dass man das weiterträgt, was älteren Menschen mit geistiger Behinderung wichtig ist. Ältere Menschen mit geistiger Behinderung im Übergang in den Ruhestand. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Fakultät für Verhaltens- und Empirische Kulturwissenschaften, 2002
[61] vgl. Gendering Disability, S. 29f
[62] vgl. 1970/1980 Debatten um den §218 StGB
[63] dazu: Borcsa, M. (Diss): SELBSTTHEMATISIERUNG ALS ALTERITÄT. Identitätskonstruktionen blinder Men- schen aus drei Generationen: Eine rekonstruktive Analyse. Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg, 2001. unter: : http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/243/pdf/dissende.pdf
[64] Da es kombinatorisch ermittelte Schnittmengen sind, kann immer nur von Wahrscheinlichkeiten die Rede sein. F.V.
[65] siehe: http://portal-intersektionalitaet.de/experimentierraeume/interdependenzen-hypertext/projektexperiment/3d-graph/
[66] vgl. Gendering Disability, S. 67 - 71
[67] vgl. Gendering Disability. S.24
[68] vgl. ebd. S. 22
[69] vgl. ebd.
[70] vgl. ebd.S. 218
[71] vgl.Gendering, S, 193f; 212 und: ISL -Studie von Dezember 2010 s.a.: Von Respekt, Toleranz und anderen Wünschen! Behinderung und Migrationshintergrund - eine Videocollage. Veröffentlicht am 21.04.2013 Buch und Regie: H.-Günter Heiden (Alle Interviews sind nachzulesen unter www. isl -ev.de) unter: http://www.youtube.com/watch?v=2Ky4BNuRwRA
[72] GG Art 3 - Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. GG Art 2 - Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.
[73] Die philosophische Ahnenlinie geht von Aristoteles Kategorien aus, über Leibnitz` Monaden zu Luhmanns System. F.V.
[74] Heitmeyer, S. 303
[75] ebd.
[76] vgl. Gendering Disability, S. 24
[77] Warmbrunn, B. (Dpl.): Individuelle Bedeutungen von Langzeitarbeitslosigkeit in der sich wandelnden Arbeitsgesellschaft – Subjektive Interpretationen von sozialer Anerkennung bei Langzeitarbeitslosen. Kommunikationspsychologie,Hochschule Zittau/Görlitz (FH) Fachbereich Sozialwesen pdf-download: http://psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2011/2757/pdf/Diplomarbeit.Bjoern.Warmbrunn.pdf
[78] vgl. Gendering Disability, S.62; 65; 218
[79] Der Ausdruck „Normalo“ ist dem Jargon der Behindertenszene gebräuchlich. Er bezeichnet jedoch nicht einfach nicht-behinderte Personen, sondern bezieht sich explizit auf die sog. nicht-behinderten, die sich darauf etwas einbilden.(sic) F.V.
[80] Canguilhem 2005, S. 26
[81] ebd., S. 28- 30
[82] ebd., S.38
[83] vgl. ebd. S. 33; 36
[84] ebd. S.37
[85] Canguilhem 2005, S. 41
[86] ebd.
[87] Canguilhem 2005, S. 49
[88] ebd. S.50
[89] ebd. S.40 – man denke z.B. an die Plastizität des Gehirns, F.V.
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