Die Salutogenese nach A. Antonovsky und der Stellenwert der Psychomotorik für Gesundheitsförderung im Kindesalter


Diplomarbeit, 2004

95 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. SITUATIONSANALYSE
2.1 Wandel der kindlichen Lebenswelt
2.1.1 Urbanisierung
2.1.2 Institutionalisierung
2.1.3 Mediatisierung
2.1.4 Kosumorientiertheit
2.2 Bewegungsmangel als Folge der veränderten Lebenswelt
2.2.1 Körperliche Auswirkungen von Bewegungsmangel
2.2.2 Psycho-soziale Auswirkungen von Bewegungsmangel
2.3 „Realität oder Panikmache?“ - Analyse der empirischen Datenlage zum Gesundheitszustand unserer Kinder heute

3. GESUNDHEIT UND GESUNDHEITSFÖRDERUNG
3.1 Was ist Gesundheit?
3.1.1 Historische Entwicklung des Gesundheitsbegriffs
3.1.2 Ganzheitliches Verständnis von Gesundheit
3.2 Was ist Gesundheitsförderung?
3.2.1 Begriffsdifferenzierung
3.2.2 Kritik an den pathogenetisch orientierten Präventionsmaßnahmen
3.3 Zwischenfazit

4. DAS MODELL DER SALUTOGENESE NACH ANTONOVSKY
4.1 Gesundheit und Krankheit
4.2 Das Kohärenzgefühl
4.2.1 Verstehbarkeit
4.2.2 Handhabbarkeit
4.2.3 Bedeutsamkeit
4.2.4 Entwicklung des Kohärenzgefühl
4.3 Generalisierte Widerstandsressourcen
4.4 Stressoren und Spannungsregulation
4.5 Der Einfluss des Kohärenzgefühl auf die Gesundheit
4.6 Bewertung und Stand der empirischen Fundierung

5. STELLENWERT DER PSYCHOMOTORIK FÜR DIE GESUNDHEITSFÖRDERUNG IM KINDESALTER
5.1 Historische Entwicklung der Psychomotorik
5.2 Grundannahmen
5.2.1 Entwicklung als Person – Kontext – Interaktion
5.2.2 Die Bedeutung von Bewegungserfahrungen
5.2.3 Die Bedeutung der Wahrnehmung
5.3 Ziele und Inhalte
5.3.1 Förderung der Ich-Kompetenz durch Körpererfahrung
5.3.2 Förderung der Sach-Kompetenz durch Materialerfahrung
5.3.3 Förderung der Sozial-Kompetenz durch Sozialerfahrung
5.4 Bezugstheorien
5.4.1 Identität und Selbstkonzept
5.4.2 Die Theorie der kognitiven Entwicklung nach Piaget
5.4.3 Weitere Theorien
5.5 Zwischenfazit zum Konzept der Psychomotorik
5.6 Gesundheitsfördernde Elemente der Psychomotorik
5.6.1 Stärkung des Kohärenzgefühls
5.6.2 Aufbau generalisierter Widerstandsressourcen
5.7 Konsequenzen für die Praxis
5.7.1 Leitlinien der Gesundheitsförderung im Elementarbereich
5.7.2 Praktische Beispiele für die Gesundheitsförderung im Elementarbereich

6. SCHLUSSBETRACHTUNG

7. LITERATURVERZEICHNIS

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Themenkomplex der Gesundheit und Gesundheitsförderung im Kindesalter. Verfolgt man die aktuellen Diskussionen zu dieser Thematik in der medialen Berichterstattung oder auch in einschlägigen Fachpublikationen, kommt man auf den ersten Blick zu dem Schluss, dass der Gesundheitszustand der heutigen Kinder besorgniserregend zu sein scheint. Vielerorts sind Schlagzeilen zu lesen wie: „Kinder bewegen sich zu wenig“, „sind zu dick“, „können sich nicht konzentrieren“ und „leiden verstärkt unter Verhaltensauffälligkeiten!“. Dieser öffentliche Tenor wird durch Aussagen von Fachleuten, wie z.B. E.J. Kiphard (1997), gestützt, der die aktuelle Situation folgender Maßen charakterisiert.

„Wir laufen Gefahr, dass unsere Kinder und Jugendlichen sich zu einer Generation von Weichlingen, Schlaffis und Stubenhockern zurück entwickeln. […] Unsere Volksgesundheit ist in Gefahr. […] Noch nie waren unsere Kinder so ungeschickt wie heute, […] [sie] können kaum noch kraftvoll auf einem Bein hüpfen, geradeaus rückwärts gehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, geschweige denn rückwärts balancieren“ (ebd., 49ff).

Immer häufiger wird von dem Anstieg von Degenerationserscheinungen, wie Haltungsschäden, Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Schwächen, Allergien oder Koordinationsschwächen, bereits im Kindesalter berichtet. So scheint es der modernen Medizin zwar immer besser zu gelingen Infektions- und Kinderkrankheiten in den Griff zu bekommen und so zu einer Verbesserung des kindlichen Gesundheitszustands beizutragen, allerdings treten jetzt an deren Stelle, laut Medien, die sogenannten Zivilisationskrankheiten. Verantwortlich für diese defizitäre Gesundheitslage wird der allgegenwärtig postulierte Bewegungsmangel der jungen Generation gemacht. So lässt sich in einem Bericht der WHO/FIMS (1994) lesen, dass körperliche Inaktivität zu den Faktoren gehört, die am häufigsten einen frühzeitigen Tod bedingen und zu Todesraten in ähnlichen Dimensionen wie das Rauchen führt (vgl. ebd., 26). Aufgrund solcher Erkenntnisse ist es verständlich, dass es immer mehr Stimmen gibt, die dazu aufrufen, diesem „gefährlichen“ Trend entgegenzuwirken.

Gefordert werden folglich Maßnahmen, die den Bewegungsmangel von Kindern kompensieren und so zu einer Verbesserung des momentanen und zukünftigen Gesundheitszustands führen. Aus dieser Forderung ergibt sich eine zentrale Fragestellung dieser Arbeit: Wie kann eine kindgemäße Gesundheitsförderung unter Berücksichtigung des Aspekts der mangelnden Bewegungserfahrungen im Kindesalter aussehen?

Vor der Bearbeitung dieser Fragestellung soll jedoch geklärt werden, welche Faktoren für den Bewegungsmangel in der Kindheit verantwortlich gemacht werden. In Kapitel 2 wird es daher darum gehen, die kindliche Lebenswelt in Bezug auf ihre Entwicklungs- und Bewegungsmöglichkeiten zu analysieren. Dabei wird zunächst der Wandel der kindlichen Lebensbedingungen beschrieben und anschließend dargestellt, welche gesundheitlichen Konsequenzen sich daraus für Kinder konkret ergeben können. Dieser Abschnitt wird sich größten teils bewusst an den tendenziell einseitig und defizitär geprägten Darstellungen in der Öffentlichkeit orientieren, um die aktuelle Stimmung in Bezug auf diese Thematik widerzuspiegeln. In einem weiteren Schritt gilt es dann zu klären, inwieweit die aktuelle Berichterstattung auch der empirischen Überprüfung standhält, also um die Frage: „Panikmache oder besorgniserregende Realität?“. Ist der Gesundheitszustand der heutigen Kinder wirklich so „katastrophal“ wie es auf den ersten Blick den Anschein hat oder hat sich eine übertriebene Defizithypothese aufgebaut, die objektiv betrachtet nicht haltbar ist?

Weiterhin gilt es im Vorfeld eines Entwurfs kindgemäßer Gesundheitsförderung zu erläutern, was eigentlich unter den Begriffen Gesundheit und Gesundheitsförderung zu verstehen ist. Dieser Thematik widmet sich das 3. Kapitel. Ausgehend von dem historischen Wandel der inhaltlichen Bedeutung des Wortes Gesundheit wird eine Definition folgen, an der sich diese Arbeit orientiert. Gleichermaßen wird der Begriff der Gesundheitsförderung inhaltlich spezifiziert. In einem zweiten Schritt gilt es dann aufzuzeigen, wieso sich die bisherigen, häufig pathogenetisch orientierten Maßnahmen zur Vermeidung bzw. zur Kompensation von Bewegungsmangel und den daraus resultierenden Zivilisationskrankheiten im Kindesalter als nicht zweckmäßig erweisen. Auf Grundlage dieser Kritik gilt es weiterhin zu überlegen, wie sinnvolle und kindgemäße Gesundheitsförderung stattdessen aussehen könnte.

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, beschäftigt sich das 4. Kapitel mit dem Konzept der Salutogenese des amerikanisch-israelischen Gesundheitssoziologen Aaron Antonovsky. Dieses Modell soll den praktischen Ausführungen zur Gesundheitsförderung im 5. Kapitel als theoretische Grundlage dienen. Es zeigt, im Vergleich zu den Auffassungen der westlichen Medizin, ein völlig neues Verständnis von Gesundheit auf, aus welchem sich aufschlussreiche Konsequenzen für die Gesundheitsförderung im Kindesalter ableiten lassen. Wie bereits angedeutet stellt die Salutogenese ein theoretisches Konzept dar und bietet nur wenige Anregungen für eine konkrete Praxis der Gesundheitsförderung.

Diese Lücke soll durch das praxisnahe Konzept der Psychomotorik geschlossen werden und so auch der Bogen zum Titel dieser Arbeit geschlagen werden: Der Stellenwert der Psychomotorik für die Gesundheitsförderung im Kindesalter.

Das 5. Kapitel beschreibt zunächst die Grundlagen der Psychomotorik und die Ziele und Inhalte, die dieses Konzept verfolgt. Anschließend gilt es zu überprüfen, inwieweit sich die Methoden der Psychomotorik als geeignet für die Gesundheitsförderung im Kindesalter im Sinne des salutogenetischen Gedankenguts erweisen. Es gilt die Frage zu beantworten, ob Psychomotorik ein probates Konzept darstellt, mit dem den gesundheitsbedrohlichen Tendenzen aus der Lebenswelt entgegengewirkt werden kann.

Ferner soll unter Berücksichtigung der Konzepte der Salutogenese und der Psychomotorik überlegt werden, welche allgemein gültigen Leitlinien sich für eine sinnvolle, kindgemäße und ganzheitliche Gesundheitsförderung aus diesen ableiten lassen und wie eine praktische Umsetzung dieser Grundsätze aussehen könnte.

In meinen Ausführungen und Überlegungen zur Gestaltung von angemessenen gesundheitsförderlichen Massnahmen fokussiere ich grundsätzlich keine spezielle kindliche Zielgruppe mit einem bestimmten Förderbedarf. Die hier ausgeführten Leitlinien sollen als Grundsätze verstanden werden, die für eine positive und gesunde Entwicklung eines jeden Kindes als elementar zu betrachten sind. Aus diesem Grund beziehen sich die gegen Ende dargestellten Praxisanregungen auch auf Maßnahmen, die im Kindergartenbereich angesiedelt sind und so die Mehrzahl aller Kinder erreichen.

Abschließend sei anzumerken, dass in dieser Arbeit ein möglicher verhaltensorientierter Weg zur Gesundheitsförderung im Kindesalter aufgezeigt werden soll. In der Realität bedarf es jedoch ebenso der Beachtung weiterer Dimensionen. So dürfen z.B. die äußeren Rahmenbedingungen nicht übersehen werden. Hier gilt es besonders, die Verantwortlichen im Bereich der Politik dafür zu sensibilisieren, eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik zu realisieren und für die Verbesserung von Lebensumständen Sorge zu tragen. Eine zusätzliche Bearbeitung dieser Thematik würde jedoch im Rahmen dieser Arbeit zu weit führen.

2. Situationsanalyse

In einem ersten Schritt soll zunächst die Frage geklärt werden, inwiefern der Gegenstand der Gesundheitsförderung überhaupt eine Relevanz für die ausgewählte Zielgruppe besitzt. Brauchen Kinder eine gezielte Förderung, um sich gesund entwickeln zu können? Die eingangs zitierten Aussagen lassen dies stark vermuten. Daher wird es im zunächst, um eine Analyse der kindlichen Lebensbedingungen und den daraus resultierenden gesundheitsgefährdenden Faktoren gehen.

2.1. Wandel der kindlichen Lebenswelt

Noch nie waren Kinder so reich an Möglichkeiten und materieller Ausstattung für ihre Freizeitgestaltung wie heute und „gleichzeitig so arm an Möglichkeiten, sich ihrer Umwelt über die Sinne, ihren Körper selbstständig zu bemächtigen“ (Zimmer 2002a, 17). In dieser Aussage kommt die Kritik, die vielerorts über die aktuellen Lebensbedingungen der heutigen Kinder geäußert wird, deutlich zum Vorschein. Zudem verweist sie auf die äußerst polaren Tendenzen, denen Kinder in der heutigen Zeit ausgesetzt sind. Bewegungs- und körperfeindliche Bedingungen stehen einem expandierenden Angebot an institutionalisierten Beschäftigungs- und Sportangeboten gegenüber (vgl. Größing 1993, 121). Für diese Entwicklung werden verschiedene Bedingungsfaktoren verantwortlich gemacht, die im Folgenden näher beschrieben werden sollen.

2.1.1 Urbanisierung

Mit dem Begriff Urbanisierung ist die Verstädterung, also eine Vermehrung, Ausdehnung oder Vergrößerung von Städten gemeint. Damit einher geht die Verdichtung von Siedlungen und der Anstieg der Einwohnerzahl in diesen (vgl. net-lexicon 2004). Diese Tendenz hat entscheidende Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung in der heutigen Zeit. Zwei wesentliche Effekte, die als Resultat der Urbanisierung angesehen werden können, sollen im Folgenden kurz beschrieben werden.

Verhäuslichung

Mit Verhäuslichung ist der allgemeine Trend der Verlagerung des Spiel- und Freizeitraums von draußen nach drinnen gemeint. Besonders Anfang des 20. Jahrhunderts und nach dem zweiten Weltkrieg existierte in Deutschland eine ausgeprägte Straßenspielkultur. Bedingt durch den weitgehend zerstörten Wohnraum und dem Fehlen von institutionalisierten Spielorten, machten sich die Kinder und Jugendliche aller Alterstufen die Trümmerlandschaften zu Eigen. In dieser Umgebung konnten Kinder frei von Verkehr und elterlicher Kontrolle die nähere und später auch weitere Umgebung erkunden und sich aneignen (vgl. Rolff/Zimmer- mann 1997, 79). Aneignen meint in diesem Zusammenhang, dass Kinder eine Beziehung zu ihrer Umwelt aufbauen und ihr eine eigene Bedeutung verleihen. Dieser Prozess setzt die Möglichkeit voraus, verändert und umfunktionalisierend auf seine Umgebung einwirken zu können, so dass das Kind neue Bedeutungszusammenhänge entdecken kann (vgl. Fischer 2001, 68).

Mit dem Aufbau neuer Städte und Siedlungen in den 60er Jahren verschwanden die freien Flächen und Straßen immer mehr, der Autoverkehr nahm zu und steigt stetig weiter an. Heute hat sich diese Tendenz noch weiter verschärft. Der überwiegende Teil der deutschen Städte zeichnet sich durch eine nicht kindgemäße bzw. kinderfeindliche Gestaltung aus (vgl. ebd., 73). Es gibt kaum noch Flächen, die für Kinder frei zugänglich sind. Die Funktionalität steht im Vordergrund, so dass Straßen und Parkplätze Priorität vor Wiesen, Seen und Bolzplätzen haben. Öffentliche Grünflächen, falls vorhanden, dienen lediglich zur Verschönerung des Stadtbildes und sind in der Regel mit einem „Betreten verboten“ Schild versehen (vgl. Köckenberger 1999, 32). Kinder werden auf eigens für sie vorgesehenen Spielplätzen separiert, die von Zäunen und Bänken für die aufpassenden Eltern umsäumt sind. So stehen sie immer unter deren Kontrolle. Sowohl der Kontrollaspekt als auch die Monofunktionalität der dort zur Verfügung stehenden Geräte wirkt sich negativ auf die Eigeninitiative und das explorative, kreative und phantasiereiche Spiel der Kinder aus (vgl. ebd., 32).

Die Straßen selber, früher primärer Ort kindlicher Sozialisation, sind aufgrund des enormen Verkehrsaufkommens zu gefährlich für Kinder geworden, so dass Eltern das Spielen dort häufig nicht mehr zulassen. „Im Jahr 1999 verunglückten fast 49000 Kinder auf Deutschlands Straßen“ (Rolff/Zimmermann 1997, 85). Diese eindrucksvolle Zahl macht deutlich, dass die Errungenschaft des Autos zwar für Erwachsene Unabhängigkeit bedeutet, für Kinder jedoch das Gegenteil. Sie können nur noch eingeschränkt frei und sicher ihre Umwelt erobern und sind zum Erreichen von bestimmten Orten häufig auf die Eltern angewiesen (vgl. ebd., 85).

Als einen weiteren Aspekt, der zur Verhäuslichung beiträgt, sind die veränderten Wohnbedingungen zu nennen. Die Wohnform Hochhaus ist in ihrer Wirkung auf das kindliche Spielverhalten nicht zu unterschätzen. So konnte Folgendes nachgewiesen werden:

„je höher die Wohnung liegt, umso häufiger spielt das Kind in der Wohnung und umso seltener wird der Hausflur zum Spielen einbezo- gen […] Das bedeutet zusammengenommen, dass die Kinder aus Hochhäusern in ihren Kontaktmöglichkeiten zu anderen Kindern […] benachteiligt sind“ (Mundt zit. n. Rolff/Zimmermann 1997, 81).

Dies ist auf der einen Seite dadurch zu erklären, dass Mütter in Hochhäusern ihre Kinder, welche draußen spielen, nicht durch das Fenster beaufsichtigen können (vgl. ebd., 80). Auf der anderen Seite ist der Weg vom siebten Stock bis zur Straße und zurück oft zu weit für Kleinkinder (zumal, wenn sie noch nicht groß genug sind, um den Fahrstuhl selber bedienen zu können). So sind gerade Kleinkinder dazu gezwungen isoliert in der Wohnung zu spielen. Allerdings sind die wenigsten Mietwohnungen auf die Bewegungsbedürfnisse von Kindern ausgelegt. Meistens sind die Kinderzimmer die kleinsten Räume in der Wohnung, welche sich dann lediglich zum Spiel mit vorfabriziertem Spielzeug oder bewegungsarmen Aktivitäten, wie Computer oder Fernsehen, eignen (vgl. ebd., 84).

Es lässt sich also festhalten, dass aufgrund der gerade beschriebenen Entwicklungen Kinder weitestgehend von den öffentlichen Plätzen und Straßen vertrieben werden und in eigens für sie vorgesehene, kontrollierbare Bereiche, sei es Spielplätze, Institutionen für Kinder und Jugendliche oder ihr eigenes Kinderzimmer, gedrängt werden. Dies hat zur Folge, dass eine aktive und selbstbestimmte Aneignung der Lebenswelt kaum noch möglich ist. Dies wird auch im folgenden Abschnitt deutlich, der sich mit dem Thema Verinselung auseinandersetzt.

Verinselung

Um verständlich zu machen was unter dem Begriff Verinselung zu verstehen ist, bietet es sich an, kurz den bereits angerissenen Wandel der räumlichen Bedingungen, in denen Kindern von der Nachkriegszeit bis heute aufgewachsen sind nachzuzeichnen.

Zeiher (1991) beschreibt, dass es durch die Kriegsschäden zu einer weitgehenden Auflösung von funktionsorientierten bzw. spezialisierten Räumen kam. Sowohl Kinder als auch Erwachsene mussten sich ihre räumliche Umwelt für die jeweiligen Bedürfnissen passend machen. Für Kinder lag hier aber auch ein bestimmter Reiz bzw. ein enormes Entwicklungspotenzial. Sie konnten in konstruktiver Weise verändernd auf ihre unmittelbare Umwelt einwirken und sich diese allmählich, mit zunehmendem Alter, in „erweiternden konzentrischen Kreisen“ aneignen (s. Abb.1) (vgl. Fischer 2001, 71; Pfeil n. Zeiher 1991, 187). Kinder konnten zunächst ihren direkten Lebensraum, also die Wohnung, erkunden und dann Schritt für Schritt den näheren und schließlich auch den weiteren Lebensraum (vgl. Zeiher 1991, 187f).

Daraus ergibt sich ein „Modell des einheitlichen Lebensraums“, indem alle Einzelsegmente in einem klaren und nachvollziehbaren räumlichen Zusammenhang zu einander stehen (vgl. ebd., 187).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Erweiterung der Streifräume in den Vorkriegsjahren

(Haunert In: Fischer 2001, 71)

Mit der Spezialisierung von Orten auf bestimmte Funktionen und der zunehmenden Institutionalisierung und Verplanung der kindlichen Freizeitgestaltung geht eine „Verinselung des Lebensraums“ einher (s. Abb.2). Kinder suchen heute für bestimmte Tätigkeiten speziell dafür vorgesehene Orte, wie z.B. den Kindergarten, den Sportverein oder die Musikschule auf. Diese sind jedoch weiter von einander entfernt und können oft nur mit dem Auto erreicht werden. Die Wege dazwischen kann das Kind sich also nicht eigenständig erschließen, so dass es auf einzelnen Inseln lebt, die für das Kind keinerlei räumlichen Zusammenhänge aufweisen (vgl. Zeiher 1991, 187f).

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Abb. 2: Vermischung der Lebensbereiche (Haunert In: Fischer 2001, 72)

Die Konsequenz zeigt sich in einer „Entsinnlichung des Lebensraumzusammenhangs“, da nur noch einzelne Teilräume und keine sinnlichen Einheiten mehr erfahrbar sind (vgl. Zeiher 1991, 188). Verstärkt wird diese Tendenz zudem noch durch den technischen Fortschritt, der die Relationen zwischen nah und fern für Kinder gänzlich verschwimmen lässt. Mit dem Auto oder dem Flugzeug ist man in kürzester Zeit an weit entfernten Orten. Mittels Telefon oder dem Internet lässt sich auch problemlos Kontakt zu Menschen aus dem Ausland herstellen und der Fernseher bringt einem Bilder aus der ganzen Welt direkt ins Wohnzimmer und macht diese somit zum „Pseudo-Lebensraum“ (vgl. ebd., 188). In diesem verinselten Lebensraum ist spontanes Handeln für Kinder kaum möglich, da sie eigenständig selten die Insel erreichen können, in der sie der Tätigkeit nachkommen können, zu der sie gerade Lust haben. Darüber hinaus wirkt sich dieses Lebensraummodell auch auf die Ausbildung und Gestaltung sozialer Kontakte aus. Kinder haben nicht mehr die Möglichkeit selber über die Häufigkeit und Dauer des Zusammentreffens mit sozialen Interaktionspartnern zu bestimmen, weil diese evtl. nur Teil einer bestimmten Insel sind, die das Kind aber nur einmal in der Woche für 90 Min. aufsucht (z.B. beim Fußballtraining). Zum anderen können Kinder so Konflikten oder unangenehmen Situationen einfacher ausweichen, indem sie die besagte Insel einfach nicht mehr aufsuchen. Dies ist bei einem einheitlichen Lebensraummodell wesentlich schwieriger, da man z.B. Begegnungen mit Kindern aus der Nachbarschaft schlechter entgehen kann (vgl. ebd., 189).

Es sei noch anzumerken, dass die beiden beschriebenen Lebensraummodelle Reinformen darstellen, die in dieser Ausschließlichkeit wahrscheinlich nicht in der Realität vorzufinden sein werden. Zeiher (1991) geht eher von dem Auftreten von Mischformen aus (vgl. ebd., 190).

2.1.2 Institutionalisierung

Die beiden zuvor beschriebenen Tendenzen der „Verhäuslichung“ und „Verinselung“ hängen stark mit der zunehmenden Institutionalisierung der heutigen Kindheit zusammen. Dieser Begriff verweist auf die Tatsache, dass Kinder einen großen Teil ihrer Zeit in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, wie z.B. der Schule, dem Hort oder dem Kindergarten verbringen. Hinzu kommt, dass Kinder auch vermehrt ihre eigentliche Freizeit „unter institutionalisierten Bedingungen verbringen“ (Nissen 1998, 168). Es existieren diverse Freizeitangebote von verschiedenen Anbietern, über Vereine bis zu kommerziellen Anbietern, die sich alle durch ähnliche Merkmale sowohl in Bezug auf die zeitliche Struktur als auch auf die personale Zusammensetzung auszeichnen. Bedingt wird diese Entwicklung zum einen, wie bereits unter dem Punkt Verhäuslichung beschrieben, durch den Mangel an frei zugänglichen öffentlichen Plätzen für Kinder. Dieser führt dazu, dass Kinder in speziell für sie konzipierte Areale separiert werden. Zum anderen finden Kinder, je nach Wohnlage, nicht automatisch andere Kinder in ihrem direkten Umfeld zum Spielen. Wollen Eltern die sozialen Beziehungen ihrer Kinder dennoch bahnen, werden diese häufig in dafür vorgesehenen Institutionen arrangiert. Gefördert werden sollen jedoch nicht nur die sozialen Beziehungen, sondern auch jegliche Fähigkeiten des Kindes in bestmöglicher Weise. Dieses Postulat der optimalen, breit gefächerten Förderung, das in den 60er Jahren entstand, führte zu einer regelrechten „’Inszenierung der Kindheit’, d.h. zu einem immer größer werdenden Angebot an Klavier- und Reitstunden, Tenniskursen und geplanten pädagogischen Spielaktionen“ (Beck-Gernsheim zit. n. Nissen 1998, 169).

An dieser Stelle kommt auch zum Ausdruck was häufig mit den Begriffen „verplante Kindheit“ oder „Pädagogisierung von Kindheit“ beschrieben wird. Schon Kindergarten- oder Grundschulkinder verfügen über einen vollen Terminkalender, so dass wenig Raum für selbstgestaltete Freizeit außerhalb elterlicher oder pädagogischer Kontrolle bleibt (vgl. Nissen 1998, 164ff).

2.1.3 Mediatisierung

Der unter dem Punkt Verhäuslichung beschriebene Trend von draußen nach drinnen wird auch durch einen stärkeren Medienkonsum, in besonderem Maße durch das Fernsehen, bedingt. Mittlerweile besitzen fast 100% der deutschen Haushalte ein Fernsehgerät und über 90% einen Videorecorder. Laut der GFK-Fernsehforschung saßen im Jahr 1999 Kinder im Alter zwischen 6-13 Jahren durchschnittlich 97 Minuten pro Tag vor dem Fernseher (vgl. Rolff/Zimmermann 1997, 96). Nun stellt sich die Frage welche Konsequenzen sich aus dieser Tatsache für die kindliche Entwicklung ableiten lassen.

Zunächst bindet Fernseh schauen einen enormen Teil der kindlichen Freizeit an innerhäusliche Aktivitäten. Verstärkt wird also, wie bereits erwähnt, die Tendenz zur Verhäuslichung oder wie Rolff/Zimmermann (1997) es beschreiben: „Fernsehen domestiziert also eine Masse von Kindern in bisher unbekanntem Ausmaße“ (ebd., 98). Diese an das Fernsehen gebundene Zeit geht für andere Aktivitäten wie z.B. Basteln oder gemeinsam mit Freunden draußen spielen und sich bewegen verloren.

Damit einher geht ein wesentlicher Kritikpunkt des exzessiven Fernsehkonsums – Der Verlust der Eigentätigkeit und die Bevorzugung rezeptiver Tätigkeiten. Eigentätigkeit unter Einbeziehung aller Sinne, nicht nur der visuellen und akustischen Ebene, ist aber eine wesentliche Voraussetzung zur Aneignung und zum Verstehen der Welt. Auf diesen Aspekt wird an späterer Stelle noch einmal genauer eingegangen (s. Punkt 5.2.1) (vgl. ebd., 97).

Außerdem verändert sich durch die Medien die Art und Weise der Wissensaneignung. Bevor es das Fernsehen gab, mussten sich Kinder ihre Welt durch eine verbal-argumentative Wortkultur aneignen. Das Erzählen von Geschichten appelliert z.B. an die Vorstellungskraft und Phantasie der Kinder. Sie mussten die Bilder im Kopf dazu erst selber entstehen lassen. Mit dem Einzug der Medien, insbesondere des Fernsehens, tritt dagegen immer mehr eine Bildkultur anstelle der Wortkultur. Das Kind bevorzugt somit zunehmend eine ikonische, also bildhafte Aneignungsweise, welche kaum noch Eigentätigkeit verlangt. Das Fernsehen setzt fertige Bilder vor, die nicht mehr selber interpretiert werden müssen. Die Vorstellungskraft der Kinder wird nicht mehr herausgefordert, so dass die Ausbildung wichtiger kognitiver Funktionen, wie z.B. der Phantasie, gehemmt wird. Das Kind nimmt die ihm vorgesetzte „Realität“ auf, ohne diese weiter zu hinterfragen (vgl. Rolff/Zimmermann 1997, 101).

Hier zeigt sich auch ein weiteres Problem, welches durch häufigen Fernsehkonsum auftritt. Die Aneignung der Wirklichkeit aus zweiter Hand. Gemeint ist damit, dass Kinder ihre Informationen über die Welt und ihre Erfahrungen in dieser nicht mehr selber, in einer sinnlichen Auseinandersetzung mit ihr erlangen, sondern im Fernsehen eine vorbearbeitete Version der Welt präsentiert bekommen. So fehlt dem Kind jedoch die eigenständige und produktive Auseinandersetzung mit den Dingen und die unmittelbare Erfahrung mit der Umwelt. Diese sind aber Voraussetzung, um neue Fähigkeiten zu entwickeln, die dem Kind helfen, auf die Anforderungen der realen Umwelt reagieren zu können und in ihr zurecht zu kommen (vgl. ebd., 153ff).

Hinzu kommt, dass die Benutzung von visuellen Medien „ein minimales Ausmaß an Körperbewegung […] zugleich aber auch ein maximales Ausmaß an Konzentration und Aufmerksamkeit [erfordert]“ (Zimmer 1996, 15). Dabei wird lediglich die akustische und optische Wahrnehmung angesprochen. Die körpernahen Sinne werden zunehmend vernachlässigt und der natürliche Bewegungsdrang wird nicht ausgelebt. Je nach Inhalt des Fernsehprogramms oder des Computerspiels kann es dann zu einer Kombination von Bewegungsstau und dem gleichzeitig „Erleben von aktionsbetonten, gewalttätigen Darstellungen“ kommen (Glogauer 1998, 32). Diese „Doppeldosis […] führt bei manchen [Kindern; d. Verf.] zu ungehemmten, aggressiven Handlungen“ (ebd., 32).

An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass im aktuellen Forschungsstand kein kausaler Zusammenhang zwischen Gewalt und Fernsehkonsum festgestellt werden konnte. Er wirkt sich allerdings wahrscheinlich unterstützend auf aggressives Potential aus (vgl. Rolff/Zimmermann 1997, 99). Desweiteren konnte auch keine direkte Auswirkung von Fernsehkonsum auf das Bewegungsverhalten festgestellt werden. Dies belegt eine Studie von Kleine (1997). Er stellt fest:

Fernsehgewohnheiten reduzieren […] nicht generell, sondern unter bestimmten, recht komplexen Bedingungen Kinderaktivitäten wie z.B. das Bewegungsverhalten“ (ebd., 490).

Zimmer (1997) versucht den steigenden Medienkonsum der Kinder und Jugendlichen wie folgt zu erklären. Zum einen könnte es an der grundsätzlichen Neugierde an technischen Geräten und der Faszination, die diese ausstrahlen, liegen. Zimmer vermutet demhingegen jedoch eher, dass die Flucht in die Medienwelt als „Symptom für einen Mangel […] an Zuwendung, an spannender Betätigung [und; d. Verf.] an eigener, sinnvoller Aktivität“, zu betrachten ist (ebd., 25). Dieser Mangel resultiert laut Zimmer daraus, dass Eltern statt, sich selber mit den Kindern zu beschäftigen, den Fernseher als Babysitter einsetzen. Zudem lassen die fehlenden Spielorte in Kombination mit dem monofunktionalen und vorfabrizierten Spielzeug schnell Langeweile aufkommen, die das Fernsehen beheben kann (vgl. ebd., 25).

2.1.4 Konsumorientiertheit

Neben dem zuvor beschriebenen zunehmenden Medienkonsum verstärkt sich die Konsumorientiertheit auch im Bereich der Warenwelt. Kinder sind längst als wichtige Käuferschicht entdeckt worden und so gibt es mittlerweile eine nahezu nicht enden wollende Produktpalette von Artikeln, welche speziell für Kinder entwickelt worden sind. Eine besondere Expansion lässt sich in der Spielzeugindustrie verzeichnen. Diese Tendenz bringt einige grundsätzliche Probleme mit sich, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll (vgl. Rolff 1991, 154f).

Zum einen dominiert heute weitestgehend vorfabriziertes Spielzeug den Markt, welches keine produktive Auseinandersetzung oder Veränderung durch das Kind zulässt (vgl. ebd., 155). Diese Art von Spielzeug vermindert ebenfalls wie der Medienkonsum die Eigentätigkeit und somit auch die Erkenntnistätigkeit des Kindes. Wenn Kinder früher ihre Spielgegenstände selber hergestellt haben, konnten sie durch den Entstehungsprozess sowohl etwas über die Materialeigenschaften als auch etwas über die späteren Verwendungsmöglichkeiten des Gegenstandes erfahren. Dieses „Selbermachen“ führte überdies dazu, dass Kinder das Spielzeug mehr schätzen lernten und es einen höheren Wert für sie symbolisierte. In der heutigen konsumverwöhnten Realität der Kinder, werden defekte oder langweilige Spielzeuge durch den Kauf eines Neuen ersetzt. Dadurch stellt sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der materiellen Umwelt ein (vgl. Rolff/ Zimmermann 1997, 152f). Es hat sich somit eine Wegwerfkultur entwickelt, in der Gegenstände einfach beliebig ersetzt werden können. Es stellt sich die Frage, ob nicht die Gefahr besteht, dass Kinder solche Einstellungen auch auf die sozialen Beziehungen mit ihren Freunden übertragen (vgl. ebd., 153).

Eine weitere kritisch zu beobachtende Tendenz betrifft die Tatsache, dass das zunehmende Konsumverhalten und die damit einhergehende Markenorientiertheit sich auch auf die Selbstdefinition der Kinder und auf ihre sozialen Beziehungen auswirken. Bereits Kinder definieren sich selbst über die Kleidung, welche sie tragen, oder über die Gegenstände, die sie besitzen, und suchen Freunde nach den gleichen Kriterien aus (vgl. ebd., 94).

2.2 Bewegungsmangel als Folge der veränderten Lebenswelt

Die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Veränderungen der Lebenswelt nehmen, wie bereits angedeutet, Einfluss auf das Bewegungsverhalten von Kindern sowie auf die Art und Weise wie sie sich ihre Umwelt aneignen. Es wird eine Tendenz beschrieben, in der Kinder in ihrem direkten Lebensumfeld weniger Möglichkeiten zur Verfügung haben um ihren natürlichen Bewegungsdrang auszuleben. Demgegenüber steigt das Angebot an körper- und bewegungslosen Tätigkeiten, die die Gefahr bergen, dass bereits Kinder unter einem gesundheitsschädlichen Bewegungsmangel leiden. Dieser gilt neben anderen Faktoren wie schlechte Ernährung, ungesunder Lebensführung (zu viel Stress) und übermäßigen Genuss von Alkohol, Zigaretten u.ä., als Hauptverursacher der so genannten Zivilisationskrankheiten (vgl. Gaschler 1999, 13). Zudem wird Bewegung als ein grundlegendes Element der kindlichen Entwicklung angesehen, welches somit neben der Bedeutung für die körperliche Ausbildung auch entscheidenden Einfluss auf die Bereiche „Wahrnehmung, Kognition, Sprache, Emotion und Sozialverhalten“ besitzt (Kiphard 1997, 52).

In diesem Kapitel wird es nun vorrangig um die Beschreibung der körperlichen Auswirkungen von Bewegungsmangel gehen. Im 5. Kapitel folgt dann im Rahmen der Erläuterungen zur Psychomotorik eine differenzierte Darstellung über die Bedeutung von Bewegung und Wahrnehmung für die intellektuelle, soziale und emotionale Entwicklung im Kindesalter.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die im Folgenden theoretisch behandelten Entwicklungsbereiche zwar einzeln dargestellt werden, in der Realität aber unzertrennlich miteinander verwoben sind und wechselseitigen Einfluss aufeinander nehmen.

2.2.1 Körperliche Auswirkungen von Bewegungsmangel

Aus medizinischer Sicht stellt Bewegung besonders in der Phase des Wachstums eine wichtige Komponente zur Ausdifferenzierung des gesamten Organismus und der einzelnen Organe dar. Denn diese müssen zur vollen Entfaltung bzw. Erhaltung ihrer Leistung regelmäßig beansprucht werden. Ist dies nicht der Fall, kommt es zu Organschwächen in verschiedenen Bereichen (vgl. Weinek 1997, 42).

Schwächung des Herz-Kreislauf- und Atmungssystems

Mangelnde Bewegung setzt die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislaufsystems und des Atmungssystems herab. Dies führt z.B. zu Kurzatmigkeit und verringerter Sauerstoffversorgung des Körpers, welche wiederum dazu beiträgt die Leistungsbereitschaft des Kindes weiter herabzusetzen (vgl. Vogel 1995, 41). Herz-Kreislauf-Schwächen können schwerwiegende Erkrankungen, wie z.B. Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen, Arteriosklerose, Herzinfarkte und Schlaganfälle nach sich ziehen (vgl. Gaschler 1999, 13).

Schwächung des Haltungs- und Bewegungsapparates

Laut Fleiss (1994 in Weineck 1995, 141) leiden bereits 90% aller Kinder unter einer Schwächung des Haltungs- und Bewegungsapparates. Die ungenügend ausgebildete Muskulatur, besonders im Bauch- und Rückenbereich, führt dazu, dass bereits ca. 40% aller Kinder unter Rückenschmerzen leiden (vgl. Gaschler 1999, 13). Dies wird durch die überwiegend sitzenden Tätigkeiten, die den Tagesablauf der meisten Kinder bestimmen, weiter verstärkt. Mangelnde Kraft verhindert zudem die Weiterentwicklung der sportlichen Fähigkeiten und somit auch die Motivation an sportlicher Betätigung.

Ferner kommt es zu einer qualitativ mangelnden Ausbildung von Gelenken, Sehnen und Bändern, was sich unter anderem in Form von Ungelenkigkeit bemerkbar macht. Dies kann wiederum wesentlichen Einfluss auf die allgemeine Lebensqualität und -zufriedenheit nehmen, da Beweglichkeit dem Menschen bis ins hohe Alter dazu dient, die körperlichen Anforderungen des alltäglichen Lebens erfüllen zu können (vgl. Größing 1993, 149).

Schwächung des Stoffwechsel- und Immunsystems

Zur Gesunderhaltung des gesamten Organismus sind ein intaktes Stoffwechsel- und Immunsystems unverzichtbar. Diese müssen ebenfalls durch Bewegungsanreize ausreichend aktiviert werden um ihre volle Funktionsfähigkeit entfalten zu können. So hilft ein guter Stoffwechsel zur Verhinderung von Arteriosklerose. Ein starkes Immunsystem führt zu einer Steigerung der körpereigenen Abwehrkräfte, welche wesentlich zur Gesunderhaltung eines Menschen beitragen (vgl. Weineck 1997, 47).

Auswirkung von Bewegung auf das Zentralnervensystem (ZNS)

Das ZNS weist in der Kindheit, ungefähr bis zum 6. Lebensjahr, ein hohes Maß an Plastizität auf, so dass es in diesem Alter besonders positiv in seiner Leistungsfähigkeit zu beeinflussen ist. Für ein optimales Funktionspotential ist eine möglichst dichte Neuronenvermaschung, die durch die Vermehrung dendritischer Verzweigungen und der Bildung von Synapsen entsteht, grundlegend. Diese bilden sich als Reaktionen auf äußere Reize wie Bewegung oder taktile Stimulation. Dies führt zu einer Ausprägung der Feinstruktur des Gehirns, durch die es schneller und genauer arbeiten kann (vgl. Anders/Weddemar 2001, 47f).

Übergewicht als Folge von Bewegungsmangel

Letztlich sei noch auf eine weitere gesundheitsschädliche Tendenz hinzuweisen. Bewegungsmangel sorgt in Kombination mit falscher Ernährung für eine kontinuierlich ansteigende Zahl übergewichtiger Kinder. Im Jahr 1999 waren dies ca. 20-30 % aller Kinder in der Bundesrepublik Deutschland und die Tendenz steigt mit zunehmendem Alter (vgl. Gaschler 1999, 13).

Für Erwachsene reicht in der Regel eine Belastung von 60 Minuten, zwei- bis dreimal die Woche, um ihre Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Kinder hingegen benötigen zum Aufbau dieser Funktionen täglich mindestens 2 Stunden Bewegung (vgl. Breithecker 2001, 27). Es zeigt sich also, dass die Leistungsfähigkeit der Organe und konditionelle Fähigkeiten wie Kraft und Ausdauer sowie die koordinativen Fähigkeiten nur durch frühzeitige und regelmäßige Beanspruchung entwickelt werden können.

2.2.2 Psycho-soziale Auswirkungen von Bewegungsmangel

Neben diesen medizinisch nachweisbaren Folgen, die sich in allgemeinen motorischen Defiziten, wie Koordinations- und Konditionsschwächen niederschlagen, gibt es noch eine Reihe von weiteren möglichen Beeinträchtigungen, die im Zusammenhang mit Bewegungsmangel gesehen werden. Hier sind in insbesondere folgende Problembereiche zu betrachten:

- Wahrnehmungsstörungen
- Verhaltensauffälligkeiten wie z.B. Überaktivität und Aggressivität
- psychosomatische Erkrankungen wie z.B. Allergien, Kopfschmerzen und Nervosität
- Selbstwertprobleme
- soziale Kontaktstörungen

[...]

Ende der Leseprobe aus 95 Seiten

Details

Titel
Die Salutogenese nach A. Antonovsky und der Stellenwert der Psychomotorik für Gesundheitsförderung im Kindesalter
Hochschule
Universität zu Köln  (Heilpädagogische Fakultät)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
95
Katalognummer
V28102
ISBN (eBook)
9783638299831
Dateigröße
901 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konzept, Salutogenese, Antonovsky, Berücksichtigung, Stellenwertes, Psychomotorik, Gesundheitsförderung, Kindesalter, Thema Salutogenese
Arbeit zitieren
Gabriele Heibach (Autor:in), 2004, Die Salutogenese nach A. Antonovsky und der Stellenwert der Psychomotorik für Gesundheitsförderung im Kindesalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28102

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