Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1 Problemumriss
1.2 Begriffsbestimmung: Delinquenz
1.3 Abgrenzung zur Devianz und Kriminalität
2. Erklärungsansätze für delinquentes Verhalten von Jugendlichen und Heranwachsenden .
2.1 Psychologische Theorien
2.1.1 Psychoanalytische Erklärungsansätze
2.1.1.1 Neurotisch bedingte Delinquenz
2.1.1.2 Delinquenz durch Verwahrlosung
2.1.1.3 Kritik der psychoanalytischen Theorien
2.1.2 Lerntheorien
2.1.2.1 Theorie der operanten Konditionierung (Skinner 1938)
2.1.2.2 Theorie der differentiellen Kontakte (Sutherland 1939)
2.1.2.3 Sozial-kognitive Lerntheorie (Bandura 1963).
2.1.2.4 Das Gewissen als Summe konditionierter Angstreaktionen (Eysenck 1973)
2.1.3 Das Konzept der Selbstkontrolle (Gottfredson/Hirschi 1990)
2.2 Soziologische Theorien
2.2.1 Anomietheorie (Merton 1938, Opp 1974)
2.2.2 Strukturelle Gewalt (Galtung 1975)
2.2.3 Theorie der Etikettierung: Labeling Approach (Tannenbaum 1953, Be- cker 1973, Lemert 1975)
2.2.4 Theorie der Subkulturen (Cohen 1955)
2.2.5 Machttheorien
2.3 Biologische Theorien
2.4 Religiöse Theorien: Die Erbsünde
2.5 Multifaktorielle Theorien: Abweichendes Verhalten als Bewältigungs- handeln (Böhnisch 1999)
3. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einführung
1.1 Problemumriss
Die Kindheit gilt in unserer Gesellschaft als die Zeit der Unbeschwertheit, der Sorglo- sigkeit und Freiheit. Sich um nichts kümmern zu müssen und das zu tun, worauf man gerade Lust hat, ohne sich dabei große Gedanken um die Folgen und das Gewissen zu machen, dies zeichnet diese Phase des Lebens besonders aus. Doch realistisch gesehen gibt eine Kindheit völlig frei von Stress und Sorgen kaum, denn schon in jungen Jahren treten erste Belastungen und Probleme auf, die zu Überforderung und Bewältigungsbeschwerden führen können. Mit dem Ende der Kindheit tritt dann die Jugend ein, welche allgemein auch als Krisenzeit bezeichnet wird, in der zahlreiche Anforderungen auf den Jugendlichen stoßen. In dieser Phase des Umbruchs verlan- gen viele Veränderungen in einem nur kurzen Zeitraum von wenigen Jahren eine hohe Anpassungs- und Koordinierungsleistung vom Jugendli- chen. Wachstumsvorgänge finden statt, ein personenspezifischer Charakter bildet sich allmählich heraus und das Kind muss eintreten in die Erwachsenenwelt. Die Ju- gend kann also als Zeit der Identitätsbildung gesehen werden, in der Konflikte, das Ausprobieren, das Eingehen von Risiken und das Überschreiten von Grenzen eine große Rolle spielen. Störungsbilder treten dort auf, wo sich beim Jugendlichen allzu viele Probleme ansammeln und zugleich stützende, strukturierende Hilfestellungen vom unmittelbaren Umfeld fehlen. So können sich beim Heranwachsenden abwei- chendes Verhalten wie z.B. depressive Anzeichen, Alkohol-und Drogenmissbrauch, Aggressivität, Disziplinprobleme, Provokation, Einsamkeit und sich- unverstanden- fühlen zeigen und als häufigste Begleiterscheinungen bei der Bewältigung von auf- tretenden Schwierigkeiten gesehen werden.
Im Folgenden werden nach einer Begriffsbestimmung und einer Abgrenzung der De- linquenz zur Devianz und Kriminalität zunächst verschiedene psychologische Erklä- rungsansätze für die Entstehung delinquenten Verhaltens bei Jugendlichen und Her- anwachsenden untersucht, wobei diese in psychoanalytische Theorien, Lerntheorien und die Theorie der Selbstkontrolle aufgeteilt werden. Daraufhin wird der Blick weg vom Individuum hin zur Gesellschaft gelenkt und fünf soziologische Erklärungsansät- ze beleuchtet. Im Anschluss werden auch die biologischen Einflüsse und Ansätze erörtert und genetische sowie sozialdarwinistische Theorien dargestellt. Bevor dann zuletzt die multifaktoriellen Ansätze behandelt werden, die mehrere verschiedene Umstände und Elemente für die Entstehung delinquenten Verhaltens verantwortlich machen, wird noch kurz auf religiöse Theorien und in dem Zusammenhang speziell die Erbsünde eingegangen.
1.2 Begriffsbestimmung: Delinquenz
Da die Begriffe Delinquenz, Devianz und Kriminalität in der Literatur teils synonym verwendet werden, aber geringe unterschiedliche Bedeutungen aufweisen, ist es notwendig, diese im Voraus zunächst einmal zu definieren und voneinander abzu- grenzen.
Der Begriff der Delinquenz stammt aus dem Lateinischen (lat. delinquere = sich ver- gehen, verschulden) und kann mit dem deutschen Wort Straffälligkeit übersetzt wer- den (vgl. Scheffel 1988, S. 42). Eine einheitliche international gültige Definition liegt bisher nicht vor, so dass sie von Land zu Land und je nach Gesetzeslage verschie- den ist. Allgemein kann man sagen, dass Delinquenz ein Verhalten bezeichnet, wel- ches gegen die Gesetzeslage verstößt (vgl. Myschker 2009, S. 521). In amerikani- schen Ländern bezeichnet der Begriff Delinquenz neben einem eindeutigen Geset- zesverstoß zudem auch Handlungen, die - mit oder ohne Gesetzesverstoß - gegen die bestehende öffentliche Ordnung gerichtet sind (vgl. Kühne 1989, S.117). Hierun- ter wird demnach nicht wie z.B. in Deutschland nur strafrechtlich zu verfolgendes Verhalten verstanden, sondern auch von der Gesellschaft als negativ bewertetes Tun, z.B. Alkoholkonsum. Da dieser stark subjektive Ansatz und die Einschätzung eines delinquenten Handelns immer vom Auge des Betrachters abhängen, ist die amerikanische Definition nur schwer anzuwenden. Das deutsche Recht dagegen be- zieht sich lediglich auf gegen das Strafrecht gerichtete Verstöße und setzt in den Pa- ragraphen 1 und 3 des Jugendgerichtsgesetzes alle delinquenten Taten juristisch fest:
„§ 1 Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich: (1) Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist. (2) Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.“
„§ 3 Verantwortlichkeit: Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Un- recht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Rich- ter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht.“ (JGG, S.216 f.). Es wird also zwischen dem Alter und der geistigen Reife unterschieden. Im Gegen- satz zum Erwachsenenstrafrecht stehen vor allem erzieherische Maßnahmen in ei- nen neuen sozialen Kontext im Blickpunkt, was schon den ersten Unterschied zur Kriminalität darstellt, da die Delinquenten sich noch in einem erziehungsfähigen Alter befinden. Trotz der juristisch festgelegten Definition von Delinquenz ist diese immer abhängig vom geltenden Recht und „was heute und hier ein Verbrechen ist, ist es vielleicht morgen und dort nicht mehr und umgekehrt“ (Metzger 1951 in Steuber 1976, S.4). Im DSM IV der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung APA wird delinquentes Verhalten als eine antisoziale Persönlichkeitsstörung definiert, welche den Beginn vor dem 15.Lebensjahr sieht und mit einer Störung des Sozialverhaltens einhergeht, zudem muss die Delinquenz über das 18.Lebensjahr hinausgehen. Als Beispiele für delinquente Taten werden Lügen, Schule schwänzen, Stehlen, Vanda- lismus oder auch das Fortlaufen von zuhause genannt (vgl. American Psychiatric Association 2000). Die Weltgesundheitsorganisation WHO legte 1991 die Delinquenz ebenso als Verhaltensstörung und weiter als asoziale, dissoziale oder soziopathische Persönlichkeitsstörung fest (vgl. Internationale Klassifikation psychischer Störungen 2011). Hieraus wird deutlich, dass delinquentes Verhalten weitaus mehr ist als bloß ein Verstoß gegen das Strafrecht, sondern zudem eine psychosoziale Störung bein- halten kann.
1.3 Abgrenzung zur Devianz und Kriminalität
Der Begriff der Devianz hat seinen Ursprung im Französischen (frz. dévier = abkom- men, abweichen) und bezeichnet ein normabweichendes Verhalten, das jedoch nicht unbedingt mit einem Gesetzesverstoß einhergeht. Es entspricht demnach der ameri- kanischen Definition der Delinquenz (vgl. Scheffel 1987, S. 43). Geht man jedoch von der in Deutschland gültigen Definition des Delinquenz-Begriffes aus, dann stellt die Delinquenz eine mögliche Form der Devianz dar. Die Bezeichnung einer Handlung als deviant ist immer mit einem subjektiven Werturteil, also mit gesellschaftlichen Prozessen der Normbildung, verbunden. Deviantes Verhalten ist in gewissem Maße normal, da es kennzeichnend für die Sozialisation ist, dass von Normen auch abge- wichen wird (ebd.).
Ein weiterer zentraler Begriff ist der der Kriminalität (lat. crimen = Verbrechen, Schuld Anklage). Die Kriminalität umfasst alle Verstöße gegen das Strafrecht und schließt im Gegensatz zur Delinquenz aber alle Altersgruppen mit ein (vgl. Kreft/Mielenz 1980, S.17). Der konkrete Inhalt der Bezeichnung ist durch das Vorhandensein eines Ver- brechensbegriffes definiert, der je nach Gesellschaft und Kultur in verschiedenen Regionen und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich war und ist (vgl. Hä- cker/Stapf, S. 470). Der jeweilige Gesetzgeber legt also willkürlich die geltende straf- rechtliche Norm fest. Viele normabweichenden Handlungen werden jedoch universell von jeder Gesellschaft als kriminell eingestuft, wie beispielsweise Mord, Vergewalti- gung oder Raub (ebd.).
2. Erklärungsansätze für delinquentes Verhalten von Ju-gendlichen und Heranwachsenden
2.1 Psychologische Theorien
2.1.1 Psychoanalytische Erklärungsansätze
Psychoanalytische Ansätze gehen grundsätzlich davon aus, dass abweichendes Verhalten und Delinquenz Ausdruck und Folge einer Persönlichkeitsstörung sind. Im Zentrum steht demnach das Individuum, während die Gesellschaft außer Acht gelas- sen wird und keine Rolle bei der Entstehung delinquenten Verhaltens spielt (vgl. Lösel 1975, S.221). Besonderen Stellenwert bei den psychoanalytischen Theorien haben die beiden Ansätze der neurotisch bedingten Delinquenz und der durch Ver- wahrlosung entstehenden Delinquenz, welche im Folgenden dargestellt werden.
2.1.1.1 Neurotisch bedingte Delinquenz
Die durch Neurosen hervorgebrachte Delinquenz beruht auf der Neurosenstruktur des Jugendlichen. Das Über-Ich, also das Gewissen, ist hierbei bei diesem zu stark ausgeprägt (vgl. Speck 1979, S.73). Dem neurotisch delinquenten Jugendlichen ver- schafft seine Tat zunächst Anerkennung. Dies ist vor allem der Fall bei unsicheren und gehemmten Tätern, die ein antisoziales Verhalten zeigen, um von anderen be- wundert und geachtet zu werden bzw. im Fragen und Bitten gehemmt sind und ihre Bedürfnisse auf unerlaubte Art befriedigen müssen (vgl. Herriger 1987, S.90 f.). Bei- spiel hierfür sind Diebe, die stehlen statt eine Sache zu erbitten. Diese Neurosen- struktur entsteht als Folge eines überstrengen Gewissens, das sich von Zeit zu Zeit Luft verschaffen muss und nach einer sofortigen Bedürfnisbefriedigung drängt. Das starke Über-Ich bildet sich dann heraus, wenn ein Kind keine stabilen Erfahrungen mit seiner unmittelbaren sozialen Umwelt sammeln konnte (vgl. Herriger 1987, S.91 ff.). Ein Kind, das einmal mit Zuneigung überfüttert und ein anderes Mal völlig willkür- lich bestraft wird, ist demnach nicht in der Lage, auf sofortige Bedürfnisbefriedigung zu verzichten. Die ambivalente Mutter, die selbst unter Schuldgefühlen wegen ihrer teils ablehnenden Haltung dem Kind gegenüber leidet, macht diese zum Sünden- bock. Das von ihr existentiell abhängige Kind wird nun oftmals selbst den Vorwurf übernehmen und sich schuldig fühlen. Dies macht seine notwendige Ablösung von der Mutter um einiges schwerer (ebd.). Das Über-Ich unterdrückt also die Trieban- sprüche des Es, indem es die Gesamtpersönlichkeit komplett bestimmen kann. Die verdrängten und unverarbeiteten Triebansprüche des Es kommen in symbolischen kriminellen Handlungen zum Vorschein, der delinquente Jugendliche reagiert darauf mit erheblichen Schuldgefühlen und unterdrückt diese Triebansprüche noch stärker (ebd.).
2.1.1.2 Delinquenz durch Verwahrlosung
Ursache für die durch Verwahrlosung bedingte Delinquenz ist im Gegensatz zur neurotischen Delinquenz ein zu schwach ausgebildetes Über-Ich. Täter empfinden also nach Begehen einer Straftat kaum bis keine Schuldgefühle (vgl. Herriger 1987, S. 94 f.). Als Verwahrlosungsstruktur wird eine „im Charakter ausgeprägte unsoziale oder antisoziale innere Einstellung des einzelnen gegenüber geschriebenen oder ungeschriebenen Sitten der Gesellschaft, in der er lebt" bezeichnet (Brandt 1972 in Herriger 1987, S.95). Entscheidend sind nach Brandt die zwei Faktoren, die zur Entstehung der Verwahrlosungsstruktur führen:
Dies ist zum einen der Mangel an ausreichenden ehrlichen und gefühlsbetonten Ob- jektbeziehungen im frühkindlichen Alter, der zu einer erheblichen Ich-Schwäche führe und große Unsicherheit des Kindes bedingen kann (ebd.). Dadurch werden sämtliche späteren positiven Identifikationen sowie der Erwerb von Liebesfähigkeit entschei- dend erschwert, welche jedoch für das Kind sehr relevant sind, um ungesteuerte Triebhaftigkeit zu bewältigen und mit Versagen und Ablehnung gut umzugehen (ebd.). Der zweite Faktor, der zur Ausbildung der Verwahrlosungsstruktur beitragen kann, ist die ständige extreme Verwöhnung des Kindes, also ein zu hohes Ausmaß an ge- fühlsbetonten Objektbeziehungen, sowie die daraus resultierende Möglichkeit des permanenten Ausweichens auf eine andere Bezugsperson oder ein Liebesobjekt (ebd.). Dies behindert das erforderliche Erlernen der Fähigkeit, Versagen und Ableh- nung zu verarbeiten, da sie ja nicht auftreten können. Probleme wird das Kind dann erfahren, wenn es mit der Realität konfrontiert wird und dann regelrecht traumatisiert werden kann, da die kindlichen Erwartungshaltungen meist irrational und illusionär sind (ebd.). Delinquentes Verhalten und kriminelle Handlungen, um Bedürfnisse zu befriedigen, scheinen dann nur noch die logische Folge darzustellen, denn ein Ver- zicht konnte zuvor nie erlernt werden. Das Über-Ich, die moralische Instanz der Per- sönlichkeit, weist demnach einen Defekt auf, das eigene Handeln wird als richtig an- gesehen (ebd.). Häufige Kennzeichen solcher Persönlichkeiten sind eine Ich-Armut, eine sehr geringe Frustrationstoleranz und mangelhafte Impulskontrolle (ebd.).
2.1.1.3 Kritik der psychoanalytischen Theorien
Teile der psychoanalytischen Erklärungsansätze für die Entstehung delinquenten Verhaltens wie familiäre Vernachlässigung, psychische Konflikte oder illusionäre Mo- tive haben zweifelsohne ihre Berechtigung gefunden und werden allgemein aner- kannt (vgl. Aichhorn 1987). Kritisiert wird dennoch immer noch vor allem die Individu- alisierung delinquenten Verhaltens, wobei sozialstrukturelle Elemente und Zusam- menhänge gänzlich ausgeblendet werden. Gesellschaftliche Faktoren werden also vernachlässigt und es wird immer bei der Einzelperson angesetzt, um die Ursache für Delinquenz zu finden (ebd.). Zudem kommt der Vorwurf auf, dass diese Theorien undurchsichtige Begriffe verwenden und die menschliche Persönlichkeit fiktiv struktu- rieren (Es, Ich, Über-Ich). Die Bildung von Hypothesen geschieht außerdem retro- spektiv und ist oftmals spekulativ und subjektiv, z.B. durch die Deutung des Thera- peuten (ebd.). Aus der Gerichtspraxis sind psychoanalytische Ansätze für delinquen- tes Verhalten, da die unmittelbare Person des Täters in den Mittelpunkt gestellt wird, trotz der Kritik nicht mehr weg zu denken und von großer Bedeutung.
2.1.2 Lerntheorien
Die Lerntheorien gehen von der Annahme aus, dass Verhalten, ob konform oder ab- weichend, immer gleichermaßen erlernt wird. Sie sprechen sich also gegen statisti- sche oder unveränderte Beziehungen zwischen Delinquenz und biologischen oder persönlichkeitsspezifischen Variablen aus (vgl. Lamnek 2001, S. 186 ff.). Zudem se- hen sie die Entstehung von Delinquenz als einen Prozess an, wobei nicht lediglich abweichendes Verhalten erlernt wird, sondern auch die Motive und Einstellungen, die Delinquenz erst verursachen (ebd.). Für die Delinquenz verantwortlich ist aus lern- theoretischer Sicht vor allem ein defizitärer Erziehungsstil, der aus mangelhaften Verhaltenssanktionierungen (d.h. gestörtes Verhältnis zwischen Belohnung und Bestrafung), fehlender Konsistenz der Sanktionierung und unzureichender Intensität der Kontrolle des Verhaltens (Vernachlässigung) besteht (ebd.). Innerhalb der verschiedenen Lerntheorien gibt es jedoch Unterschiede, die im Folgenden genauer dargestellt und deutlich gemacht werden.
2.1.2.1 Theorie der operanten Konditionierung (Skinner 1938)
Entgegen der klassischen Konditionierung, bei der ein vorangegangener Reiz zu ei- nem Reaktionsverhalten führt, sind sowohl beim instrumentellen als auch beim ope- ranten Konditionieren die Konsequenzen einer Reaktion wichtig (vgl. Zimbardo 1995, S.275 ff.). So entsteht Lernen, weil sich die Umwelt infolge eines Verhaltens verän- dert und sich dann schließlich auch das Verhalten wandelt. Während bei der instru- mentellen Konditionierung gehandelt wird, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, be- tont der amerikanische Lernpsychologe Skinner, dass es sich bei der operanten Konditionierung um spontane, wiederholte Aktivitäten handelt (ebd.). Die Umwelt re- agiert zufällig auf die unbestimmt geäußerten Verhaltensmuster mit beliebigen Rei- zen der Bestrafung oder Belohnung, was zu einer Veränderung dieses Verhaltens führen kann (ebd.). Auf die Entstehung von delinquentem Verhalten bezogen heißt das nun konkret, dass abweichendes Verhalten höchstwahrscheinlich wiederholt wird, wenn dies positive Konsequenzen für den Täter nach sich zieht, z. B. wenn die Tat unentdeckt bleibt. Folgt allerdings auf das Vergehen eine Bestrafung wie z.B. eine Geldbuße oder Inhaftierung, so wird der Täter gemäß Skinner lernen, dass de- linquentes Verhalten negative Folgen für ihn nach sich zieht. Entscheidend ist dabei, dass Sanktionen und Strafen zeitnah zur Tat und konsequent erfolgen, denn sonst können sie nicht als negative Verstärker wirksam werden (ebd.). Jedoch lösen Sank- tionen beim Delinquenten Furcht und Rachegefühle aus, unterbinden und löschen sein sträfliches Verhalten aber nicht dauerhaft (ebd.). Skinner legt hiermit also nahe, dass das vom Staat angewandte Sanktionssystem sozialer Kontrolle kaum geeignet ist, um Kriminalität und Delinquenz dauerhaft zu bekämpfen (ebd.). Er könnte mit seinen Ausführungen Recht behalten, denn diese würden erklären können, warum es trotz Haft-/Geldstrafen und weiteren Sanktionierungen oftmals zu Wiederholungs- taten kommt.
2.1.2.2 Theorie der differentiellen Kontakte (Sutherland 1939)
Die sehr frühe lerntheoretische Theorie der differentiellen Assoziation oder Kontakte wurde im Jahr 1939 erstmals vom Kriminologen Sutherland entworfen und von sei- nem Schüler Cressey 1955 modifiziert und angepasst (vgl. Lamnek 2001, S.188). Grundlage der Theorie Sutherlands ist die Annahme, dass delinquentes Verhalten im vor allem verbalen Kontakt mit anderen Personen erlernt wird und zwar in kleinen intimen Gruppen. Somit misst er gleichzeitig unpersönlichen Kommunikationsmitteln wie Fernsehen oder Zeitungen einen relativ geringen Einfluss auf die Entstehung von Delinquenz zu (ebd., S.189 ff.). Er betont, dass sowohl die delinquenten Verhaltens- weisen erlernt werden als auch die Motive, Einstellungen und Rationalisierungen. Welche spezifische Richtung die Motive und Triebe nehmen, ob sie also mehr zu konformem oder zu abweichendem Verhalten drängen, ist dabei von der Bedeu- tung abhängig, die die geltenden Rechtsnormen für die unmittelbare Umgebung des Betreffenden haben (vgl. Sutherland 1968 in Sack/König 1968). Daraus leitet er die Hauptthese seines Ansatzes heraus, welche besagt, dass eine Person delinquent wird als eine Folge des Überwiegens der die Verstöße begünstigenden Einstellun- gen über jene, die Gesetzesvergehen negativ beurteilen (ebd.). So werden Personen nicht nur aufgrund des Kontaktes zu kriminellen Mustern delinquent, sondern eben auch aufgrund der Abschottung von legalen, normkonformen Verhaltensweisen und Umgebungen. Die unterschiedlichen Kontakte variieren in Häufigkeit, Dauer und Pri- orität, wobei die Priorität, d.h. die Einflüsse, die auf eine Person in früher Kindheit wirken, als bedeutender angesehen wird, weil dadurch spätere Kontakte selektiv ge- steuert werden (vgl. Sutherland 1968, S. 394ff. in Lamnek 2001, S. 191 f.). Schließ- lich deutet Sutherland darauf hin, dass das Erlernen delinquenten Verhaltens nicht nur auf Nachahmung begrenzt ist, da nicht der Umgang mit kriminellen Mitmenschen zentral ist, sondern das Ausmaß der Gesetzesverstöße begünstigenden Bewertun- gen gegenüber diesem kriminellen Verhalten (vgl. Lamnek 2001, S.192 ff.).
Sutherlands Theorie der differentiellen Kontakte ist nicht unumstritten und wird häufig kritisiert. Ihr wird vorgeworfen, individuelle Unterschiede in der Lernfähigkeit nicht zu berücksichtigen und gilt somit als zu vereinfacht dargestellt (vgl. Schwind 2000, S.115 f.). Zudem wird die Entstehung der differentiellen Assoziation nicht hinreichend erklärt, sondern nur die der Delinquenz (ebd.). Darüber hinaus wird nicht die gesamte Bandbreite delinquenten Verhaltens beachtet und Trieb-und Affekttaten gänzlich ausgeblendet, die jedoch auch einer Erklärung bedürften (ebd.). Weiterhin ist eine empirische Prüfung der Theorie kaum möglich, da die Anzahl der Kontakte zu groß ist. Zuletzt wird noch oft kritisiert, dass Sutherland in seiner Theorie die Frage nach den Gründen für die Entwicklung delinquenten Verhaltensweisen offen lässt und nicht beantworten kann (ebd.).
2.1.2.3 Sozial-kognitive Lerntheorie (Bandura 1963)
Das Lernen durch Beobachtung oder Lernen am Modell nach Bandura ist ein weite- rer Ansatz zur Erklärung der Entstehung delinquenten Verhaltens. „Für die sozial- kognitive Lerntheorie finden Veränderungen im Erleben und Verhalten statt, wenn Menschen Modelle beobachten. Der Lernprozeß gliedert sich dabei in die Aneig- nungsphase und die Ausführungsphase.“ (Hobmair 1996, S.176). Nach Bandura kann also aggressives Verhalten wie jedes andere Verhalten auch durch Beobach- tung und Imitation erlernt werden. In einer Untersuchung versuchte Bandura nach- zuweisen, dass „Kinder, die beobachteten, wie erwachsene Modelle eine große Plas- tikpuppe boxten, schlugen und traten, im weiteren Verlauf des Experiments häufiger derartige Verhaltensweisen zeigten als Kinder aus Kontrollgruppen, die die aggressi- ven Modelle nicht beobachtet hatten. Nachfolgeuntersuchungen erbrachten, dass Kinder aggressive Verhaltensweisen schon dann nachahmten, wenn sie die Modelle lediglich im Film gesehen hatten oder wenn die Modelle sogar nur Zeichentrickfigu- ren gewesen waren“ (Zimbardo/Gerrig 1999, S.233). Für den Prozess des Modelller- nens sind einige kognitive Fähigkeiten nötig: Zunächst muss der Beobachter auf- merksam sein, denn ein Modell kann nicht imitiert werden, wenn es nicht aufmerk- sam beobachtet wird. Dabei ist die Aufmerksamkeit umso höher, je ansprechender das Modell sich verhält und je höher sein Status ist (ebd., S.233 ff.). Zudem muss das Modell im Gedächtnis gemerkt werden (Retention und Speicherung), um in Zu- kunft das beobachtete Verhalten auch in Abwesenheit des Modells anwenden zu können. Eine dritte Fähigkeit ist die motorische Reproduktion, es müssen also die benötigten motorischen Fertigkeiten vorhanden sein, um das gelernte Verhalten aus- zuführen. Zuletzt spielt noch die Motivation eine große Rolle, denn das beobachtete Verhalten muss als positiv und erstrebenswert wahrgenommen werden, da es sonst keinen Anreiz zum Anwenden gibt (ebd.). Grob kann das Modelllernen also in die Phasen Aneignung (Aufmerksamkeit, Behalten) und Ausführung (Reproduktion, Mo- tivation) eingeteilt werden (ebd.).
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