Zur Funktion von Gewalt. Gewalthandlungen als Beitrag zur Entwicklung und Ausdruck von Geschlechteridentität bei Mädchen


Diplomarbeit, 2009

84 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung und Fragestellung
2. Theoretische Einrahmung
2.1 Weibliche Jugend
2.1.1 Gibt es „die weibliche Jugend“?
2.1.2 Weibliche Identitätsentwicklung
2.1.3 Weibliche Sozialisation
2.2 Begriffsklärungen: Gewalt und Aggression
2.2.1 Gewalt, vorhandene Arten und Formen
2.2.2 Aggression, vorhandene Arten und Formen
2.2.3 Jugendgewalt ist überwiegend Jungengewalt

3. Welche Funktionen kann das Ausüben von Gewalt haben?
3.1 Aus psychologischer Perspektive
3.1.1 Aggression als Triebhandlung
3.1.2 Aggressionen zum Frustrationsabbau
3.1.3 Gewaltverhalten als gelerntes Verhalten
3.2 Aus soziologischer Perspektive
3.2.1 Gewalt als Gruppenstruktur
3.2.2 Gewalt als Mittel gegen Verunsicherung
3.2.3 Gewaltanwendung durch Rollenzuschreibung
3.3 Sozialisatorische Erklärungsansätze
3.3.1 Familie als primäre Sozialisationsinstanz
3.3.2 Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz
3.3.3 Freunde als sekundäre Sozialisationsinstanz
3.3.4 Medien als sekundäre Sozialisationsinstanz
3.3.5 Vielfältige Differenzierungen des Sozialisationsprozesses
3.4 Zwischenergebnis

4. Aktuelle Forschungssituation
4.1 Ein Forschungsüberblick
4.1.1 Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik
4.1.2 Darstellung der aktuellen Forschungssituation
4.2 Ausgewählte Forschungsprojekte
4.2.1 Das Forschungsprojekt „Biographien gewalttätiger Jugendlicher“
4.2.2 Mädchen in gewaltbereiten Jugendgruppen
4.2.3 Psychoanalytischer Diskurs

5. Geschlechtsspezifische Darstellung der Gewaltanwendung
5.1 Gewaltperzeption von weiblichen Jugendlichen
5.2 Besteht ein Unterschied zu „männlicher Gewalt“?
5.3 Gewaltbereitschaft von Mädchen im Kontext ihrer Geschlechterrolle
5.3.1 Doppelte Normabweichung gewaltbereiter Mädchen
5.3.2 Weibliche Gewaltanwendung – ein Ausdruck moderner Emanzipation?

6 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

7. Ausblick

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Internetquellen

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 Die Entwicklung der Tatverdächtigenzahlen der Jugendlichen zwischen 14 - 18 Jahre in den Jahren 2000 - 2007 46

Abbildung 2 Weibliche Tatverdächtige in den Jahren 2000 bis 2007 nach Alter 47

1. Einleitung und Fragestellung

Das Thema Jugendgewalt auf die Geschlechter bezogen betrachtet, wirft zunächst Assoziationen des Mädchens als Opfer und des Jungen als Täter hervor. Mädchen gelten als schwach und nicht wehrfähig, während Jungen Fähigkeiten wie Stärke und Mut zugesprochen werden. So werden Jungen von der gängigen Fachliteratur als extrovertiert und Mädchen als introvertiert charakterisiert[1]. Doch gibt es auch Mädchen, welche aggressives Verhalten zeigen, sie schließen körperlich gewalttätige Handlungsstrategien vermehrt in ihr Verhaltensrepertoire ein. Auf dieses Phänomen wird in der letzten Zeit häufiger durch die Medien eingegangen. Das Thema wird gerne überzogen geschildert und die Mädchen als unnormal und unweiblich hingestellt.

Gewalthandlungen von Mädchen und jungen Frauen weichen von dem gesellschaftlichen Bild ihrer Geschlechterrolle ab. Ihnen werden mitfühlendere Fähigkeiten als dem männlichen Geschlecht zugesprochen. So gelten sie als häuslich, sozial engagiert, friedfertig und mütterlich. Anders als Jungen wird es ihnen abgesprochen, sich allzu laut und stürmisch zu benehmen. Reagieren sie in manchen Situationen aggressiv, wird dieses Verhalten als unnatürlich und männlich aufgefasst.

Jugendgewalt ist männlich dominiert. Die Polizeiliche Kriminalstatistik gab für das Jahr 2007 an, dass 87% der jugendlichen Tatverdächtigen im Bereich Gewaltkriminalität dem männlichen Geschlecht angehörten. Durch dieses ungleiche Zahlenverhältnis fallen männliche Gewalttäter stärker auf als weibliche. Jugendgewalt wird also eher als ein Problem der männlichen denn der weiblichen Jugend gesehen. Dadurch treten die weiblichen Täterinnen leicht in den Hintergrund und ihre Motive, Hintergründe und Anlässe, aus denen heraus sie aggressiv reagieren, sind unbekannt.

Doch um die Vielfalt gewaltbereiter Mädchen und jungen Frauen zu erfassen und zu verstehen, bedarf es einer ausführlichen Forschungsreihe und Diskussion, ähnlich der auf männlichem Gebiet. Denn die Hintergründe und Motive ebenso wie die Folgen und Auswirkungen von erfahrener und selbst erteilter Gewalt sind im Geschlechterverhältnis gesehen nicht homogen. Jugendliche nutzen Gewalt in unterschiedlichen Situationen aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlichen Zwecken. Diese gilt es aufzudecken und zu verstehen, vor allem wenn es in der sozialpädagogischen Arbeit darum geht, diesen Jugendlichen neue Perspektiven zu ermöglichen und ein Leben ohne Gewalt zu öffnen. Eine intensivere Beschäftigung mit der Entstehung, den Ursachen und den Erscheinungsformen weiblicher Jugendgewalt erscheint deshalb relevant und unerlässlich, da durch gezielte Inhalte und Methoden in der Gewaltpräventionsarbeit, einem weiteren Anstieg von Gewalttaten weiblicher Täterinnen vorgebeugt werden könnte.

In der vorliegenden Diplomarbeit widme ich mich den möglichen Hintergründen, Motiven und Zwecken von Gewaltbereitschaft junger Frauen und Mädchen. Es geht mir darum, zu erfassen, welchem Sinn und Zweck Gewalttaten dienen. Hierbei beziehe ich mich vor allem auf die aktuellen Studien von Silkenbeumer (2000 und 2007), Bruhns und Wittmann (2002 und 2006) und Koher (2003 und 2007). Diese Schriften stellen die zeitnahesten Studien auf dem Gebiet der Forschung zu gewaltbereiten weiblichen Jugendlichen dar.

Untersucht wird hierbei die Frage, ob die Annahme Heitmeyers, dass gesellschaftliche Modernisierungsprozesse und die damit einhergehende Individualisierung des Einzelnen und die Pluralisierung möglicher Lebensstile einen möglicherweise so negativen Einfluss auf die Jugend, und hier die weibliche im bestimmten, haben, dass sich einige Mädchen überfordert fühlen und aus Angst, Resignation und häuslichen Problemen zu Gewalt als Mittel greifen, um sich zu wehren. Und ob, wie vor allem Bruhns und Wittman aus ihrer Studie schließen, in diesem Zusammenhang von einem neuen Weiblichkeitsbild gesprochen werden kann, welches Gewalttätigkeit von Mädchen und jungen Frauen in ihr Geschlechterbild einschließt.

Hierfür werde ich im ersten Teil meiner Arbeit grundlegende Begriffe definieren, um vor allem Missverständnissen auf Grund unzureichender Bezugsrahmen und Grenzfällen vorzubeugen. Anschließend werden verschiedene Theorien und Hypothesen aus psychologischer, soziologischer und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive geschlechterdifferenziert erläutert, um ein erstes Verständnis von Gewalttaten und ihrem möglichen Ursprung zu erhalten.

Mit dieser Grundlage wird im vierten Kapitel der aktuelle Forschungsstand dargestellt und detailliert beleuchtet. Hier wird vor allem auf die oben aufgeführten Studien eingegangen und die Daten der offiziellen Polizeistatistik wiedergegeben, um die Hellfeldzahlen wider zu spiegeln.

Auf diesem Weg wird ein Bogen gespannt zu der Darstellung weiblicher Gewalthandlungen im Kontext ihrer Geschlechterrolle. Mittelpunkt dieses Kapitels ist die Ausführung weiblicher Gewalttaten, wie diese sich von männlicher Gewalt unterscheiden, welche Sichtweise die Täterinnen auf dieses Thema haben, sowie eine Diskussion um gesellschaftliche Folgen im Sinne einer möglichen Erweiterung oder Umdeutung der Weiblichkeitsrolle.

Das daran anschließende Resümee dient der Zusammenfassung und nochmaligen Wiederholung der wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit. Die anschließende Stellungnahme meinerseits mündet in einen Vorschlag zum Umgang mit gewaltbereiten Mädchen.

2. Theoretische Einrahmung

Begriffe wie Jugend, Gewalt, Aggression oder Sozialisation werden heute in der Alltagssprache mit einer Selbstverständlichkeit genutzt, wobei ihre wahre Bedeutung oder ihre Bedeutung im Gesamtkontext nicht immer eindeutig ist. Um mit diesen Begriffen auf einer wissenschaftlichen Ebene arbeiten zu können, werden sie im Folgenden eindeutig definiert.

2.1 Weibliche Jugend

Die heutige demographische Verteilung der Gesellschaft zeichnet sich aus durch ein „…zahlenmäßiges Schrumpfen der jugendlichen Bevölkerung bei gleichzeitiger Verlängerung der Lebensphase Jugend“ (vgl. Hurrelmann 2007, S. 13). Sie setzt sich zusammen aus deutschen und ausländischen Jugendlichen, aus männlichen und weiblichen, welche aus unterschiedlichsten Milieus, Klassen und Schichten stammen. Diese Vielfalt wirft die Frage auf: Gibt es "die Jugend“?, und vor allem: Gibt es "die weibliche Jugend“?

2.1.1 Gibt es „die weibliche Jugend“?

Die Jugendphase des westlichen Gesellschaftssystems ist geprägt von ökonomischer Abhängigkeit bei gleichzeitiger individueller Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 17ff.). Sie bildete sich zur Zeit der Industrialisierung mit Einführung der allgemeinen Schulzeit aus. War sie zunächst gekennzeichnet als eine Übergangszeit zwischen Kindheits- und Erwachsenenphase, ist sie heute eine eigenständige Lebensphase. Nach Hurrelmann (2007, S. 23) stellt sie ein Moratorium dar, definiert als ein „…zweckloses Verweilen [der Jugendlichen] in der Gesellschaft ohne feste Perspektive und ohne Verantwortung“ (ders.). Diese Sichtweise birgt die Gefahr der Stigmatisierung dieser Lebensphase mit Vorurteilen wie unreifes oder problematisches Verhalten. Grund für diese Annahmen ist die offensichtliche Experimentierfreudigkeit der Jugendlichen in Hinblick auf verschiedene Lebensstile und Verhaltensweisen. Jugend ist also durchaus als eine Zeit zu sehen, welche einen Experimentierraum darstellt (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 17ff.).

Nach soziologischer wie auch nach psychologischer Definition der Lebensphase Jugend gibt es keine eindeutigen Altersgrenzen (vgl. Hurrelmann 2007, S. 57ff.). Die Übergänge sind fließend und lassen sich jeweils individuell bestimmen. Als psychologisches Merkmal für den Beginn der Jugendphase gilt allgemein der Eintritt in die Pubertät. Ein Ende der Phase wird dann definiert, wenn das jeweilige Individuum die zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben positiv absolviert hat. Dies bedeutet in erster Linie eine psychosoziale Ablösung von der Herkunftsfamilie zu erreichen. Die Aufgabe der Jugendphase aus psychologischer Perspektive besteht also vorrangig in der Erlangung einer eigenen Individualität.

In der Soziologie wird von dem Erreichen von Statuspassagen gesprochen (vgl. Hurrelmann 2007, S. 49ff.). Hiermit wird der Übergang von einer sozialen Position in die nächstmögliche definiert. Das Erreichen des Status Jugend erfolgt fließend ohne festen Zeitpunkt. Allgemein kann jedoch dann davon ausgegangen werden, sobald die Gesellschaft auf die Geschlechtsreife eines Individuums reagiert. Die Aufgabe der Jugendphase laut soziologischer Auffassung stellt die Integration des Individuums in die Gesellschaft dar. Damit ist das Erreichen einer vollständigen Selbstständigkeit in allen Lebensbereichen gemeint. Der Übergang in das Erwachsenenalter erfolgt mit Erfüllung der Integrationsaufgabe.

Schäfers und Scherr (2005, S. 22f.) vertreten die Annahme, dass Jugend als soziales Phänomen und nicht als Lebensabschnitt begriffen werden sollte. Weiterhin fordert er eine Differenzierung des Begriffes, da es "die Jugend“ nicht gibt. Zur Begründung verweist er auf die unterschiedlichen sozialen Strukturen, Bildungschancen und die Geschlechtssozialisation, welche ein Individuum prägen. Schäfers und Scherr (ders, S. 23) definieren Jugend daher als:

„Jugend ist eine gesellschaftlich institutionalisierte, intern differenzierte Lebensphase, deren Verlauf, Ausdehnung und Ausprägungen wesentlich durch soziale Bedingungen und Einflüsse (sozioökonomische Lebensbedingungen, Strukturen des Bildungssystems, rechtliche Vorgaben, Normen und Erwartungen) bestimmt sind. Jugend ist keine homogene Sozialgruppe, sondern umfasst unterschiedliche Jugenden.“ (ders.)

Hurrelmann (2007, S. 25) geht außerdem auf die möglichen Kombinationen der Lebensphasen Jugend und Erwachsen ein. So charakterisiert er eine normalerweise für das Jugendalter typische Lebensweise als „Juvenilisierung“, wenn diese auch im Erwachsenenalter als normale Lebensform auftreten kann (wie zum Beispiel Kinder- oder Erwerbslosigkeit). Lebensweisen, die typischerweise dem Erwachsenenalter zuzuordnen sind, genauso aber auch im Jugendalter auftreten können (wie zum Beispiel Konsumfreiheit oder sexuelle Aktivität) nennt er eine „Adultisierung des Jugendalters“.

Diese Darstellung der Kombinationsmöglichkeiten lässt leicht erkennen, dass die traditionellen Abgrenzungen zwischen Jugend- und Erwachsenenalter wegfallen (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 17ff.). Die möglichen Teilerreichungen des nächsten Status sind in einigen Bereichen mühelos möglich. So wird in dem Bereich Konsum schon verhältnismäßig früh das Erreichen der Selbstständigkeit durch eine Ausübung eines Nebenjobs während der Schulzeit möglich. Auch eine politische Beteiligung kann in öffentlichen Bereichen wie Schule oder Sportverein schon früh erlangt werden. Dahingegen ist es in der heutigen Gesellschaft durchaus legitim kinderlos zu sein. Somit findet eine Verschiebung oder gar Aufhebung von traditionellen Grenzen statt. Der Grad erreichter Verselbstständigung und damit ein Eintritt in das Erwachsenenleben wird nach Hurrelmann (2007, S. 36) heutzutage vor allem ausgemacht an einem Austritt aus der Ausbildung (öffentlicher Bereich) und einer Ablösung vom Elternhaus und gleichzeitiger Beginn einer eigenen festen Partnerschaft (privater Raum). Diesen Zustand definiert Hurrelmann (ders, S. 39) als „Statusinkonsistenz“.

Nach Schäfers und Scherr (2005, S. 22f.) ist es somit ungenau von "der Jugend“ auszugehen. Denn sie differenziert sich nach geographischer Herkunft ebenso wie nach Herkunftsmilieu, Bildungsmöglichkeiten und Geschlecht. So hat sich neben anderen soziologischen Theorien auch der geschlechtsdifferenzierte Ansatz ausgebildet (ders, S. 50f.). Durch die unterschiedlichen Geschlechtsrollen und damit einhergehende Identitätsentwicklungen und Sozialisationen (vgl. Kapitel 2.1.2, 2.1.3), muss in Gesellschaftsfragen jeweils individuell auf das weibliche und männliche Geschlecht eingegangen werden. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Gefahr besteht, durch eine Überbetonung vorhandener Unterschiede zwischen den Geschlechtern die Differenz ungewollt zu vergrößern.

2.1.2 Weibliche Identitätsentwicklung

Die zentrale Aufgabe im Jugendalter besteht in der Ausbildung einer eigenen Identität (vgl. Kapitel 2.1.1). Die Entwicklung dieser zirkuliert um die Frage „Wer bin ich?“ (Schäfers, Scherr 2005, S. 91). Die Identitätsentwicklung erfolgt durch eine Übernahme oder eine Distanzierung zu sozialen und gesellschaftlichen Vorgaben, Erwartungen und Normen.

Identität ist also das „…Ergebnis eines Prozesses, in dem Individuen soziale Eigenschaftszuschreibungen, Erwartungen sowie sozial zugemutete und ermöglichte Erfahrungen reflexiv verarbeiten“ (ders).

Die Suche nach der eigenen Identität offenbart sich angesichts der Endtraditionalisierung der Geschlechtsrollen sowie einer Pluralisierung der Lebensstile als teilweise problematisch (ders, S. 94f.). Diese Theorie der Individualisierung geht zurück auf Elias (1985) und Beck (1986) und beschreibt die Umstrukturierung der westlichen Gesellschaft im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung der Arbeitswelt (vgl. Hurrelmann 2007, S. 55). Traditionelle Lebensstile und Rollenerwartungen werden abgelöst von einer Pluralität an Möglichkeiten aber auch an Schwierigkeiten. Durch die verbesserten Bildungschancen erlangen viele Jugendliche ihren Eltern gegenüber eine erheblich höhere Bildung, verlieren dadurch aber auch die Möglichkeit der Identifikation mit ihren Eltern als Rollenvorbilder. Dies kann, verfügen die betroffenen Jugendlichen nicht über ein angemessenes Maß an personalen und sozialen Ressourcen[2], zu einer Überforderung führen, oder aber auch zu einer Herausbildung einer verfestigten Persönlichkeit.

Die individuelle Identitätsbildung eines jeden Jugendlichen wird geprägt und begrenzt von seiner Herkunft, seinem Umfeld und vor allem seinem Geschlecht (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 92). Geschlechtsidentität meint „…den Selbst-Bezug zu sich selbst als Frau oder als Mann…“ (Silkenbeumer 2007, S. 76). Geschlechtsrollenidentität hingegen bestimmt „…die Identifizierung mit historisch-kulturellen Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern…“ (ders). Anders formuliert handelt es sich einmal um "sex“ (das Geschlecht) und um "gender“ (das soziale Geschlecht). Der Prozess der Geschlechtsdarstellung und Aneignung nach der von der Gesellschaft definierten geschlechtsspezifischen Handlungsweisen und Darstellungsarten, wird als "doing gender“ beschrieben.

Die weibliche Geschlechtsrolle ist von der Gesellschaft charakterisiert durch geschlechtstypisches Verhalten und ebensolchen Handlungsweisen (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 23ff.). Das Geschlecht ist als eine soziale Strukturkategorie, in der sich Weiblichkeit durch die Nutzung des privaten Raumes und einer hierarchisch der Männlichkeit unterliegenden Kategorie auszeichnet, zu verstehen. Die Strukturen des Geschlechterverhältnisses lassen sich aufteilen in eine gegebene Hierarchie der Machtverhältnisse, eine vorhandene Arbeitsteilung, welche sich für Männer überwiegend im öffentlichen Raum befindet, und einer existierenden Sexualität, welche die Frau als begehrenswert bezeichnet. Diesen Anordnungen folgend kann geschlechtsspezifisches Verhalten im Rahmen einer "self-fullfilling-prophecy“[3] ausgebildet werden (vgl. Scheithauer 2003, S. 82).

Frauen unterliegen einer „doppelten Vergesellschaftung“ (Silkenbeumer 2000, S. 26). Sie haben durch die heutige Gesellschaftsstruktur ebenso wie Männer die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sind aber gleichzeitig für das heimische Wohl der Familie zuständig. Dies bedeutet für heranwachsende Mädchen eine doppelte Identitätsfindung in der Gesellschaft. Vor allem weibliche Jugendliche aus so genannten Problemfamilien sind von den ambivalenten Anforderungen betroffen, denn gerade in ihrem sozialen Umfeld herrschen traditionelle Rollen vor. Gleichzeitig jedoch erlangen sie, vor allem durch Medienkonsum, das Wissen über eine neue emanzipierte Frauenrolle. Dies lässt sich beispielhaft am Thema Sexualität erläutern. Jungen wie Mädchen erleben heute eine neue sexuelle Freiheit ohne offizielle Grenzen. Während Jungen sich jedoch durch häufig wechselnde Geschlechtspartnerinnen auszeichnen können, verlieren Mädchen durch diese Art von sexueller Freizügigkeit ihren „guten Ruf“ (Silkenbeumer 2000, S. 42). Dennoch sind sie gleichzeitig damit konfrontiert, sich für das andere Geschlecht attraktiv zu präsentieren.

Die Ausbildung einer Geschlechtsidentität offenbart sich für Mädchen der westlichen Gesellschaft demzufolge als nicht einfach, denn sie erfolgt immer im Kontext des Geschlechterverhältnisses (ders, S. 35f.). Primäre Bezugspersonen sind bei diesem Prozess sehr wichtig, jedoch darf nicht die wechselseitige Beeinflussung unterschätzt werden (ders, S. 36ff.). So hat das Geschlecht des Kindes bereits von Geburt an Einfluss auf das Verhalten seiner Eltern. Sind dem Kind im jungen Alter kaum Grenzen der Geschlechtsidentitätsfindung gefasst, setzt spätestens mit der Pubertät eine unterschiedliche Behandlung der Jugendlichen ein. Mädchen werden dahingehend gefördert, dass sich ihre motorischen und emotionalen Fähigkeiten verfeinern. Dementsprechend werden sie von ihren Müttern dazu angehalten, ihre Aggressionen oder ihre Wut zu unterdrücken, da Mädchen im Gegenteil zum anderen Geschlecht sanft seien. Jungen andererseits werden bewegungsintensiv gefördert und erlernen vor allem durch Medienbeispiele, dass typisch männliches Verhalten hart und aggressiv ist.

Weibliche Aggression ist damit "unsichtbar“ (vgl. Campbell 1995, S. 60ff.). Im direkten Vergleich der Geschlechter fällt auf, dass Mädchen erheblich ruhiger sind als Jungen, welche sich gerne raufen oder lautstark äußern. Durch den Lernprozess der Unterdrückung von aggressiven Emotionen neigen Mädchen wesentlich seltener als Jungen zur Artikulation oder gar dem Ausleben ihrer Wut. Jungen haben während ihrer Identitätsentwicklung gelernt, durch Aggressionen Situationen oder Personen zu kontrollieren, Mädchen, dass Aggressionen nicht erwünscht sind. Zwar tragen beide Geschlechter das gleiche Potential an Aggressivität in sich, doch kommt es durch die unterschiedlichen Identitätsentwicklungen zu differenzierten Umgangsweisen damit.

2.1.3 Weibliche Sozialisation

„Unter „ Sozialisation “ wird der Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit den inneren und äußeren Anforderungen verstanden.“ (Herv. i. Org., Hurrelmann 2007, S. 49).

Sozialisation bedeutet demnach die Bildung einer eigenen Persönlichkeit unter Berücksichtigung von herrschenden Umwelteinflüssen, wie zum Beispiel geltende gesellschaftliche Normen oder Strukturen, und der Eigeninitiativen des Individuums (ders). Beeinflusst wird dieser Vorgang von primären (die Familie) und sekundären (vor allem die Schule und die Peergroup[4] des Jugendlichen) Sozialisationsinstanzen (auch Bezugsgruppen).

„Bezugsgruppen sind dadurch charakterisiert, dass an ihnen Handeln und Vorstellen, Motive und Einstellungen, Urteile und Vorurteile der Individuen orientiert sind“ (Herv. i. Org., Schäfers, Scherr 2005, S. 101).

Die Familie wird allgemein als wichtigste Sozialisationsinstanz gesehen, da sie den Heranwachsenden von Beginn an beeinflusst (ders, S. 102f.). So werden vom Elternhaus vor allem vorgegebene materielle, soziale und strukturelle Bedingungen übernommen. Die Gestaltung des Lebensstils der Herkunftsfamilie prägt das Kind stark und ist in seinem späteren Lebensverlauf nur schwer zu überwinden.

Die moderne Familienform entspricht noch immer weitestgehend der Kernfamilie, bestehend aus zwei Generationen, den Eltern sowie den Kindern (vgl. Hurrelmann 2007, S. 107f.). Immer häufiger jedoch kann auch die so genannte Ein-Eltern-Familie beobachtet werden. Diese Lebensform birgt ein in Kernfamilien nicht bestehendes Risiko für die Kinder: Eltern übernehmen die Funktion von Rollenvorbildern, fehlt nun eines der Elternteile, fehlt dementsprechend auch eine Rollenfigur. Diese Lücke muss nun von dem betroffenen Kind auf andere Art und Weise geschlossen werden. Dies erfolgt zumeist durch die Annahme der medial vermittelten Rollenvorbilder wie zum Beispiel Comichelden, oder auch durch eine überdurchschnittlich starke Orientierung an Gleichaltrigen. Dieses Problem betrifft allerdings größtenteils die männlichen Jugendlichen, da allein erziehende Familien zumeist aus der Mutter mit ihrem Kind bestehen.

In stark patriarchalisch orientierten Familien bekommen die Kinder als Rollenvorbilder häufig einen despotischen Vater und eine sanfte Mutter vorgelebt (ders, S. 114f.). In diesen Familien wird häufig aggressiv agiert und nicht selten erfahren die Kinder eine mehr oder weniger starke Vernachlässigung ihrer Bedürfnisse. Kommen als weiteres Problem fehlenden Ressourcen (im materiellen und sozialen Bereich) und das Gefühl des Versagens hinzu, kann dieser Zustand dazu führen, dass das Kind sich mittels aggressivem Verhalten versucht, einen besseren Status zu verschaffen. Diese Art von Differenzen (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 103), gekoppelt mit der langsamen Ablösung vom Elternhaus im Jugendalter, begünstigen eine Orientierung des Kindes an gewaltaffine Peergroups (vgl. auch Kapitel 3.3).

Peergroups dienen in erster Linie dem gemeinsamen Verbringen der Freizeit von Jugendlichen gleichen Alters (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 118f.). Nach Schäfers und Scherr (2005, S. 18) sind Gleichaltrigengruppen bedeutsame „informelle Sozialisationsinstanzen“, da die Gruppen nicht von außen kontrolliert werden und somit selbstständig zur Identitätsbildung ihrer Mitglieder beitragen. Sie dienen somit also als „Übungs- und Trainingsräume“ (Hurrelmann 2007, S. 133) für das Sozialleben.

In dem Maß, in dem das Elternhaus mit vorschreitendem Alter des Jugendlichen an Wichtigkeit verliert, gewinnt die Peergroup an Einfluss hinzu (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 18). Allerdings nie so stark, dass die Herkunftsfamilie vergessen wird, sie ist immer als primäre Sozialisationsinstanz im Hintergrund der Entwicklung einer Position in der Gesellschaft des Jugendlichen präsent. Es herrscht somit eine Doppelorientierung, zum einen an der Herkunftsfamilie und den damit verbundenen Ressourcen materieller sowie soziale Natur, und zum anderen an der Peergroup und den damit verbundenen Möglichkeiten und Freiheiten (vgl. Hurrelmann 2007, S. 130f.). Dies spiegelt sich wieder in der Ausrichtung der Jugendlichen, sie sind entweder familien- oder jugendzentriert. Familienzentrierung bedeutet eine stärkere Orientierung an der Familie sowie eine häufigere Nutzung von durch Erwachsene geleitete Kontexte, wie zum Beispiel Vereine oder Institutionen anderer Art. Jugendliche, welche eher auf ihresgleichen fixiert sind, bevorzugen eine Freizeitgestaltung ohne Berührung mit der Erwachsenenwelt, im Gegenteil reicht ihre abweisende Haltung sogar bis hin zu einer versteckten oder offenen Ablehnung. Dieses Verhalten wird von einem ungünstigen Verhältnis im Elternhaus gefördert.

Mädchengruppen sind eher familienzentriert ausgerichtet (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 64f.). Sie sind kleiner als Jungengruppen und nicht hierarchisch strukturiert. Kontakte mit Jungen sind für Mädchen wichtig, um ihre eigene Weiblichkeit als anders abgrenzen zu können und eine Vorstellung von „weiblicher Attraktivität“ (ders, S. 64) zu erlangen. In Mädchengruppen steht vor allem die Ausbildung von engeren Beziehungen und einem damit einhergehenden Aufbau von Vertrauen und Rückhalt im Vordergrund, während Jungen einen größeren Bekanntenkreis vorziehen um so freizeitmäßig aktiv zu sein. Jungen lernen in diesem Kontext mittels Aggressionen ihre Position in den hierarchisch gegliederten Peergroups zu festigen, während Mädchen empathische Fähigkeiten nutzen und verfeinern.

Als Grundlage für das Zusammenfinden einer Peergroup dient vor allem die Schule, hier werden Gruppen gebildet und Freundschaften geknüpft (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 113). Die Schule stellt im Gegensatz zur Familie einen Ort der emotionalen Distanz in Bezug auf das Erwachsenen-Kind-Verhältnis dar (vgl. Hurrelmann 2007, S. 94). Ihre Aufgabe besteht vor allem in der notwendigen Qualifikation des Jugendlichen auf die Anforderungen in der Berufswelt sowie seine Integration in die Gesellschaft (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 110).

Damit einher gehen schwierige Anforderungen des Umgangs für den Jugendlichen mit der Institution Schule (ders). So wird von den Schülern eine emotionale Distanz zu den Lehrern verlangt, sie müssen starren Vorgaben wie zum Beispiel der Zeiteinteilung oder den Leistungsanforderungen folge leisten und werden in altershomogenen Gruppen zusammengefasst, was eine automatische Ausschlussfunktion jüngerer Schüler nach sich zieht. Um die damit verbundenen Probleme auffangen zu können, sind soziale Ressourcen erforderlich, wie zum Beispiel familiärer Rückhalt. Kann ein Jugendlicher darauf nicht zurückgreifen (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 55) und ist er weiterhin mit den Wettbewerbsbedingungen überfordert, kann sich seine Überforderung in aggressivem Verhalten lösen, mit welchem er eine Statusverbesserung seiner Person anstrebt (vgl. auch Kapitel 3.3).

Das deutsche Schulsystem ist mit seinen verschiedenen Schultypen stark schichtspezifisch (vgl. Hurrelmann 2007, S. 84). So sind Bildungschancen und Bildungserfolge geprägt von den Ressourcen der Herkunftsfamilie. Anders ausgedrückt: Kinder aus Akademikerfamilien haben eine erheblich höhere Chance einen Gymnasialabschluss zu erreichen als Kinder aus Arbeiterfamilien. Zwar erreichen die Kinder im Durchschnitt einen höheren Abschluss als ihre Eltern, doch ist dieser auf Grund der heutigen Wirtschaftssituation relativ abgewertet (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 113).

Heutzutage besuchen wesentlich mehr Mädchen als Jungen das Gymnasium, während männliche Jugendliche überwiegend in Haupt- und Förderschulen anzutreffen sind (vgl. Hurrelmann 2007, S. 83f.). Doch hat sich dieser Erfolg noch nicht auf den Arbeitsmarkt übertragen. Hier haben traditionell die Jungen bessere Chancen auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsvertrag. Der Grund hierfür liegt in der Vorstellung von der Frau als Mutter und der damit verbundenen Annahme, dass Frauen für eine Vollzeitstelle nicht die nötige Zeit besitzen. Die größten Veränderungen für Mädchen haben sich demnach im Bildungssystem ergeben (vgl. Schäfers, Scherr 2005, S. 111).

Die Institution Schule ist also ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche einen großen Teil ihrer Ausbildungszeit verbringen (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 53). Sie werden dort konfrontiert mit der sozialen Ungleichheit der Gesellschaft, mit geschlechtstypischen Umgangsmustern und dem Wettbewerbsdruck der späteren Arbeitswelt. Hier findet eine erste Integration in die Gesellschaft statt und eine Einübung der eigenen Geschlechtsrolle (ders, S. 56).

Für eine gelungene Sozialisation sind alle drei genannten Sozialisationsinstanzen von großer Wichtigkeit (vgl. Hurrelmann 2007, S. 134). Sie ergänzen sich, was verschiedene Herausforderungen angeht und fangen den Jugendlichen bei speziellen Problemen individuell auf. Sozialisation als Prozess kann somit verstanden werden als „… ein Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individueller Gestaltung…“ (Wallner, 2006, S. 8), welcher lebenslänglichen Bestand hat.

2.2 Begriffsklärungen: Gewalt und Aggression

Die Begriffe Gewalt und Aggression werden umgangssprachlich häufig genutzt, jedoch teilweise in verschiedenen Kontexten. Sie können zum einen sehr weit gefasst werden und schließen dann alle Momente ein, in denen Personen so manipuliert werden, dass eine Distanz (und sei sie noch so gering) zwischen ihrem potentiellen Auftreten und ihrem tatsächlichen Auftreten herrscht (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 17f.). Oder aber Gewalt lässt sich als Unterform der Aggression wiederum in mehrere Kategorien einteilen, welche explizit bestimmt werden können. Diese werde ich im Folgenden erarbeiten, um den Definitionsrahmen der Begriffe Gewalt und Aggression für die vorliegende Arbeit eindeutig zu bestimmen.

2.2.1 Gewalt, vorhandene Arten und Formen

Um Gewalt definieren zu können, muss sie vom potentiellen Opfer als solche erkannt werden (vgl. Munz 1999, S. 19). Gewalthandlungen sind somit immer an „…das Erleben der von einem bestimmten Verhalten betroffenen Person gebunden…“. Als Grund hierfür muss die Handlung gegen den Willen der betroffenen Person ausgeübt werden und muss ebenfalls eine Abwertung der Person beinhalten.

Die dafür möglichen angewendeten Gewaltformen differenzieren sich in physische, psychische und strukturelle Gewalt (ders, S. 19ff.), wobei anzumerken ist, dass einige Gewaltformen staatlich legitimiert sind (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 18). Dies tritt ein im Fall der Notwehr, der Ausübung des polizeilichen Dienstes oder aber auch in Form von einigen Sportarten, welche Gewalt durch ihre jeweiligen Bestimmungen reglementiert haben.

Physische und psychische Gewalt wird häufig unter dem Oberbegriff personale Gewalt geordnet, da es sich hierbei um von Personen ausgehende Gewalt handelt (vgl. Minarek 2004, S. 7). Physische Gewalt meint dabei alle Handlungen, bei denen ein Individuum körperlichem Zwang (hierzu zählt bereits die Androhung von körperlicher Gewalt (vgl. Böttger 1998, S. 20)) oder Verletzungen ausgesetzt ist, sowie angewandte Gewalt gegen Sachen (vgl. Munz 1999, S. 19f.). Diese Gewaltform ist offensichtlich feststellbar und wird somit am häufigsten registriert. Vor allem die Medien beschränken sich überwiegend auf Berichterstattung mit Grundlage dieser Gewaltdefinition. Psychische Gewalt schließt alle Formen von verbaler und nonverbaler Gewalt ein. Hierunter fällt vor allem das so genannte Mobbing, welches „negative kommunikative Handlungen“ (ders, S. 19) meint, die über einen längeren Zeitraum gegen eine Person gerichtet sind. Diese Form der Gewalt ist subtiler als körperliche Gewalt und wird häufig von Mädchen ausgeübt.

Unter struktureller Gewalt wird allgemein die soziale Ungleichheit als Folge der klassenbedingten Benachteiligung verstanden (vgl. Böttger 1998, S. 20). Hierunter fällt ebenfalls jegliche Form von totalitären oder autoritären Gesellschaftsformen oder Erziehungsstilen (vgl. Struck 2007, S. 19).

Gewalt ist somit eine Kraftform, welche von einer Person zur Schädigung einer anderen Person oder Sache genutzt wird (vgl. Munz 1999, S. 22). Gewalt stellt für die ausführende Person immer zweckgebundenes Handeln dar und lässt sich somit definieren als

„… aktiv vollzogene Handlung, die sich gegen Lebewesen oder im Fall von physischer Gewalt gegen Gegenstände richtet bzw. eine Schädigung und Verletzung im Rahmen sozialer Interaktionen androht.“ (Herv. i. Org., Silkenbeumer 2007, S. 22).

2.2.2 Aggression, vorhandene Arten und Formen

Aggression ist ein von der psychologischen Wissenschaft geprägter Begriff (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 13). Weit gefasst definiert kann er sowohl positiv besetzt sein und gleichgesetzt mit dem Begriff Tatkraft verstanden werden, oder aber negativ begriffen werden, im Sinn von einem Verhalten mit Schädigungsabsicht gegenüber anderen Personen. Um ein Verhalten als eindeutig aggressiv zu bewerten, muss die Person, an welche das gezeigte Verhalten gerichtet ist, dieses als verletzend empfinden (vgl. Scheithauer 2003, S. 17). Es werden mehrere Arten von Aggression nach der jeweiligen Motivation für ihr Auftreten differenziert (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 14). Außerdem wird zwischen Aggressivität als eine Verhaltensdisposition und Aggressionen als gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster unterschieden (vgl. Micus 2002, S. 19). Auch die Art der Schädigung kann unterschieden werden (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 16). So wird die direkte von der indirekten Schädigung unterschieden. Während Männer meist auf die direkte Art, mittels einer Konfrontation, agieren, nutzen Frauen mehrfach die indirekte Art.

Aggression meint somit das Verhalten einer Person, welches in einem gewissen Maß als durchaus normal zu sehen ist, da aggressive Handlungen neben der Schädigung einer anderen Person ebenso dem Schutz der eigenen Person dienen können (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 15).

Bei der Bestimmung der Rangfolge von Gewalt zu Aggression gibt es keine eindeutige Zuweisung. Während Silkenbeumer (2007, S. 22) von einer Unterform der Aggression von Gewalt ausgeht, betrachtet Scheithauer (2003, S. 21) die Gewalt als Unterform von Aggression. Micus (2002, S. 21) stellt beide Begriffe als bedeutungsgleich nebeneinander und differenziert lediglich die Überschneidungen der Definitionen. So geht er davon aus, dass personale Gewalt sowohl die Begriffsbestimmung Aggression als auch die der Gewalt darstellt, während strukturelle Gewalt keinerlei Aggression enthält und nichtgewaltsame Aggression ohne den Gewaltbegriff verstanden werden muss.

Weiterhin muss unterschieden werden zwischen Aggression als gelebtes Verhalten und aggressive Emotion als Gefühlszustand, welche nicht zwangsläufig ausgelebt werden muss (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 15f.). Es wird davon ausgegangen, dass beide Geschlechter das gleiche Aggressionspotential besitzen, jedoch durch die unterschiedliche Sozialisierung geschlechtsspezifische Äußerungsformen haben. Individuen sind demnach nicht prinzipiell aggressiv, sondern äußern lediglich einen Teil ihrer vorhandenen aggressiven Potentiale. Wissenschaftliche Untersuchungen auf diesem Themengebiet können nur das aggressive Verhalten analysieren, nicht jedoch potentielle aggressive Emotionen. Da Frauen jedoch im Gegensatz zu Männern indirekter handeln und auf Grund ihrer Sozialisation darum bemüht sind, ihre Wut zu unterdrücken, ist wenig über die vorhandenen aggressiven Potentiale bei Frauen bekannt.

2.2.3 Jugendgewalt ist überwiegend Jungengewalt

Das Thema Gewalt wird in der Öffentlichkeit, vor allem durch die Medien, häufig als Jugendproblem dargestellt, durch Dramatisierungen unnötig verschärft und durch die Gesellschaft als Furcht einflößend wahrgenommen (vgl. Krafeld 1999, S. 6). Dabei hat die Quantität der durch Jugendliche ausgeführten Gewalt nicht eindeutig zugenommen (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 54). 90% der Gewalttaten werden von Jungen begangen (vgl. Krafeld 1999, S. 15). Weibliche Gewalttäter werden durch ihre Seltenheit als nicht vorhanden wahrgenommen und wird von ihnen berichtet, dann in einer unangemessenen Art und Weise (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 7). Gewalttätige Mädchen werden von der Gesellschaft als männlich begriffen, ihnen wird ihre weibliche Seite abgesprochen, sie werden als unnormal gesehen.

Auch auf Forschungsebene werden gewaltbereite weibliche Jugendliche vernachlässigt (vgl. Lütkes 2002, S. 4). Dies liegt zum einen an der Überpräsenz männlicher gewalttätiger Jugendlicher und zum anderen an der überwiegend subtilen Art von Mädchen, Gewalt anzuwenden (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 57). Denn sie nutzen vorwiegend psychische Gewaltformen, welche unauffälliger und schwerer zu erkennen sind als physische Gewaltformen. Während Jungen bereits im Grundschulalter durch aggressive Verhaltensweisen auffallen, verhalten sich Mädchen überwiegend ruhig und angepasst (vgl. auch Kapitel 4 und 5). Wenden Mädchen Gewalt an, liegen ihre Motive überwiegend im emotionalen Bereich, während Jungen aggressive Handlungen instrumentell zur Wahrung ihres Status oder zur Bereicherung an materiellen Dingen einsetzen (vgl. Scheithauer, 2003, S. 80).

Vorraussetzungen für gewalttätiges Verhalten im Jugendalter sind nach Lütkes (1999, S. 3) vor allem in den verschiedenen Sozialisationsinstanzen zu suchen (vgl. auch Kapitel 3.3). Treten hier Probleme auf, neigen besonders männliche Jugendliche zu aggressivem Verhalten, denn Jungen lernen nach einer Studie von Campbell (1995) in ihrer Sozialisation Gewalt als Mittel der Macht einzusetzen, während Mädchen Gewalthandlungen als Verlust ihrer Selbstkontrolle erleben (vgl. Silkenbeumer 2007, S. 72).

Doch nicht nur die Tätergruppe besteht überwiegend aus männlichen Jugendlichen, ebenso die Opfergruppe ist dementsprechend zusammengesetzt (vgl. Enzmann 2002, S. 8ff.). So bleibt das Phänomen Jugendgewalt in diesem Lebensalter und lässt Erwachsene weitestgehend unbetroffen. Jugendgewalt lässt sich demnach definieren als ein „passages Problem“ (ders.), welches mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter in der Regel aufhört. Lediglich ein kleiner Teil der Jugendlichen, welche sich bereits durch ein früh auffälliges aggressives Verhalten auszeichnen, zeigen ein persistentes Verhalten bis ins Erwachsenenalter hinein.

Die jugendliche Tätergruppe setzt sich demnach überwiegend aus Jungen zusammen, diese lassen sich noch mal nach Herkunftsland differenzieren. Hierbei fällt auf, dass der überwiegende Teil deutscher Herkunft ist (39,9%), gefolgt von Jugendlichen türkischer Herkunft (26,8%) (ders, S. 13). Diese Zahlen gehen aus einer von dem Kriminologischen Institut Niedersachen 1998 durchgeführten Akteneinsicht hervor.

Jugendgewalt ist demnach tatsächlich überwiegend Jungengewalt. Doch folgt nun die Frage, warum auch Mädchen gewalttätig werden, oder anders ausgedrückt: Warum werden nicht genauso viele Mädchen wie Jungen gewalttätig? Wo liegt der geschlechtsspezifische Unterschied bei der Ausbildung von aggressivem Verhalten? Gerade vor dem Hintergrund, dass beide Geschlechter das gleiche Aggressionspotential in sich tragen (vgl. Kapitel 2.2.2), bedarf diese Frage einer genaueren Untersuchung.

3. Welche Funktionen kann das Ausüben von Gewalt haben?

Das folgende Kapitel beleuchtet verschiedene Theorien von drei ausgesuchten wissenschaftlichen Richtungen bezüglich der Frage, welche Funktionen das Ausüben von Gewalt haben kann. Jede Forschungsrichtung hat eigene Theorien zu diesem Themenbereich aufgestellt. Die für diese Arbeit bedeutsamen werden hier vorgestellt und gegeneinander aufgewogen, um eine möglichst genaue Antwort auf die Eingangsfrage zu erreichen.

3.1 Aus psychologischer Perspektive

Theorien aus der Psychologie gehen verallgemeinert gesprochen von dem Ansatz aus, dass die Impulse eines Individuums zur Entfaltung seiner Persönlichkeit vom Organismus selbst kommen (vgl. Hurrelmann 2007, S. 49). Die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt sich somit von innen heraus.

3.1.1 Aggression als Triebhandlung

Nach der Trieb- und Instinktlehre von Freud (1920) und Lorenz (1963) ist die Aggression eine Form des Verhaltens, das durch dem Individuum angeborene Instinkte[5] oder Triebe[6] gesteuert wird (vgl. Lind 1993, S. 8f.). Freud geht von einem angeborenen Todestrieb (Thanatos) aus, welcher sich in unterschiedlichen Aggressionsformen ausdrückt und das Gegenstück zu dem Lebenstrieb (Eros) darstellt (vgl. Micus 2002, S. 31). Lorenz nennt diesen Trieb Aggressionsinstinkt, meint damit allerdings dasselbe wie Freud (vgl. Lind 1993, S. 8f.).

Dieser Trieb richtet sich zunächst gegen die eigene Person, um diese nicht selbst zu zerstören (Destruktion) gilt es, die Aggressionen gegen andere Menschen oder Gegenstände zu richten (ders.). Nach diesem Schema sind Gewalthandlungen in einem bestimmten Turnus als normal gegeben und als unabänderbar hinzunehmen.

Um bei der Triebbefriedigung andere Personen nicht zu verletzten oder Gegenstände zu beschädigen, bedarf es einer Ersatzhandlung, der so genannten Katharsis (ders.). Freud meint hiermit eine Sublimierung der Gewalt, welche durch eine Abreaktion auf anderem Weg, wie zum Beispiel sportlicher Betätigung, erreicht werden kann. Diese Theorie lässt sich jedoch durch experimentelle Studien nicht bestätigen. Nach Lind führen aggressive Ersatzhandlungen nicht zu einer Minderung der Aggression, sondern zu einer weiteren Steigerung.

In Bezug auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede des Aggressionsverhaltens hält Freud fest

„…, dass der Todestrieb vor allem dem männlichen Individuum innewohnt und die Frau qua Natur das friedfertige Geschlecht ist.“ (Micus 2002, S. 35).

Er geht also von der Annahme aus, dass Frauen durch ihre genetisch vorhandene Geschlechtsidentität ein geringeres Aggressionspotential mitbringen. So lässt sich weiter ausführen, dass es nach der Lehre von Freud und Lorenz eher unwahrscheinlich ist, dass sich weibliche Jugendliche aggressiv verhalten. Tritt dies dennoch auf, so kann man dieses Verhalten als biologische Abweichung, als unnormales Benehmen bezeichnen, welche als nicht veränderbar gilt.

3.1.2 Aggressionen zum Frustrationsabbau

Die Aggressions – Frustrations – Hypothese (1939 von einer amerikanischen Forschgruppe um Dollard postuliert) lehnt Aggression als Folge eines angeborenen Triebes ab (vgl. Micus 2002, S. 41). Sie besagt, dass jedes aggressive Verhalten als Ursache ein Frustrationserleben hat und ein Individuum folglich auf jede Art von Frustration[7] mit Aggression reagieren kann (vgl. Lind 1993, S. 9). Sie stellt somit einen Gegenpol zu der Trieb- und Instinktlehre dar, welche aggressives Verhalten als eine Art angeborenen Trieb versteht.

Die von der Yale-Gruppe untersuchten Probanden zeigten bei Wut, Ärger oder Angst eine signifikant höhere Aggressionsbereitschaft (vgl. Zeltner 1993, S. 76). Werden Aggressionen verdrängt, sind sie oftmals Auslöser für Ersatzhandlungen. Diese bestehen meist in einem Angriff auf Schwächere, wie zum Beispiel ethnische Minderheiten oder Frauen. Je nach sozialem Hintergrund und situativer Konstellation wird Frustration jedoch anders verarbeitet. Hier kommt es auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Individuums an mit Frustration umzugehen. Diese werden im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung erlernt und stellen die Basis für einen möglichst stressfreien Umgang mit Frustrationen oder anderen problematischen Situationen dar.

Nach dieser Theorie mündet aggressives Verhalten aus einem Frusterlebnis (vgl. Lind 1993, S. 10). Demnach müssten, um diese Art von Verhalten zu umgehen, Frustrationserlebnisse umgangen werden, dies ist jedoch nicht möglich. Daher kommt auch in dieser Hypothese die Katharsisfunktion als Ausweg zum Tragen (vgl. Micus 2002, S. 44). Um einen Aggressionsstau zu vermeiden, muss die vorhandene Aggressivität an anderer Stelle abgebaut werden. Doch wie bereits in Kapitel 3.1.1 dargestellt, ist der Nutzen einer solchen Handlung bisher experimentell noch nicht nachgewiesen worden.

Die Aggressions – Frustrations – Hypothese leitet aggressives Verhalten demnach als eine Folge von Frustration in Kombination mit dem jeweiligen situativen Kontext ab. Dies eröffnet die Möglichkeit der Einflussnahme auf das Auftreten der Aggressivität. Derlei Handlungen sind also nicht wie nach Freud und Lorenz triebbestimmt und somit unabänderbar, sondern nach Dollard et al. durchaus beeinflussbar. Allerdings geht die Yale-Gruppe nicht explizit auf geschlechtspezifische Verhaltenweisen ein, was an dieser Stelle eine Darstellung der Unterschiede erschwert. Doch kann davon ausgegangen werden, dass Mädchen und Jungen gleichermaßen mit dem Erleben von Frust umzugehen lernen müssen, woraus sich schlussfolgern lässt, dass ein unterschiedliches Ausleben an aggressiven Handlungen nicht durch das Geschlecht, sondern den situativen Kontext beeinflusst wird.

[...]


[1] Hier beziehe ich mich vor allem auf Hurrelmann (1999).

[2] Unter sozialen Ressourcen werden Schutzfaktoren, wie zum Beispiel soziale Unterstützung verstanden, personale Ressourcen benennen den vorhandenen Freundeskreis (vgl. Silkenbeumer 2000, S. 51).

[3] Diese Annahme geht aus der Vermutung hervor, dass Personen, welche von ihrer Umwelt ständig mit demselben Attribut beschrieben werden, dieses im Laufe einer Sich-Selbst-Erfüllenden Prophezeiung in ihre eigene Persönlichkeitsidentifikation aufnehmen (vgl. Kapitel 3.2.).

[4] Im Folgenden werden die Begriffe Peergroup, Gleichaltrigengruppe und Clique synonym zueinander gebraucht. Sie bezeichnen eine Gesellungsform Jugendlicher, die vor allem gemeinsamen Freizeitaktivitäten dient (vgl. Silkenbeumer 2007, S. 36).

[5] Der Begriff Instinkt wird hier synonym zu dem Begriff Trieb genutzt.

[6] Triebe sind im Es sitzende angeborene Bedürfnisse, welche unter allen Umständen ihre Befriedigung fordern (vgl. Micus 2002, S. 29). Das Es ist eine der drei Instanzen des psychischen Apparates, welches alles Angeborene enthält. Die Instanzen Ich und Über-Ich bilden sich im Laufe der Kindheit aus und stellen die eigene Person sowie vorgegebene Normen der Gesellschaft und Vorgaben der Eltern dar.

[7] Frustration stellt eine Behinderung der Bedürfnisbefriedigung dar (vgl. Lind 1993, S. 9).

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Zur Funktion von Gewalt. Gewalthandlungen als Beitrag zur Entwicklung und Ausdruck von Geschlechteridentität bei Mädchen
Hochschule
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta  (Institut für Soziale Arbeit, Bildungs- und Sportwissenschaften)
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
84
Katalognummer
V280817
ISBN (eBook)
9783656742876
ISBN (Buch)
9783656742852
Dateigröße
700 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
funktion, gewalt, gewalthandlungen, beitrag, entwicklung, ausdruck, geschlechteridentität, mädchen
Arbeit zitieren
Yvonne Zander (Autor:in), 2009, Zur Funktion von Gewalt. Gewalthandlungen als Beitrag zur Entwicklung und Ausdruck von Geschlechteridentität bei Mädchen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/280817

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