Frauendarstellungen bei Ludwig Tieck


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

25 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Frauendarstellungen
Frühwerk

Aus den Straußfedern-Erzählungen:
Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben (1796)

Die Märchen aus dem Phantasus:

Der blonde Eckbert (1796)
Der Runenberg (1802)
Der Pokal (1811)

Spätwerk
Die Gesellschaft auf dem Lande (1825)
Das Zauberschloß (1830)
Des Lebens Überfluss (1839)

Vergleich der Frauendarstellungen

Verwendete und zitierte Literatur

Einleitung

In dieser Arbeit werden Frauendarstellungen in ausgewählten Werken Ludwig Tiecks untersucht. In einem ersten Schritt, der eigentlichen Textanalyse, werden Frauendarstellungen in der Straußfedern-Erzählung „Die beiden merkwürdigsten Tage in Siegmunds Leben“ und in den Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“, „Der Runenberg“ und „Der Pokal“ aus dem Frühwerk des Autors, sowie der Gesellschaftsnovellen „Die Gesellschaft auf dem Lande“, „Das Zauberschloss“ und „Des Lebens Überfluss“ aus dem Spätwerk untersucht.

In einem zweiten Schritt werden die so herausgearbeiteten Frauendarstellungen verglichen, insbesondere auf etwaige Unterschiede zwischen Früh- und Spätwerk hin.

Ein besonderes Augenmerk wird auf die Beziehung zwischen den untersuchten literarischen Figuren mit der sozialhistorischen Lage der Frauen zur Zeit der Abfassung der Werke Tiecks gelegt. Die theoretische Rechtfertigung hierfür liefert die Maxime Pierre Bourdieus, dass das literarische Feld „Ding gewordene Geschichte“ (zitiert nach Jurt 1995: S. 81) sei. Die Gültigkeit von Bourdieus Theorie des literarischen Feldes und seiner Methode der Sozioanalyse im Allgemeinen und für die Situation des Literarischen Feldes zu Tiecks Lebenszeit im Besonderen zu diskutieren, würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem überschreiten. Daher wird Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes, wie sie von ihm hauptsächlich in „Die Regeln der Kunst“ dargelegt wird, in dieser Arbeit lediglich als Inspirationsquelle für den Vergleich von abgebildeter Gesellschaft in literarischen Erzeugnissen mit der realen sozialhistorischen Situation verwandt.

Die Tieck-Zitate sind der von Marianne Thalheim herausgegebenen vierbändigen Ausgabe von 1978 entnommen. Sie wurden in der Originalschreibweise wiedergegeben, dadurch kann es vorkommen, dass sie von der neuen Rechtschreibung abweichen, in der der Rest der Arbeit verfasst wurde.

Bei Formeln wie „der Leser“ wird in den kommenden Ausführungen lediglich die männliche Form verwendet. Dies geschieht allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit und stellt den Grundsatz der Gleichberechtigung nicht in Frage.

Frauendarstellungen

Frühwerk

Aus den Straußfedern-Erzählungen:

Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben (1796)

In dieser Erzählung trifft der Protagonist Siegmund in einer fremden Stadt ein, wo er auf Empfehlung eines ihm verpflichteten nicht namentlich bezeichneten „Generals“ eine Stelle als „Rat“ antreten soll. Im Laufe der Geschichte verliert er die ihm sicher geglaubte Stelle aufgrund einer Verkettung unglücklicher Zufälle, gewinnt sie aber gleich darauf wieder mit Hilfe einer jungen Prostituierten, die ihm aus Sympathie hilft.

Darstellung der Prostituierten

Das namenlose „Freudenmädchen“ – in der Erzählung als „das Mädchen“ oder „die Schöne“ bezeichnet – nimmt entscheidenden Einfluss auf den Gang der Ereignisse, indem es, als für ihn alles verloren scheint, seine große Anziehungskraft auf den „Präsidenten“ zu Siegmunds Gunsten einsetzt. Für die Beschreibung der Ausgangssituation mag die Erfahrung Tiecks und vieler seiner Altersgenossen aus dem gebildeten Bürgertum, dass ein gesellschaftlicher Aufstieg in einer von Standesgrenzen durchzogenen Gesellschaft nur durch persönliche „Protektion“ möglich war (vergl. Etwa Rek 1991: S. 44), Pate gestanden haben. In der „Siegmund“-Erzählung wird diese Grundkonstellation allerdings dadurch ironisch aufgebrochen, dass Siegmund, nachdem sich die Empfehlung des Generals als nutzlos erwiesen hat, die viel wirksamere „Protektion“ eines allseits begehrten, bei der Entscheidung über seine Freier aber wählerischen Freudenmädchens schließlich doch auf die angestrebte Stelle verhilft.

Ein personaler Erzähler präsentiert das Mädchen durch Siegmunds Wahrnehmung. Die erste Begegnung mit dem Mädchen geschieht gleich nach Ankunft des Protagonisten in der Stadt und trägt – gewiss bewusst stilisierte – Züge ritterlicher Minne:

„Er sah aus dem Fenster; es war auf der Gasse noch ziemlich hell, und selbst hell genug, um ein allerliebstes Gesichtchen im gegenüberstehenden Hause zu bemerken, das aufmerksam nach ihm hinübersah. Seine Augen begegneten ihren freundlichen Blicken, er grüßte endlich, und sie dankte verbindlich. Der zukünftige Rat sah bei so guten Vorbedeutungen die Stadt mit sehr günstigen Augen an. Er träumte sich hundert angenehme Abenteuer, und sah es sehr ungern, als sich die Schöne von ihrem Fenster zurückzog, und er nur noch hinter ihren Vorhängen das Licht bemerkte [...].“ (Tieck 1978 I.: S. 39)

Die „guten Vorbedeutungen“, die Siegmund mit dem Mädchen assoziiert, stellen sich später als richtig heraus, doch nicht, wie er es erwartet, sondern erst nach deren direkter Einflussnahme – ein bemerkenswerter erzählerischer Kunstgriff, der die spätere Auflösung andeutungsweise vorwegnimmt.

So, wie Siegmund im Laufe der Erzählung vom gutsituierten Anwärter auf eine hohe Stellung hinabstürzt in den drohenden wirtschaftlichen Absturz, sogleich aber wieder hinaufsteigt, erfährt auch das Mädchen eine Achterbahnfahrt in ihrem Ansehen bei ihm. Zunächst ist sie in Siegmunds Augen eine begehrenswerte, ehrwürdige junge Frau.

Als sich sein Schicksal aber zu wenden beginnt, und er am Tag nach seiner Ankunft auf dem Weg zum Präsidenten ist, wo ihm die sicher geglaubte Stelle verwehrt wird, verändert sich auch seine Sichtweise auf das Mädchen:

„Der Wirt schüttelte bedenklich den Kopf. – ‚Es ist eine von denjenigen‘, sagte er halb lächelnd und halb böse – ‚nun, Sie verstehen mich wohl; sie lebt so auf ihre eigene Hand, wie man so zu sagen pflegt. Eine niederträchtige Kreatur! Sie hat schon manchen jungen Mann ausgezogen. – Nehmen Sie sich vor der boshaften Person in acht‘, setzte er spottend hinzu, ‚sie kann sich so fromm und unschuldig stellen: ein wahres Krokodil, ein Ungeheuer!‘“ (ebd. S. 44f.)

Nun ist sie auch für Siegmund die verachtete Prostituierte, die er nicht mehr mit seinen eigenen Augen, wie zuvor, sondern mit denen der sogenannten gutbürgerlichen Gesellschaft (in Gestalt des Wirtes) sieht, der er sich mit der angestrebten guten Position bereits an herausgehobener Stelle zugehörig glaubt. Zur Zugehörigkeit (auch zur imaginierten Zugehörigkeit) gehört aber immer die Definition, wer nicht mehr dazu gehört:

„[...] er ging und sah nach den Fenstern des Mädchens hinauf, sie blickte ihm nach, und er schickte ihr nach dem, was er soeben gehört hatte, einen sehr verächtlichen Blick zu, und ging in die nächste Quergasse, ohne sich noch einmal umzusehn.“ (ebd. S. 45)

Dann, als Siegmund sich mit ungewissen Zukunftsaussichten durch die Nacht treiben läßt, landet er zufällig in der Wohnung des Mädchens, wo es seine Kunden empfängt. Siegmunds Ankommen beschreibt der Text in selbstreferentieller Weise:

„Noch ehe er sich besinnen konnte, stand er in einem fremden Zimmer, wo das ofterwähnte [Hervorhebung L.P.] Mädchen mit dem hübschen Gesicht in einem Sofa saß.“ (ebd. S. 53)

Die erste leibhaftige Begegnung der beiden geschieht zu einem Zeitpunkt, als sich beide am unteren Punkt ihres gesellschaftlichen Ansehens (bzw., in Siegmunds Fall, ihrer gesellschaftlichen Position befinden). Die Begegnung markiert gleichzeitig den Wendepunkt der kurzen Erzählung: Durch die – im Vergleich zum vorherigen Empfehlungsschreiben wesentlich gewichtigere - Einflussnahme des Mädchens beim Präsidenten gelangt Siegmund doch noch in die gewünschte Stellung. Das Mädchen aber steigt gesellschaftlich zur Begleiterin des Präsidenten auf.

In ihrer kurzen Begegnung, die in der erzählten Zeit eine Nacht (vom Abend des ersten Tages bis zum Morgen des zweiten) andauert, erzählt das Mädchen Siegmund ihre Lebensgeschichte. Sie sei

„ein armes Mädchen, meine Eltern sind früh gestorben, meine Erziehung war nicht die beste; was ich ohngefähr weiß, oder von Bildung erhalten habe, habe ich mir ganz allein zu danken.“ (ebd. S. 54)

Es ist schwer, aus dieser kurzen Charakterisierung auf Herkunft oder Schichtzugehörigkeit des Mädchens zu schließen. Die Armut könnte seit der Geburt bestanden haben oder erst mit dem Tod der Eltern eingetreten sein. Die Betonung von Bildung scheint einen Hinweis auf einen (klein-)bürgerlichen Hintergrund zu geben. In dem Motiv des Waisenmädchens zeigt sich ein typisch märchenhafter Topos, der Tiecks weitere Entwicklung zu den Kunstmärchen vorwegnimmt.

Klarer als ihre Ursprünge und wichtiger für die Darstellung der Figur des Mädchens, sind ihre philosophischen Reflektionen, die sie als feinsinnige und reflektierte Persönlichkeit zeigen und Tiefe und Komplexität andeuten. Zudem zeigt sich dadurch eine weitere Wendung ihres Bildes vom armen Waisenmädchen zur Herrin ihres Schicksals, die bewusst auswählt – ganz im Gegensatz zu Siegmund.

So legt sie sich über ihr Handeln – auch darüber, ihren Körper zu verkaufen – Rechenschaft ab:

„Man hat mich von Jugend auf ziemlich hübsch gefunden, und ich bin am Ende überredet worden, es selbst zu glauben. Da ich kein Vermögen hatte, suchte ich meinen Unterhalt durch Sticken, Putzmachen und andere dergleichen Beschäftigungen zu erwerben; meine Anbeter verfolgten mich unaufhörlich, und ich überlegte mir meine Situation etwas vernünftiger, und seit der Zeit lebe ich vernünftiger, und bin nicht so sehr, wie vordem, dem Mangel ausgesetzt.“ (ebd., S. 54f.)

Ebenso bedenkt sie die moralischen Implikationen ihres Handelns:

„Man darf nur um sich her die Beschäftigungen der Menschen und das Triebwerk ihrer Tätigkeit betrachten, so findet man sehr bald, daß nichts als Eigennutz alle Maschinen in Bewegung bringt [...]“. (ebd., S. 55)

In einer Welt, in der der menschliche Egoismus alles Handeln bestimmt, sei es legitim, dass jeder Teilnehmer die ihm mitgegebenen Talente, seien sie körperlicher oder geistiger Art, zu seinem Vorteil einsetze. Nichts anderes täte sie:

„Wenn die Menschen närrisch genug sind, ihr Vermögen einem Mädchen aufzuopfern, das sie für schön halten, warum sollte man nicht aus dieser Narrheit nutzen ziehn, so wie die Marktschreier, Doktoren, Seiltänzer und Schriftsteller die Schwächen der Menschen nutzen?“ (ebd.)

Nebenbei entlarvt sie die moralische Entrüstung des Wirtes (und damit der öffentlichen Meinung) über ihr Gewerbe als Heuchelei:

„‘Hüten Sie sich besonders vor Ihrem Wirte!‘ sagte die Schöne sehr eifrig; ‚er ist der größte Betrüger in der ganzen Stadt, ziehn Sie sobald als möglich von ihm aus, sonst wird er ihnen eine ungeheure Rechnung machen!‘“ (ebd., S. 54)

Bemerkenswert ist an dieser Stelle nicht der Inhalt ihrer Reflektionen, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt welche hat. Die Wendung von einer namenlosen hübschen Dirne zu einer intelligenten und gebildeten Frau ist eine weitere der mit der Lesererwartung spielenden Wendungen der Erzählung. Vor allem aber enthüllt sie eine höchst differenzierte Frauengestalt, die am genauesten und differenziertesten gezeichnete der auftretenden Personen.

Ihre Selbstbestimmtheit und Grundsatztreue stellt sie auch im Umgang mit dem Präsidenten unter Beweis: Als „eifrigste Demokratin“ (ebd.) lehnt sie es ab, „alles, was sich Edelmann nennt“ (ebd., S. 55f.) zu empfangen, eine Maxime, die sie erst für Siegmund aufgibt.

Das Mädchen erweist sich so als die eigentlich treibende Kraft der Erzählung. Sowohl vordergründig, weil es die abschließende Wendung selbst herbeiführt (wohingegen sich der titelgebende Siegmund bloß treiben läßt), als auch hintergründig, weil ihre Rolle die Willkürlichkeit einer auf persönlicher Protektion beruhenden Gesellschaft entlarvt: Am Ende ist es eine bezweifelte gesellschaftliche Randexistenz, die aufgrund ihrer Schönheit den entscheidenden Einfluss gewinnt.

Vergleicht man die Figuren, die in „Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben“ eine Rolle spielen, so ist die Figur des Mädchens eindeutig die schillerndste und die am genauesten dargestellte. Im Gegensatz zum Schmeichler Bellmann, einem typischen Opportunisten, dem Präsidenten, der seine Macht nach persönlichem Gutdünken einsetzt und Siegmund, der sich von den Umständen auf der Suche nach einem angenehmen Leben treiben lässt, hat die Prostituierte Grundsätze (einen davon lässt sie aus Sympathie für Siegmund fallen), auf deren Grundlage sie reflektiert handelt.

Die Märchen aus dem Phantasus:

Der blonde Eckbert (1796)

Bertha

Die Figur der Bertha ist diejenige der beiden Protagonisten, deren Taten und Schicksal die Handlung vorantreiben; erst nach ihrem Tod erfährt der Leser, dass ihr Schicksal, ebenso wie das Eckberts, Gegenstand und Folge einer größeren Einflussnahme war. Doch zunächst wird die Handlung von Berthas Tun bestimmt: Sie flieht am Anfang (der erzählten Zeit, jedoch nicht der eigentlichen Erzählung) vor den Misshandlungen ihres grausamen Vaters und gelangt in die Obhut einer mit märchenhaften Zügen gezeichneten alten Frau. Befindet sie sich hier noch eindeutig in der Opferrolle, wird sie auf ihrer zweiten Flucht selbst schuldig: Auf der Flucht aus ihrem Unterschlupf im Gebirge den Hund zurücklassend liefert sie ihn so dem Hungertod aus. Später erdrosselt sie den mitgenommenen singenden Vogel, weil er sie zu sehr an ihre Schuld erinnert.

Ihr Handeln hat schließlich ganz entscheidende Auswirkungen auf ihr späteres Leben mit Eckbert: Beide leben aufgrund von Berthas Vergangenheit von den Menschen zurückgezogen in großer Einsamkeit (ein Grundmotiv des Märchens, wie schon die Variationen des wiederkehrenden Liedes bezeugen), aber durch den von Bertha unrechtmäßig an sich gebrachten Reichtum in materiellem Wohlstand. Berthas Vergangenheit bringt Eckbert dazu, seinen einzigen Freund zu töten, und nach ihrem Tod verfällt er aufgrund der vorangegangenen Ereignisse dem Wahnsinn. So hat sich Berthas anfänglich kleine Verfehlung in der Folgezeit immer weiter gesteigert, mit ruinösen Folgen für beide Protagonisten.

Eine sozialhistorische Interpretation von „Der blonde Eckbert“ gibt Klaus Rek (Rek 1991: S. 61ff.). Die Erzählung sei weder „romantisch im landläufigen Sinne, also wirklichkeitsfern ‚schön‘“ noch ein „Beispiel für unterhaltsame Schauerromantik“:

„Bei näherer Betrachtung erweist sich der ‚Eckbert‘ als bedrängend realitätshaltig [...]. Hinter dem entsetzlichen Ende Eckberts verbergen sich nämlich die Schrecken des neuen, sich ankündigenden bürgerlichen Zeitalters, eines Zeitalters, das den Menschen erbarmungslos isoliert [...] und in dem vordergründig alles von ökonomisch-materiellen Interessen bestimmt wird: Das Thema von Armut und Reichtum [...] beherrscht das Märchen mehr, als es im ersten Moment scheinen mag.“

Die Protagonisten des „Blonden Eckberts“ würden, so Rek weiter, aufgrund der inneren Widersprüche des beginnenden Kapitalismus schuldig – also aufgrund gesellschaftlicher Umstände, nicht individueller Schuld. Dementsprechend fälle das Märchen auch kein moralisches Urteil über die Taten von Individuen, sondern analysiere eine gesellschaftliche Situation.

Für eine solch sozioökonomische Erklärung von Berthas (und Eckberts) Verhalten gibt es im Text einige Hinweise. Neben dem erwähnten oftmaligen Verweis auf materiellen Wohlstand (oder sein Fehlen) kann z.B. Berthas Weg von dem kleinen Dorf, in dem sie aufwuchs in die Stadt als Zeichen für den stattfindenden gesellschaftlichen Wandel mit Landflucht und Verstädterung gesehen werden. Der Umstand, dass sich Bertha zunächst eine eigene Wohnung in der Stadt nimmt, bevor sie Eckbert heiratet (den sie sich selbst ausgesucht hat) kann sogar für ein gestiegenes weibliches Selbstbewusstsein stehen. Schließlich kann auch Bertha und Eckberts kinderlose Ehe und der Inzest, den sie als Geschwisterpaar begehen, für die erlöschende Zeugungskraft des Adels stehen.

In einer eher die individuelle Psyche der Protagonistin betonenden Weise argumentiert Wolfgang Rath:

„Wer als Kind verprügelt wird, Reißaus nimmt und in der Fremde ein Zuhause findet, der glaubt dort vielleicht schon im Paradies zu sein und atmet auf. Doch er hat die Panik, die ihn flüchten lässt, mitgenommen. Und wenn er nicht aufpasst, dann wird sie ihm zum Schicksal.“ (Rath 1996: S. 262)

Eine psychologische Interpretation kann am Text ebenfalls belegt werden. So könnte Berthas Auszug von den Eltern den Beginn ihrer Adoleszenz markieren. In einem „psychosozialen Moratorium“ (zum Begriff vgl. etwa Eriksson 1973) zögert sie durch den Aufenthalt bei der alten Frau das eigene Erwachsenleben hinaus, bis sie genügend Fähigkeiten und Selbstbewusstsein sowie die ökonomische Grundlage erworben hat, um sich dem Leben auf eigenen Füßen gewachsen zu fühlen. Mit den ersten Schritten in die Selbstständigkeit beginnt auch das Bewusstsein der eigenen Schuld (bzw. Das erste wirkliche Sich-schuldig-machen).

Die „psychologische“ und die „sozialhistorische“ Sichtweise auf den „Blonden Eckbert“ können jedoch auch miteinander verknüpft werden: So kann das „dunkle Familiengeheimnis“ der unehelichen Geburt Berthas und dessen Verdrängung, z.B. aus Rücksicht vor gesellschaftlichen Konventionen, als die eigentliche Triebkraft der Erzählung gesehen werden. Der fehlende Mut, sich zu dem eigenen Leben zu bekennen, führt zu Verderben und Wahnsinn, sogar und insbesondere für die nächste Generation.

Diese vielen Möglichkeiten, das Handeln und die Getriebenheit der Protagonisten von „Der blonde Eckbert“ zu sehen, sprechen für die Dichte und Tiefe des Textes. Sie lassen viel Raum für immer weitere, niemals abgeschlossene Interpretationen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Frauendarstellungen bei Ludwig Tieck
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für deutsche Literatur)
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
25
Katalognummer
V281477
ISBN (eBook)
9783656758785
ISBN (Buch)
9783656762287
Dateigröße
463 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
frauendarstellungen, ludwig, tieck
Arbeit zitieren
Lucas Pfeiffer (Autor:in), 2012, Frauendarstellungen bei Ludwig Tieck, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/281477

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Titel: Frauendarstellungen bei Ludwig Tieck



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