Einleitung
Die Drogenexperimente Walter Benjamins fallen in den Zeitraum von 1927 bis 1934. Den Anstoß dazu bekam er von seinen beiden Freunden, den Ärzten Ernst Joel und Fritz Fraenkel, die ihn als Versuchsperson für ihre entsprechenden medizinischen Untersuchungen warben. Benjamins Experimente mit Haschisch und Opium, später auch Meskalin, dürfen nicht als Flucht vor der Realität in den Rausch mißverstanden werden. Im Gegenteil wurden die Versuche äußerst ernsthaft und zumeist unter ärztlicher Beobachtung durchgeführt. Benjamin nutzte den Rausch als Grenzbereich menschlichen Wahrnehmungsvermögens zur Inspiration für seine intellektuellen Arbeiten. Ziel der Versuche blieb immer der reinfiltrierte intellektuale Ertrag1. Die Texte, die er noch in derselben Nacht oder am Tag nach dem Rausch niederschrieb, ermöglichen uns so "einen Blick in das Laboratorium seiner Gedanken"2. Dies ist umso aufschlußreicher für die Deutung von Benjamins philosophischen Arbeiten, da diese durch verschiedene Parallelen in engem Zusammenhang mit seinen Rauscherfahrungen stehen. So erhielten auch Benjamins Überlegungen zur auratischen Wahrnehmung entscheidende Impulse im Drogenrausch3. Aura ist einer der zentralen Begriffe, die sich kontinuierlich durch sein Werk während des letzten Jahrzehnts seines Lebens ziehen. Der Terminus ist konstitutiv für Walter Benjamins ästhetische Theorie und wird dadurch nach seiner Verwendung in Medizin, Theosophie, Parapsychologie und in der Kabbala, erstmals zu einem philosophischen Begriff. Der Entdeckung der Aura im Rausch folgte bereits wenige Zeit später die Beobachtung ihres Verfalls durch die Möglichkeit der technischen Reproduktion des Kunstwerks in der Moderne. Die verschiedenen Beschreibungen der Aura, die sich im Werk Benjamins während der 30er Jahre finden lassen, führten in der Forschung vielfach dazu, darin einen Wandel der Vorstellung an sich zu sehen. Das Phänomen selbst läßt sich aus den Drogentexten allein nicht hinreichend erschließen. Die betreffenden Stellen sind Aufzeichnungen aus Rauschzuständen und verzeichnen meist dunkel und fragmentarisch Gedankengänge, die "nüchternen" Überlegungen nur schwer zugänglich sind. Unter Rückgriff auf die wesentlich konkreteren Beschreibungen im Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" werden die Texte plastischer.
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Inhalt
1. Einleitung
2. Der Ästhetikbegriff Benjamins
3. Auratische Erfahrung in der Kunstrezeption
4. Der Verlust der Aura durch die technische Reproduktion des Kunstwerks
5. Auratische Wahrnehmung unter Drogeneinfluß - zur Ästhetik des Rauschs
6. Zusammenfassung
LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
Die Drogenexperimente Walter Benjamins fallen in den Zeitraum von 1927 bis 1934. Den Anstoß dazu bekam er von seinen beiden Freunden, den Ärzten Ernst Joel und Fritz Fraenkel, die ihn als Versuchsperson für ihre entsprechenden medizinischen Untersuchungen warben. Benjamins Experimente mit Haschisch und Opium, später auch Meskalin, dürfen nicht als Flucht vor der Realität in den Rausch mißverstanden werden. Im Gegenteil wurden die Versuche äußerst ernsthaft und zumeist unter ärztlicher Beobachtung durchgeführt. Benjamin nutzte den Rausch als Grenzbereich menschlichen Wahrnehmungsvermögens zur Inspiration für seine intellektuellen Arbeiten. Ziel der Versuche blieb immer der reinfiltrierte intellektuale Ertrag[1]. Die Texte, die er noch in derselben Nacht oder am Tag nach dem Rausch niederschrieb, ermöglichen uns so "einen Blick in das Laboratorium seiner Gedanken"[2]. Dies ist umso aufschlußreicher für die Deutung von Benjamins philosophischen Arbeiten, da diese durch verschiedene Parallelen in engem Zusammenhang mit seinen Rauscherfahrungen stehen. So erhielten auch Benjamins Überlegungen zur auratischen Wahrnehmung entscheidende Impulse im Drogenrausch[3]. Aura ist einer der zentralen Begriffe, die sich kontinuierlich durch sein Werk während des letzten Jahrzehnts seines Lebens ziehen. Der Terminus ist konstitutiv für Walter Benjamins ästhetische Theorie und wird dadurch nach seiner Verwendung in Medizin, Theosophie, Parapsychologie und in der Kabbala, erstmals zu einem philosophischen Begriff. Der Entdeckung der Aura im Rausch folgte bereits wenige Zeit später die Beobachtung ihres Verfalls durch die Möglichkeit der technischen Reproduktion des Kunstwerks in der Moderne. Die verschiedenen Beschreibungen der Aura, die sich im Werk Benjamins während der 30er Jahre finden lassen, führten in der Forschung vielfach dazu, darin einen Wandel der Vorstellung an sich zu sehen. Das Phänomen selbst läßt sich aus den Drogentexten allein nicht hinreichend erschließen. Die betreffenden Stellen sind Aufzeichnungen aus Rauschzuständen und verzeichnen meist dunkel und fragmentarisch Gedankengänge, die "nüchternen" Überlegungen nur schwer zugänglich sind. Unter Rückgriff auf die wesentlich konkreteren Beschreibungen im Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" werden die Texte plastischer. Diese Arbeit ist eine Gegenüberstellung der Vorstellungsinhalte - ausgehend von der Wahrnehmung der Aura als traditioneller Rezeptionsform von Kunst über deren Verfall bis hin zum Sehen der Aura unter Drogeneinfluß. Viele Beziehungen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten scheinen das Phänomen noch weiter zu verrätseln, lassen sich bei genauerem Hinsehen aber zu einer konkreten Konzeption ergänzen, die auch nach dem Verfall der Aura fortbesteht. Die einzelnen Texte erweisen sich als Bausteine zu Walter Benjamins ästhetischem Modell.
2. Der Ästhetikbegriff Benjamins
Das Werk Benjamins greift in unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen aus. Seine Arbeiten werden von Philosophie, Theologie über Literaturwissenschaften bis hin zu Geschichte u.a. rezipiert. Eine eindeutige Zuordnung würde seinen Schriften niemals gerecht. Es bleibt dennoch festzustellen, daß der entscheidende Bereich seiner Untersuchungen die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Ästhetischen bildet[4]. Ästhetik wird bei Benjamin allerdings nicht in erster Linie als Kunsttheorie begriffen, sondern primär in ihrer ursprünglichen Funktion betrachtet, die in der Frage der Wahrnehmung liegt. Diese Definition geht zurück auf das griechische Stammwort aisthesis und wurde als Wissenschaft von der Sinneswahrnehmung im Gegensatz zu geistiger Erkenntnis erstmals um 1750 von A.G. Baumgarten formuliert. Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung wird bei Walter Benjamin zur neuen Leitwissenschaft[5], die durch die technologischen Innovationen der Moderne einem tiefgreifenden Wandel unterliegt.
3. Auratische Erfahrung in der Kunstrezeption
Der Begriff der Aura hat grundlegende Bedeutung für die Entwicklung der ästhetischen Theorie Walter Benjamins, da er den Dreh- und Angelpunkt der überkommenen traditionellen Ästhetik bildet, die Benjamin durch die technischen Veränderungen seiner Zeit im Wandel begriffen sieht. Die zuletzt von den Anthroposophen wiederaufgegriffene Vorstellung gewinnt hier bei Benjamin erstmals philosophische Bedeutung. Doch auch seine Annäherungen an die Aura, in der er den Schleier der Dinge betrachtet, die ihr eigentliches Wesen verhüllen und zu einem Geheimnis machen, bleiben mysteriös und entziehen sich jeder exakten Bestimmung. Benjamin liefert in seinem Essay "Kleine Geschichte der Photographie" seine Definition für die Aura:
"Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne so nah sie sein mag. An einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen."[6]
Die angestellte Dialektik von Nähe und Ferne wirkt zunächst paradox, läßt aber bei genauerer Betrachtung mehrere Interpretationsansätze zu. Ersetzt man Nähe und Ferne mit dem Gegensatzpaar Innen/Außen, so wird das Bild von der Aura als verhüllender Schleier des Gegenstandes deutlicher. Die Vorstellung basiert auf einer gewissen dialektischen Optik, die davon ausgeht, daß das im Innern verborgene Wesen der Dinge sich aus ihrer äußeren Erscheinung erschließen läßt. Diese Optik sucht nach dem Punkt, an dem das verborgene Innere sich in seine bekannte äußere Gestalt umschlägt. Eine gesteigerte Wahrnehmung macht diesen Umschlag möglich[7]. Benjamins Definition eröffnet noch einen weiteren Zugang zum Phänomen der Aura; er bezeichnet sie als "sonderbares Gespinst von Raum und Zeit". Demnach kann und muß sie mehrdimensional wahrgenommen werden. Im Kunstwerkaufsatz erklärt er das "Hier und Jetzt" der Rezeption zum unabdingbaren Bestandteil auratischer Wahrnehmung[8]. Die Einheit von Ort und Zeit ist konstitutiv für diese Ästhetik. Das Kunstwerk zeichnet sich selbst durch Einzigartigkeit aus. Eine traditionelle Rezeption desselben ist also an den Gegenstand im Rahmen seiner räumlichen und zeitlichen Koordinaten gebunden. Folglich korrespondieren Rezeption und auratische Wahrnehmung miteinander, bzw. sie bedingen sich gegenseitig. Spätestens hier wird deutlich, daß das "Gespinst" der Aura keinesfalls als konkret wahrnehmbare Erscheinung gedacht wird, sondern nur als Vorstellungsinhalt möglich ist, der einer Erfahrung folgt[9]. Diese Erfahrung ergibt sich aus einer spezifischen Wahrnehmungsform, die sich ausschließlich im Subjekt vollzieht. Der Betrachter tritt dem Kunstwerk sich sammelnd gegenüber; seine Haltung ist kontemplativ. In dieser Art der Versenkung vor dem Kunstwerk ist die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung vorgezeichnet. Der Rezipient verhält sich mimetisch. Das subjektiv urteilende Ich nimmt sich soweit zurück, daß es zu "jenem Anschauen der Dinge (gelangt), in dem deren Sprache dem Menschen eingeht"[10]. Die Gegenstände hören auf, bloße Objekte menschlicher Bewertung und Beurteilung zu sein und beginnen, selbst zu sprechen. Die Aura begründet die Autonomie des Kunstwerks, indem sie sein Wesen mystifiziert, über äußere Betrachtung aber individuell erfahrbar macht[11]. Ihren Ursprung findet die Aura in der Tradition des Kunstwerks. Dieses hatte in ältester Zeit Ritualcharakter; es erfüllte seine Funktion als Kultobjekt. Als Verkörperung göttlichen Wesens erhält das Kunstwerk einzigartige Bedeutung, d.h. Individualität. Benjamin gibt eine weitgehende Erläuterung zum Kultwert des Kunstwerks, die an seine Aura-Definition anknüpft.
[...]
[1] Walter Benjamin: Über Haschisch. Hrsg.v. Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1972, S.106.
[2] Krista R. Greffrath: Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbegriff Walter Benjamins. München 1981, S.133.
[3] Benjamin, Über Haschisch, S.106.
[4] Norbert Bolz, Willem van Reijen: Walter Benjamin. In: Reihe Campus. Einführungen. Hrsg.v. Christian Krüger u.a. Frankfurt am Main/New York 1991, S.107.
[5] Bolz/Reijen,W.Benjamin, S.107.
[6] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodzierbarkeit. Frankfurt am Main 1977, S.57.
[7] Greffrath, Metaphorischer Materialismus, S.92f.
[8] W.Benjamin, Das Kunstwerk, S.12ff.
[9] Marleen Stoessel: Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin. München/Wien 1983, S.45f.
[10] Walter Benjamin
[11] Lieselotte Wiesenthal: Die Krise der Kunst im Prozeß ihrer Verwissenschaftlichung. Zur Beschreibung von Krisenprozessen bei Walter Benjamin. In: Text und Kritik. Hrsg.v. Heinz Ludwig Arnold, 31/32 (1971), S.59f.
- Arbeit zitieren
- Christian Plätzer (Autor:in), 1995, Zum Wesen der Aura in der Ästhetik Walter Benjamins, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28081
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