Ethnische Minderheiten in Litauen


Diplomarbeit, 2012

114 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Eidesstaatliche Erklärung

Vorwort

Zusammenfassung

Abstract

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Arbeitsgrundlagen und Arbeitsmethodik
1.3 Lage des Untersuchungsgebietes

2 Theoretische Überlegungen
2.1 Ethnizität
2.2 Nationalität – nationale Minderheit
2.3 Minderheit
2.4 Typen nationaler Minderheiten in Litauen
2.5 Minderheitenschutz als Politisches Konzept
2.5.1 Entwicklung Völkerbund
2.5.2 Moderner Minderheitenschutz

3 Historische Grundlagen in Litauen
3.1 Vom Werden Litauens bis zum Jahr 1918
3.2 Staatliche Unabhängigkeit
3.3 Litauen im Zweiten Weltkrieg
3.4 Die litauisch-sozialistische Sowjetrepublik
3.5 Wiedererlangung der Unabhängigkeit

4 Rechtliche Grundlagen
4.1 Verfassung 1992
4.2 Staatsbürgerschaftsfrage
4.3 Die Rolle der Europäischen Union

5 Die Bevölkerung Litauens
5.1 Bevölkerungsentwicklung
5.2 Ethnische Zusammensetzung der Minderheiten in Litauen
5.3 Religionen in Litauen

6 Ethnische Minderheiten in Litauen
6.1 Polen
6.2 Russen
6.3 Weißrussen
6.4 Ukrainer
6.5 Juden
6.6 Deutsche
6.7 Tataren
6.8 Roma
6.9 Letten
6.10 Karäer
6.11 Armenier
6.12 Sonstige Minderheiten

7 Räumliche Verteilung der Minderheiten in Litauen
7.1 Visualisierung
7.2 Ausreißergemeinden

8 Minderheitenpolitik
8.1 Bildung und Sprachgebrauch
8.2 Politische Mitbestimmung
8.3 Medien der Minderheiten

9 Resümee und Ausblick

10 Verzeichnis der Arbeitsgrundlagen
10.1 Zitierte Literatur
10.2 Statistiken
10.3 Internetquellen

11 Anhang
11.1 Liste der Selbstverwaltungsgemeinden in Litauen
11.2 Fragestellungen Census 2001
11.3 Fragestellungen Census 2011
11.4 Gesetz über nationale Minderheiten – (MinG)

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Ehemalige Verwaltungsregionen Litauens bis 2010

Abb. 2: Mindaugas-Denkmal in Vilnius

Abb. 3: Gediminas-Denkmal in Vilnius

Abb. 4: Zeitleiste Litauen bis zum Jahr 1500

Abb. 5: Zeitleiste Litauen von 1500 bis 1918

Abb. 6: Zeitleiste Litauen Zwischenkriegszeit

Abb. 7: Zeitleiste Litauen im Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945

Abb. 8: Zeitleiste Litauen von 1945 bis 1991

Abb. 9: Zeitleiste Litauen seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit

Abb. 10: Bevölkerungsdichte der Selbstverwaltungsgemeinden Litauens in Einwohner/km² 2010

Abb. 11: Entwicklung der ethnischen Minderheiten Litauens von 1959 bis 2010

Abb. 12: Berg der Kreuze – Weg

Abb. 13: Berg der Kreuze – Kreuze

Abb. 14: Wasserschloss in Trakai

Abb. 15: Karäer-Haus in Trakai

Abb. 16: Visualisierung der ukrainischen Minderheit in Litauen

Abb. 17: Visualisierung der weißrussischen Minderheit in Litauen

Abb. 18: Visualisierung der russischen Minderheit in Litauen

Abb. 19: Visualisierung der polnischen Minderheit in Litauen

Abb. 20: Visualisierung der litauischen Bevölkerung in Litauen

Abb. 21: Relative Verteilung der ethnischen Minderheiten in Vilnius Umgebung 2001

Abb. 22: Relative Verteilung der ethnischen Minderheiten in Vilnius Stadt 2001

Abb. 23: Relative Verteilung der ethnischen Minderheiten in Visaginas 2001

Abb. 24: Relative Verteilung der ethnischen Minderheiten in Salcininkai 2001

Abb. 25: Relative Verteilung der ethnischen Minderheiten in Trakai 2001

Abb. 26: Relative Verteilung der ethnischen Minderheiten in Klaipeda Umgebung 2001

Abb. 27: Relative Verteilung der ethnischen Minderheiten in Klaipeda Stadt 2001

Abb. 28: Schüler an öffentlichen Schulen in Litauen nach der Unterrichtssprache in den Schuljahren 2000 bis 2010

Abb. 29: Census 2001 - Frage 22 – Staatsbürgerschaft

Abb. 30: Census 2001 - Frage 23 – Ethnizität

Abb. 31: Census 2001 - Frage 24 – Muttersprache

Abb. 32: Census 2001 - Frage 25 – weitere Sprachkenntnisse

Abb. 33: Census 2001 - Frage 32 – Religionszugehörigkeit

Abb. 34: Census 2001 - Frage 33 – Konfession

Abb. 35: Census 2011 - Frage 6 – Staatsbürgerschaft

Abb. 36: Census 2011 - Frage 13 – Ethnizität

Abb. 37: Census 2011 - Frage 14– Muttersprache(n)

Abb. 38: Census 2011 - Frage 15 – weitere Sprachkenntnisse

Abb. 39: Census 2011 - Frage 16 – religiöse Zugehörigkeit

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Liste der größten Städte Litauens 2010

Tab. 2: Entwicklung des Minderheitenschutzes

Tab. 3: Bevölkerung der Wojewodschaft Wilna und deren Verteilung in Stadt- und Landbevölkerung 1931

Tab. 4: Russen in Stadt- und Landbevölkerung 1989 in Relativzahlen

Tab. 5: Zusammensetzung der Bevölkerung Litauens nach der Staatsbürgerschaft 2001

Tab. 6: Fragestellungen Census 2001 Litauen

Tab. 7: Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Litauens von 1897 bis 2010

Tab. 8: Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Estlands 2008

Tab. 9: Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Lettlands 2009

Tab. 10: Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Weißrusslands 1999

Tab. 11: Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Polens 2002

Tab. 12: Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung der Oblast Kaliningrad 2002

Tab. 13: Verteilung der Konfessionen in Litauen 2001

Tab. 14: Organisationen der ethnischen Minderheiten in Litauen 2011

Tab. 15: Entwicklung der polnischen Minderheit in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 16: Entwicklung der russischen Minderheit in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 17: Entwicklung der weißrussischen Minderheit in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 18: Entwicklung der ukrainischen Minderheit in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 19: Prozentueller Anteil der Studierenden an der Universität in Vilnius 1933

Tab. 20: Entwicklung der jüdischen Minderheit in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 21: Entwicklung der deutschen Minderheit in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 22: Entwicklung der tatarischen Minderheit in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 23: Entwicklung der Minderheit der Roma in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 24: Entwicklung der lettischen Minderheit in Litauen in ausgewählten Jahren zwischen 1897 und 2010 in Absolutzahlen

Tab. 25: Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Litauens im Jahr 2001 auf Basis der ehemaligen Regionen des Landes

Tab. 26: Ausgewählte Gemeinden Litauens bezüglich der Struktur der siedelnden Minderheiten

Tab. 27: Ausreißergemeinden Vilnius Stadt und Vilnius Umgebung

Tab. 28: Ausreißergemeinde Visaginas

Tab. 29: Ausreißergemeinde Salcininkai

Tab. 30: Ausreißergemeinde Trakai

Tab. 31: Ausreißergemeinden Klaipeda Stadt und Klaipeda Umgebung

Tab. 32: Schüler in Litauen nach der Unterrichtssprache (am Beginn des akademischen Jahres)

Tab. 33: Bevölkerung nach Ethnie und Bildung in Litauen (Zehnjährige und älter) pro 1.000 Personen

Tab. 34: Politische Parteien der ethnischen Minderheiten Litauens

Tab. 35: Liste der Selbsterwaltungsgemeinden Litauens

Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und nur unter Verwendung der angegebenen Arbeitsgrundlagen verfasst habe.

Vorwort

Von klein auf ist mir Engagement für benachteiligte Personen und Gruppierungen, gleich welcher Herkunft und welchen Geschlechts sie sind, ein großes Anliegen. In Folge einer Reise in das Baltikum in den Sommermonaten 2010 und unzähliger Konversationen mit neu gewonnenen Freunden, kam ich zur Überlegung, mich mit diesen Ländern genauer zu befassen. Aus Gesprächen über die Lage der russisch- und polnischsprachigen Minderheiten in Litauen kam ich zum Entschluss, mich eingehender mit der Thematik der ethnischen Minderheiten in diesem Land zu beschäftigen. Ich hatte vorher noch nie etwas darüber gelesen, dass es in Litauen zu Spannungen zwischen Minderheiten und der Titularnation gekommen war, ganz im Gegensatz zu seinen baltischen Nachbarn Lettland und Estland. Die Selbstverständlichkeit, mit der vor allem junge Menschen in Litauen teilweise vier Sprachen beherrschen (litauisch, russisch, polnisch und englisch) imponierte mir. Nach Rücksprache mit meinem Betreuer Prof. Peter Čede wurde die Idee geboren, die räumliche Verteilung der ethnischen Minderheiten Litauens in Form von selbst produzierten Karten, auf Basis der zur Verfügung stehenden statistischen Daten, zu visualisieren.

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass sich die Schreibweise der Gemeinde- und Ortsnamen in der Arbeit an den offiziellen Bezeichnungen des Statistischen Amtes Litauen orientiert, eine Liste hierzu findet sich im Anhang dieser Arbeit und wird einheitlich für den gesamten Text verwendet. Der in der Arbeit verwendete Ausdruck „Census“ bezieht sich auf die Volkszählungen des jeweils angegebenen Jahres.

In der Arbeit wurden bewusst männliche Pluralformen verwendet, diese schließen jedoch ausdrücklich auch die weiblichen Pluralformen ein. Dies ist in keinster Weise diskriminierend zu verstehen und dient alleinig dem besseren Textfluss beim Lesen.

Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei meinem Betreuer Prof. Peter Čede, der mir während der Arbeit immer wieder mit Rat und Tat eine gute Hilfestellung war. Ein besonderes Dankeschön gebührt meiner Familie, die mir während meines Studiums immer zur Seite stand, sowie Miriam und Thomas für das Lektorat der nun vorliegenden Arbeit!

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Situation der ethnischen Minderheiten in Litauen. Der Staat Litauen, der südlichste der insgesamt drei Staaten die gemeinsam als Baltikum bezeichnet werden, hat eine lange und wechselhafte gemeinsame Vergangenheit mit seinen Nachbarstaaten Weißrussland, Russland, Lettland und Estland als Teil der Sowjetrepubliken, sowie einer gemeinsamen Union mit Polen. Dennoch hat sich in Litauen, im Gegensatz zu seinen baltischen Nachbarn, ein viel geringerer Minderheitenanteil an der Gesamtbevölkerung erhalten und die ethnischen Spannungen in den letzten Jahrzehnten waren auch weniger ausgeprägt. Litauen wird oftmals sogar als „Musterschüler des Ostens“ angesehen, was das Verhältnis zu seinen Minderheiten betrifft. Die vorliegende Arbeit versucht dieser Hypothese nachzugehen und vor allem die Gründe für diese oftmalig getätigte Aussage zu erforschen.

Beginnend mit theoretischen Begriffklärungen und einem historischen Längsschnitt, der wichtig ist, um die aktuelle Situation der Minderheiten besser verstehen zu können, werden wichtige rechtliche Grundlagen in Minderheitenfragen für Litauen geklärt. Hierbei prägend sind die Verfassung von 1992 sowie die Frage der Staatsbürgerschaft in Litauen. Den Hauptteil der Arbeit nimmt die Beschreibung der einzelnen Minderheiten, deren demographische Entwicklung, sowie die räumliche Verteilung der Minderheiten in Litauen ein. Diese werden in Form von selbst produzierten Karten visualisiert. In weiterer Folge werden so genannte Ausreißergemeinden ausgewählt und gesondert analysiert. Dies sind die Selbstverwaltungsgemeinden Vilnius Stadt, Vilnius Umgebung, Visaginas, Salcininkai, Trakai, sowie die Gemeinden Klaipeda Stadt und Klaipeda Umgebung.

Die ethnischen Minderheiten werden ebenso auf die Situation des Sprachunterrichts, der politischen Partizipation, sowie der Herausgabe von Medien in Form von Zeitschriften, Wochen- und Tageszeitungen analysiert. Des Weiteren wird näher betrachtet, welches Programm es in Fernsehen und Radio für und von den einzelnen Minderheiten gibt. Den Abschluss der Arbeit bilden ein Resümee, in dem der aktuelle Stand der Minderheitenpolitik in Litauen betrachtet wird, sowie ein Ausblick über zukünftige Entwicklungen.

Abstract

The master-thesis deals with the situation of ethnic minorities in Lithuania. The State of Lithuania, the most southern of the three countries which are named as the Baltic States, has a long common past with its neighboring countries Belarus, Russia, Latvia and Estonia as part of the Soviet republics, as well as a common Union with Poland. The State of Lithuania has a much lower proportion of the total minority population than its Baltic neighbors. Ethnic tensions in recent decades were also much lower than in Estonia and Latvia. Lithuania is often considered as a "best practice model of Eastern Europe", concerning the relationship to its minorities. The master-thesis attempts to investigate this hypothesis and to give reasons for this often stated expression.

Starting with theoretical explanations of terms and a historical longitudinal section, which is important to understand the current situation of minorities more effectively, important basic issues concerning minority issues in Lithuania have to be clarified. The most important issues are the 1992 constitution and the question of citizenship in Lithuania. The main parts of the thesis are the description of individual minorities, its demographics and the spatial distribution of minorities in Lithuania. This can be visualized in the form of self-produced maps. So called “outlier communities” are being analyzed separately. These are the self-governing communities of Vilnius city, Vilnius surrounding region, Visaginas, Salcininkai, Trakai, Klaipeda city and Klaipeda surrounding region.

The situation of language teaching, political participation as well as the publication of media in forms of magazines, weekly and daily newspapers are also taken into account. Furthermore, a closer look has to be taken which program is on television and radio, for and by different minorities. The end of the thesis forms a summary where the current state of minority policy in Lithuania is considered as well as an outlook on future developments.

1 Einleitung

1.1 Problemstellung und Zielsetzung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Situation der ethnischen Minderheiten in Litauen. Dabei werden am Anfang Begrifflichkeiten abgeklärt, sowie historische Grundlagen behandelt, um in Folge dessen den aktuellen Stand besser verstehen zu können. Forschungsfragen, die in der Arbeit behandelt werden:

- Welche ethnischen Minderheiten gibt es aktuell in Litauen?
- Wie sieht die demographische Entwicklung der ethnischen Minderheiten Litauens und deren räumliche Verteilung aus?
- Welche Probleme und Konflikte gibt es zwischen den Minoritäten und der Titularnation in Litauen?
- Gibt es eine Bewahrung der kulturellen Identität der ethnischen Minderheiten? In welcher Form sind die Vertretungen der Minderheiten organisiert?
- Welche Möglichkeiten des Unterrichts in der Muttersprache gibt es von staatlichen Institutionen bzw. von privater Seite aus?

In den Hauptkapiteln der Arbeit, dies sind insbesondere Kapitel sechs „Ethnische Minderheiten in Litauen“ sowie Kapitel sieben „Räumliche Verteilung der Minderheiten in Litauen“ werden die in Litauen siedelnden ethnischen Minderheiten näher vorgestellt und ihre demographische Entwicklung aufgezeigt. Die Visualisierung, in Form von selbst hergestellten Karten, ist ein großes Ziel dieser Arbeit, da eine entsprechende kartographische Aufarbeitung in der mir bekannten Literatur noch nicht vorhanden ist. In weiterer Folge werden Medien der ethnischen Minderheiten, die politische Partizipation, sowie die Situation des Unterrichts in der Muttersprache näher beleuchtet. Am Ende steht ein Resümee, das die aktuelle Situation skizziert und einen Ausblick in die die nahe Zukunft wagt.

1.2 Arbeitsgrundlagen und Arbeitsmethodik

Am Anfang der Arbeit stand eine intensive Literatur- und Internetrecherche, die mich aufgrund der Thematik nicht nur in diversen Fachbibliotheken in Graz recherchieren ließ, sondern mich auch einige Male nach Wien auf die dortige Universität, sowie die Nationalbibliothek verschlug. Des Weiteren wurden etliche Werke per Fernleihe bestellt und sondiert. Aus der Fülle an Literatur, die letztlich zum theoretischen Teil gesammelt war, wurde schlussendlich eine Auswahl an für die Arbeit relevantem Material getroffen, wobei natürlich auf den aktuellen Stand der Forschung besonders geachtet wurde.

Ein großer Teil der Masterarbeit beschäftigt sich mit aufbereiteten statistischen Daten über Litauen, und hier insbesondere mit Daten auf Basis der sechzig Selbstverwaltungsgemeinden. Hierbei war das offizielle Online-Datenportal der Statistik Litauen (aufrufbar unter http://www.stat.gov.lt) von großer Hilfe, findet man dort doch viele der für die Arbeit benötigten Daten. Als zeitlich einheitliche Basis werden Daten der letzten großen Volkszählung, des Census 2001, verwendet, welche online in einer Datenbank aufrufbar sind. Aus dem im Jahr 2011 durchgeführten Census sind noch keine für die Arbeit relevanten Daten verfügbar, die Veröffentlichung ist für Juni 2013 vorgesehen.

Auf der Grundlage statistischer Daten der Statistics Lithuania wurden Karten von Litauen hergestellt, die auf Basis der sechzig Selbstverwaltungsgemeinden die räumliche Verteilung der einzelnen ethnischen Minderheiten aufzeigen und der Visualisierung dienen. Dazu wurden zur besseren Vergleichbarkeit der vier Minderheiten, die landesweit einen Bevölkerungsanteil von zumindest 0,5 % an der Gesamtbevölkerung stellen, eigene Karten gefertigt. Weiters wurden Diagramme hergestellt, die den Anteil der ethnischen Minderheiten in ausgewählten so genannten Ausreißergemeinden darstellen.

Die in der Arbeit ergänzend verwendeten Fotos stammen von einer Reise durch das Baltikum im Sommer 2010 und wurden hauptsächlich zur besseren Veranschaulichung hinzugefügt.

1.3 Lage des Untersuchungsgebietes

Litauen ist der südlichste der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Mit einer Fläche von 65.300 km² zählt er zu den kleineren europäischen Staaten und ist damit in etwa gleich groß wie sein im Norden gelegener Nachbar Lettland (zum Vergleich: Österreich hat eine Fläche von 83.879 km²). Die Einwohnerzahl betrug zu Beginn des Jahres 2011 genau 3.244.601 Personen und die Bevölkerungsdichte 49,7 Einwohner/km² (Statistics Lithuania 2011). Rund 30 % der Fläche Litauens ist mit Wald bedeckt, die höchste Erhebung ist mit 294 m ü.M. der Aukštojas, der im Hügelland im Südosten des Landes liegt und zum Weißrussischen Höhenrücken gehört. Litauen besitzt an der Westküste einen Zugang zur Ostsee und grenzt an folgende Nachbarstaaten: im Norden und Nordosten an Lettland, im Osten und Südosten an Weißrussland, im Südwesten an Polen sowie im Westen an die Oblast Kaliningrad, welche zur Russischen Föderation gehört. Die litauische Bevölkerung siedelt zu 33 % auf dem Land, und zu 67 % in Städten. (Europäische Kommission 2004, S.1) Die fünf größten Städte Litauens, nach ihrer Einwohnerzahl geordnet, sind:

Tab. 1: Liste der größten Städte Litauens 2010

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Statistics Lithuania 2011, in eigener Bearbeitung

Litauen gliederte sich verwaltungstechnisch bis 2010 in zehn Regionen, auch Apskritys genannt, die der Regierung unterstanden. Diese waren: Alytus, Kaunas, Klaipeda, Marijampole, Panevezys, Siauliai, Taurage, Telsiai, Utena und Vilnius. Die Regionen existieren offiziell in dieser Form seit 1. Juli 2010 nicht mehr (Lietuvos Respublikos Seimas 2011). Lediglich die NUTS-3-Einteilung in Litauen entspricht nach wie vor den Grenzen der ehemaligen Regionen (Eurostat 2011). Auf der Ebene darunter gibt es 60 kleinere Verwaltungseinheiten, die so genannten Savivaldybė, die von der Struktur her mit Gemeinden in Österreich verglichen werden können. (Statistics Lithuania 2011) Allerdings haben diese Gemeinden, auch aufgrund der Geschichte Litauens und der Verbindung zur ehemaligen Sowjetunion, eine durchschnittliche Größe von 1088 km² (zum Vergleich: die durchschnittliche Größe einer Gemeinde in Österreich beträgt nur rund 36 km²).

Abb. 1: Ehemalige Verwaltungsregionen Litauens bis 2010

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Statistics Lithuania 2011, eigene Bearbeitung und Darstellung

2 Theoretische Überlegungen

Die Thematik des Minderheitenschutzes hat mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und infolge der Beitrittsverhandlungen der ehemaligen Staaten des so genannten „Ostblocks“ zur Europäischen Union einen komplett neuen Stellenwert bekommen. Die Titularnation, darunter wird eine Nation verstanden, von deren Namen sich die Bezeichnung des Staates ableitet und die zumeist auch die Bevölkerungsmehrheit des Staates bildet, stellt in Litauen 83,1 % der Bevölkerung. Die größten Minderheiten des Landes sind die polnische Minderheit mit einem relativen Bevölkerungsanteil von 6,1 % und die russische Minderheit mit 4,9 %. Vor allem zwischen Polen und Litauen kam es in den letzten Jahren zu Spannungen bezüglich der Benachteiligung der polnischen Minderheit in Litauen, das Verhältnis mit Russland erscheint dagegen momentan relativ unproblematisch. Der Beitritt Litauens zur Europäischen Union hat die Spannungen zu einem gesamteuropäischen Problem gemacht.

Durch die gemeinsame Vergangenheit der baltischen Nachbarstaaten Estland und Lettland wäre ein Vergleich in Bezug auf die Behandlung der Minderheiten angebracht, dennoch sind schon alleine aufgrund der Historie verschiedene Grundlagen gegeben. So war die Ausgangslage in Litauen 1990 eine andere als in Lettland und in Estland. Durch die relativ homogene Zusammensetzung der Bevölkerung konnte man von Anfang an einen anderen Weg gehen, der sich in der sog. „Nulloption“ im Jahr 1992 auch widerspiegelte. Aufgrund seiner erfolgreichen Integration der Minderheiten gilt Litauen heute als einer der Musterschüler Europas in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Bei der Suche nach Literatur stößt man auf umfangreiche Informationen über die Minderheitensituation in Estland und Lettland, über Litauen findet man signifikant weniger Literatur, was wohl daran liegt, dass es das am wenigsten untersuchte der baltischen Länder ist. Durch einen anderen Ansatz in der Minderheitenpolitik nach Erlangung der Unabhängigkeit konnte vielen potentiellen Konflikten vorgebeugt werden.

2.1 Ethnizität

Ethnizität bedeutet eine gefühlsmäßige Volkszugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, weniger eine faktische Zugehörigkeit. Ethnische Gruppen entstehen dabei durch Definitionsprozesse, welche die Gruppen jedoch selbst vornehmen. Treibel meint hierzu, dass das, was eine Gruppe zu einer ethnischen Gruppe macht, oft mehr Fiktion als Realität sei. (Treibel 2008, S.186-187)

Elemente des Begriffs Ethnizität sind laut Heckmann folgende:

- die Betonung der soziokulturellen Besonderheiten
- gemeinsame historische und aktuelle Erfahrungen
- die Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft
- eine kollektive Identität, die auf Selbst- und/oder Fremdzuschreibung beruht
- ein auf ethnischen Grenzen beruhendes Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsbewusstsein
- der Glaube an eine gemeinsame Zukunft (Heckmann 1992, S.37)

Eine Definition des Begriffs „Ethnie“ nimmt Perchinig vor, indem er festlegt, dass dies eine Gruppe bezeichnet, „ die sich selbst in rollentranszendierenden, klassen-, schicht- und geschlechtsunspezifischen sowie tendenziell das gesamte Alltagsleben umfassenden Charakteristik als gegenüber ihrer Umwelt anders wahrnimmt und auch von ihrer Umwelt als anders wahrgenommen wird.“ (Perchinig 1988, S.130)

2.2 Nationalität – nationale Minderheit

Nationalität und Nationalismus setzen sich aus gemeinsamen ideologischen Bausteinen wie Sprache, Volk, Religion und Geschichte zusammen. Eine Nation wird durch Teilhabe an einer gemeinsamen Gleichartigkeit begründet. (Heckmann 1992, S.51-52) Die Begriffe der Nationalität sowie des Nationalismus haben die letzten beiden Jahrhunderte der Menschheit geprägt. Der Nationenbegriff kann dabei als ethnisches Kollektiv bezeichnet werden, das ein ethnisches Bewusstsein einer Gemeinsamkeit zur Grundlage hat und politisch im Nationalstaat organisiert ist. (Heckmann 1992, S.57)

Eine spezielle Definition des Begriffs der Minderheit gibt es in Litauen nicht, jedoch wird er auf jeden Fall auf litauische Staatsbürger angewandt, welche entweder einem Volk angehören das in einem anderen Land die staatstragende Nation stellt, oder sich als eigene ethnische Gruppe versteht (Schmidt 2005, S.16). Der Entwurf eines neuen Minderheitengesetzes, das 2011 noch nicht umgesetzt war, sieht erstmalig eine Definition einer nationalen Minderheit in Litauen vor. Wörtlich heißt es: „ National minority means a group of citizens of the Republic of Lithuania who have a culture, religion or language different from those of the national majority and who are united by the ambition to preserve their national identity.” Eine Organisation einer nationalen Minderheit soll demnach wie folgt definiert werden: “National minority organisation means an organisation that unites persons belonging to a national minority, which operates pursuant to the Law on Associations of the Republic of Lithuania, the Law on Public Institutions of the Republic of Lithuania and the Law on Charity and Sponsorship of the Republic of Lithuania.” (Council of Europe 2011b, S.13-14)

2.3 Minderheit

Der Minderheitenbegriff wird im alltäglichen Diskurs häufig verwendet, er steht so gut wie immer einer Mehrheitsbevölkerung gegenüber. Jedoch steht die Minderheit der Mehrheit nicht immer gleichberechtigt gegenüber, sie kann auch benachteiligt, diskriminiert oder unterdrückt werden. Ein Charakteristikum einer Minderheit ist des Weiteren ihr spezielles Verhältnis zum staatlichen System. (Schmiedmeier 2010, S.28)

Eine von Capotorti im Auftrag der Vereinten Nationen im Jahr 1977 entwickelte Definition einer Minderheit, die international anerkannt ist, weist folgende Merkmale auf:

- eine ethnisch, religiös oder sprachlich von der Mehrheit unterschiedliche Bevölkerungsgruppe
- zahlenmäßige Unterlegenheit
- keine beherrschende Stellung
- Staatsangehörige des Wohnsitzstaates
- will ihre Gruppenidentität bewahren

Niemand soll gegen seinen Willen in einer Minderheit festgehalten werden, deshalb wird auch niemand gezwungen, sich zu einer Minderheitengruppe zu bekennen. (Capotorti 1979)

2.4 Typen nationaler Minderheiten in Litauen

Nationale Minderheiten können in Litauen nach folgenden Typen unterschieden werden: (Runblom und Roth 1993, S.9-11)

Die so genannten territorialen Minderheiten bezeichnen sich selbst als Minderheiten. Sie leben aufgrund ihrer Tradition bereits sehr lange auf ihrem Gebiet und werden als Alteingesessene angesehen. Sie können in einem kleinen geschlossenen Siedlungsgebiet, aber auch verstreut über ein größeres Siedlungsgebiet verstreut leben. In Litauen kann man als Beispiele die Karäer und die Tataren anführen.

Des Weiteren gibt es Minderheiten, die den Status einer Minderheit durch die sich verändernden Grenzverläufe in der Historie bekommen haben. Durch die Verschiebung wird oftmals aus einer Majorität eine Minorität, die sich verschiedenen Formen von Diskriminierungen ausgesetzt sieht. Als Beispiel in Litauen können die polnische und teilweise auch die weißrussische Minderheit gesehen werden.

Als postkoloniale Minderheiten kann man jene bezeichnen, die vormalig die dominierende Macht im Land waren und durch eine Veränderung hin zu einem neuen souveränen Staat und einer Nationalbewegung zu einer Minorität werden. Die russische Minderheit und des Weiteren Angehörige der ehemaligen Sowjetunion können hier als Beispiel für Litauen angeführt werden.

Die Kategorie der Diaspora bezeichnet Minderheiten, die außerhalb ihres Ursprunglandes Gruppen bilden, und sich dann zu dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen. In Litauen können als Beispiel Juden und Roma angeführt werden, wobei Juden bereits seit dem Mittelalter auf dem Gebiet des heutigen Litauen siedeln.

Nach der Annexion Litauens durch die Sowjetunion kamen, bedingt durch die Industrialisierung der baltischen Staaten, Arbeitskräfte aus den Teilrepubliken der Sowjetunion nach Litauen. Diese Kategorie kann als Arbeitsmigration bezeichnet werden Als Beispiele hierfür können Russen, Weißrussen, aber auch Ukrainer genannt werden, die sich vor allem in den großen Zentren ansiedelten.

In die Kategorie Flüchtling einordnen kann man Personen, die ihr Land aufgrund von Terror, Diskriminierung oder Krieg verlassen haben. Migranten dieser Kategorie können sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in jüngerer Vergangenheit gefunden werden.

2.5 Minderheitenschutz als politisches Konzept

Das Rahmenübereinkommen des Europarates zeigt die Zielsetzung des politischen Konzeptes des Minderheitenschutzes auf. Artikel 1 zeigt, dass Minderheitenschutz nicht nur Gegenstand auf nationaler Ebene ist, sondern auch Gegenstand internationaler Beziehungen.

„Der Schutz nationaler Minderheiten und der Rechte und Freiheiten von Angehörigen dieser Minderheiten ist Bestandteil des internationalen Schutzes der Menschenrechte und stellt als solcher einen Bereich internationaler Zusammenarbeit dar.“ (Bundeskanzleramt Österreich 2011)

2.5.1 Entwicklung Völkerbund

Im Rahmen der neuen Grenzziehungen nach Beendigung des Ersten Weltkrieges durch die Pariser Vorortverträge kam es zu einer sich verkomplizierenden Minderheitensituation. Der Minderheitenschutz entwickelte sich in Folge dessen in Richtung internationale Beziehungen bzw. Völkerrecht. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges verschärften durch ihre Interessenspolitik die Nationalitätenkonflikte, und hier vor allem in Osteuropa, noch einmal weiter. Das Hauptziel des 1920 gegründeten Völkerbundes war die Stabilisierung und Sicherheit von internationalen Beziehungen, jedoch weniger der Schutz der einzelnen menschlichen Würde. Voraussetzung für den Beitritt zum Völkerbund war der gleichzeitige Beitritt zum Minderheitenschutzsystems des Völkerbundes, der zum Teil nur widerwillig erfolgte. „[Manche Staaten] lehnten es sogar ab, sich am Minderheitenschutzsystem zu beteiligen. “ (Opitz 2007, S.52-53)

Das Scheitern des Völkerbunds ging einher mit dem Scheitern eines ersten Versuchs eines internationalen Minderheitenschutzsystems. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten den Minderheitenschutz, dadurch wurde er nicht mehr als Frieden erhaltender Faktor gesehen, sondern zunehmend als Krieg verursachender Faktor. Durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges kam es in Folge zu einer Veränderung der Perspektiven. Die Vereinten Nationen traten als Nachfolgeorganisationen des Völkerbunds in Erscheinung, die Übernahme der Schutzfunktion wurde von den Vereinten Nationen jedoch abgelehnt. Begründet wurde dies mit den Bevölkerungsverschiebungen durch den Zweiten Weltkrieg, dadurch seien die zu schützenden Minderheiten nicht mehr vorhanden. (Opitz 2007, S.53-54)

2.5.2 Moderner Minderheitenschutz

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges kam es 1948 mit der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte zu einem Meilenstein auf dem Gebiet des internationalen Menschenrechtsschutzes. Der Minderheitenschutz verlagerte sich hingegen zurück auf eine nationale Ebene. Die Minderheitensituation in Europa spaltete sich nach 1945 zwischen jener in Ost- und jener in Westeuropa auf. Die sich abermals verschärfende Situation durch den Kalten Krieg brachte zudem noch eine allgemeine Gefährdung der internationalen Sicherheit mit sich. (Opitz 2007, S.55-56)

Die Entwicklung eines modernen europäischen Minderheitenschutzes kann mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der ein Perspektivenwechsel stattfand, datiert werden. Durch die Entwicklung einer auf Toleranz gestützten pluralistischen Kultur wurden Minderheiten seither als Bereicherung, und nicht mehr als Störfaktor, gesehen. Im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit, in der der Minderheitenschutz dem Ausgleich territorialer Veränderungen diente, hatte man nun eine neue Entwicklungsstufe erreicht. Moderner Minderheitenschutz wird gemäß der Idee der universellen Menschenrechte als permanentes Schutzsystem gesehen.

Tab. 2: Entwicklung des Minderheitenschutzes

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Opitz 2007

Vom Einstellungswandel der Europäer in Minderheitenfragen zu Beginn der 1990er Jahre zeugen unter anderem die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, sowie der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten der OSZE.

3 Historische Grundlagen in Litauen

Die Geschichte Litauens und deren Entwicklungsschritte sind nicht Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit, dennoch darf man der Meinung des Autors nach die historischen Grundlagen und die nationalstaatliche Entwicklung Litauens nicht außer Acht lassen, liefern sie doch die Basis für die heutige ethnische Zusammensetzung des Landes. Ohne einen ausführlichen Blick auf die Vergangenheit können viele gegenwärtige Vorgänge und Zustände nicht seriös erklärt und analysiert werden, deshalb folgt in diesem Kapitel ein historischer Überblick in Form einer chronologischen Darstellung.

3.1 Vom Werden Litauens bis zum Jahr 1918

Der Name Litauens, Litua, fällt erstmals 1009 im Zuge der Prussen-Mission Bruns von Querfurt. In einer russischen Chronik aus dem Jahr 1040 wird von einem Land Litva berichtet, das von der Rus abhängig sei. Die Zugehörigkeit zu einem baltischen Kulturkreis mit einer gemeinsamen Sprache lässt sich erstmals um 1200 nachweisen, als auf dem Gebiet des heutigen Lettland und Litauen mehrere Stammesherrschaften entstanden, deren Sprachen großteils der baltischen Sprachfamilie zugeordnet werden können. Die litauischen Stämme im 13. Jahrhundert siedelten dabei vorwiegend in der Gegend um Vilnius. (Tuchtenhagen 2005, S.11-12)

Die litauischen Stämme waren hierarchisch organisiert, wobei an der Spitze Burgherren standen, welche die Macht auf ihre persönliche Gefolgschaft stützten. In der Nähe der Zentren der Macht entstanden Burgsiedlungen, den Großteil der Bevölkerung bildeten dabei freie Bauern, die sich in der Nähe dieser Burgsiedlungen aufhielten. Bedroht wurden die litauischen Stämme vor allem durch den Schwertbrüderorden, der jedoch in der Schlacht von Schaulen, welche sich in der Nähe der heutigen Stadt Siauliai zugetragen haben dürfte, im Jahr 1236 eine schwere Niederlage hinnehmen musste. Der in weiterer Folge entstandene Deutsche Orden konnte keine nennenswerten Erfolge gegen die litauischen Stämme erzielen. Der Orden musste 1410 in der Schlacht von Tannenberg sogar eine weitere, laut der Literatur „ katastrophale Niederlage gegen ein polnisch-litauisches Heer “, hinnehmen. (Tuchtenhagen 2005, S.13-25)

Der bedeutendste der litauischen Fürsten des 13. Jahrhunderts ist sicherlich Mindaugas, der das litauische Stammesgebiet erfolgreich gegen den Schwertbrüderorden verteidigte, sowie sein Machtgebiet als Folge einer Schwäche der Rus nach dem Mongoleneinfall 1240 Richtung Süden und Osten ausbauen konnte. Litauen galt im 13. Jahrhundert als „ letzter Hort des europäischen Heidentums [und als] potentielles Missionsgebiet der Kirche “. Durch die Taufe Mindaugas konnte sich dieser 1253 sogar zum König von Litauen krönen lassen. (Tuchtenhagen 2005, S.27-28)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Mindaugas-Denkmal in Vilnius

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: eigenes Foto 2010

Abb. 3: Gediminas-Denkmal in Vilnius

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: eigenes Foto 2010

Eine weitere Expansion Litauens erfolgte im 14. Jahrhundert durch die Herrscher Vytenis, Gediminas und Algirdas. So wurde unter Gediminas, seine Herrschaft dauerte von 1316 bis zum Jahr 1341, Vilnius zur Hauptstadt Litauens erhoben und unter seinem Sohn Algirdas, diese Herrschaftsperiode dauerte von 1345 bis 1377, das Reich bis ans Schwarze Meere sowie Richtung Moskau erweitert. Das Jahr 1385 markiert einen weiteren wichtigen Punkt in der Geschichte Litauens, als Jogaila Polen und Litauen in der so genannten Union von Kreva zusammenschloss. Ein Jahr später, 1386, bestieg der zum Christentum konvertierte Jogaila den polnisch-litauischen Königsthron. Unter dem Großherzog Vytautas, der den Beinamen „der Große“ trägt, von 1390 bis 1430 regierte und noch heute von vielen Litauern verehrt wird, erlebte Litauen eine Blütezeit (Cohen 2008, S.184). Die vollzogene Personalunion mit Polen mündete in immer stabileren Zusammenschlüssen zwischen Polen und Litauen und ging in der Union von Lublin 1569 in einer Realunion auf. Dadurch stieg das Königreich zum mächtigsten politischen Gebilde des östlichen Europas während des 16. Jahrhunderts auf. Durch die Expansion Richtung Süden und Osten stieg der Anteil der griechischrituellen Bevölkerung Litauens zu jener Zeit stark an. (Tuchtenhagen 2005, S.28-29)

Im Staatenbund der Union von Lublin erhielten die Litauer in der Seimas, dem Parlament beider Nationen, ein Drittel der Sitze. Litauen erlebte in der Folge eine Blüte intellektuellen Lebens, so wurden z.B. zahlreiche Schulen durch die Jesuiten, sowie die Universität von Vilnius im Jahr 1579, gegründet. (Europäische Kommission 2004, S.2)

Jüdische Bevölkerungsschichten auf dem Gebiet des heutigen Litauen lassen sich bereits am Anfang des 12. Jahrhunderts nachweisen. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts wanderten Juden laut Literatur in größerer Zahl ein. Dieser Zustrom erreichte seinen Höhepunkt Mitte des 15. Jahrhunderts, als sich viele vertriebene Juden in polnischen und litauischen Städten niederließen. (Tuchtenhagen 2005, S.30-31)

Die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert war geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen es vorwiegend um die Vorherrschaft im Ostseeraum zwischen den Königreichen Polen-Litauen, Dänemark, Schweden und dem Großfürstentum Moskau ging. (Tuchtenhagen 2005, S.32) Innerhalb der Union von Lublin verlor Litauen zunehmend an Einfluss, auch resultierend aus einer Schwäche des litauischen gegenüber dem polnischen Adel. So ist die Geschichte Litauens zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert die Geschichte der polnischen Adelsrepublik, der so genannten Rzeczpospolita. Die Union von Lublin brachte beide Länder noch enger zusammen. So gab es nun einen gemeinsamen Herrscher, Senat und Reichstag. Dabei musste jeder dritte Reichstag auf litauischem Gebiet stattfinden.

Polen-Litauen stand an seinen Grenzen zunehmend unter großem Druck und wurde so zum Spielball der Großmächte. So verlor man zwischen 1655 und 1721 große Gebiete an Schweden, Moskau, Brandenburg, sowie an das Osmanische Reich. Außerdem geriet man in außenpolitische Abhängigkeit des Kaiserreichs Russland. Auch innenpolitisch musste der Adel Schwächungen hinnehmen, die im so genannten Kosakenaufstand 1648 aufgingen. Hierbei kam es vor allem zu schweren Pogromen gegen Juden. Außenpolitisch schwer unter Druck, konnte man diesem schließlich nicht mehr standhalten, und die drei Teilungen Polen-Litauens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 besiegelten für einen Zeitraum von über 100 Jahren das Schicksal Litauens. (Tuchtenhagen 2005, S.50-54)

Abb. 4: Zeitleiste Litauen bis zum Jahr 1500

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Tuchtenhagen 2005 , in eigener Darstellung

Die Abhängigkeit vom Russischen Reich und die so genannte Russifizierungspolitik spiegelten sich im 19. Jahrhundert in der Einführung des russischen Rechts wieder. Der Begriff „Litauen“ wurde verboten und durch den Verwaltungsbegriff „Nordwestgebiet“ (Severnozapadnyj kraj) ersetzt. Diese Politik mündete 1861 in Deportationen und Hinrichtungen von Vertretern des Adels und des Klerus. Daraufhin versuchten sich Litauer und Polen erfolglos im Januaraufstand von 1863, der jedoch niedergeschlagen wurde. Nach dem Aufstand verließ ein beträchtlicher Teil der litauischen Bevölkerung ihr Heimatland und wanderte vorwiegend in die Vereinigten Staaten von Amerika sowie Kanada aus. Weitere Aspekte der Russifizierungspolitik betrafen vor allem die Kirche. So waren Katholiken vom Staatsdienst ausgeschlossen, es wurde ein Druckverbot für Bücher in lateinischer Schrift erlassen und zahlreiche Kirchen und Klöster wurden geschlossen. (Tuchtenhagen 2005, S.68-69)

Das litauisch-nationale Denken, das vor allem auf der litauischen Sprache als eine der ältesten lebendigen Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie fußte, wurde durch weitere Maßnahmen, wie z.B. einem Verbot dieser identitätsstiftenden Sprache in den Schulen ab 1873, weiter zurückgedrängt. Zur Veranschaulichung: Während 1736 in dem als Kleinlitauen bezeichneten Gebiet mit den Städten Klaipeda, Tilžė, Ragainė, İsrutis und Labiau noch 80 % der Bewohner angaben „Litauer“ zu sein, bezeichneten sich 1837 nur noch 33 % und 1900 nur noch 20 % als solche. (Tuchtenhagen 2005, S.69 und S.75)

Im Ersten Weltkrieg kam es in Folge der Auseinandersetzungen zwischen Preußen und dem Russischen Reich zu Kämpfen zwischen russisch-litauischen und kleinlitauisch-deutschen Soldaten. In weiterer Folge kämpften im Zuge eines Vormarsches deutscher Truppen nach der Winterschlacht an den Masurischen Seen 1915 deutschjüdische gegen ostjüdische Soldaten. Die administrative Zusammenführung etlicher Gebiete um Vilnius und Kaunas unter russischer Herrschaft schuf bereits die Voraussetzungen der territorialen Vereinigung der litauischen Gebiete im Jahr 1918. (Tuchtenhagen 2005, S.77-78)

Abb. 5: Zeitleiste Litauen von 1500 bis 1918

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Tuchtenhagen 2005 , in eigener Darstellung

3.2 Staatliche Unabhängigkeit

Die staatliche Unabhängigkeit Litauens wurde am 16. Februar 1918 vom litauischen Nationalrat verkündet und vom deutschen Reich kurze Zeit später, sowie durch die Sowjetunion mit dem Abschluss eines Friedensvertrages, anerkannt. Zur zeitlichen Orientierung: Estland proklamierte bereits am 30. März 1917, Lettland am 20. Dezember 1917 seine Unabhängigkeit (Tuchtenhagen 2005, S.79). Der junge litauische Staat verfolgte zunächst eine liberale Minderheitenpolitik und gewährleistete den Minderheiten beachtliche kulturelle Rechte, dies sollte sich jedoch bald ändern. (Schmidt 2005, S.5-6)

Die Minderheitenrechte umfassten die Bereiche Schule, Sprache, Religion, Wohlfahrt, Steuern und staatliche Unterstützung. Geregelt wurden sie in der Pariser Deklaration vom 15. August 1919 für die jüdische Minderheit. Im Jahr 1922 wurden die Rechte schließlich auf alle Minderheiten in Litauen übertragen (Tuchtenhagen 2005, S.88). Stieg der Anteil der Minderheitenvertreter nach dem Ende des ersten Weltkrieges von 8,2 % im Jahr 1920 auf 18 % im Jahr 1923, so bedeutete die Zeit ab 1926, als Antanas Smetona durch einen erfolgreichen Militärputsch an die Macht kam, einen großen Rückschlag in Minderheitenfragen. So wurde von ihm eine ausgesprochen nationalistische und polenfeindliche Politik betrieben. Die bis dahin gültigen Minderheitenrechte wurden reine Floskeln und spiegeln nicht den realpolitischen Stand dieser Zeit wider. So finden in der dritten litauischen Verfassung im Jahr 1938 Minderheitenrechte keine Erwähnung mehr. (Hollstein 1999, S.374-375)

Die so genannte „Wilnafrage“ beschäftigt sich mit dem Gebiet um Vilnius, das der damaligen Wojewodschaft Wilna gleichzusetzen ist, in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen von 1916 bis 1939. Die polnische Vorherrschaft durch den Einmarsch 1920 in diesem Gebiet, und die damit einhergehende Einverleibung in den polnischen Staat, machte die dort ansässigen Litauer zu einer Minderheit. Die Bevölkerung nach der Volkszählung von 1931 setzte sich folgendermaßen zusammen: (Skrzypek 1993, S.377)

Tab. 3: Bevölkerung der Wojewodschaft Wilna und deren Verteilung in Stadt- und Landbevölkerung 1931

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Skrzypek 1993, eigene Bearbeitung und Darstellung

Auffallend an der Bevölkerungsstruktur ist der hohe polnische Anteil von 57,84 % in der Wojewodschaft Wilna. Zu jenem Zeitpunkt gehörte beinahe jeder zweite Bewohner des Gebietes einer Minderheit an. Interessant ist die Verteilung der Stadtbevölkerung, die sich in Tabelle 3 aus Vilnius sowie vierzehn weiteren kleinen Städten zusammensetzte, und der Landbevölkerung im Verwaltungsbezirk. Die weißrussische und die litauische Minderheit sind überproportional am Land vertreten, die jüdische Minderheit hingegen siedelte hauptsächlich in den Städten. Bei der polnischen Majorität und der russischen Minderheit hält sich das Verhältnis Stadt- zu Landbevölkerung die Waage. Nicht in Tabelle 3 angeführt sind weitere kleine Minderheiten, die bei der Volkserhebung 1931 registriert wurden: die deutsche Minderheit mit 1.300 Personen, außerdem 2.000 Tataren, 1200 Karäer sowie jeweils 400 Letten und Ukrainer. Die Stadt Vilnius hatte zum damaligen Zeitpunkt rund 200.000 Einwohner, die vierzehn weiteren zur Stadtbevölkerung zugehörigen Städte hatten zusammen rund 60.000 Einwohner. Der Großteil der Menschen, nämlich rund 1 Mio. Personen, lebte jedoch auf dem Land in der Wojewodschaft, was einen Anteil von fast 80 % an der Gesamtbevölkerung bedeutete. (Skrzypek 1993, S.378-379)

Das Gebiet um Vilnius wurde nach dem Ende des Ersten Weltkrieges immer wieder umstrittenes Gebiet mit Ansprüchen von mehreren Seiten. Nach der Ausrufung des litauischen Staates 1918 wurde Vilnius bereits am 5. Januar 1919 von der russischen Armee besetzt und für sich beansprucht. Doch bereits wenige Monate später, am 19. April 1919, wurde Vilnius vom polnischen Machthaber Pi ùsudski erobert und für sich reklamiert. Viele der ansässigen Minderheiten standen den Polen skeptisch gegenüber, so konnte sich die jüdische Bevölkerung zusammen mit den Litauern durchaus für die Idee eines „Großlitauen“ mit einer Hauptstadt Vilnius begeistern. Dennoch wurden den Minderheiten umfassende Freiheiten gewährt, wie z.B. der Druck eigener Zeitungen, eigene Schulen sowie die Erlaubnis zur Organisation in Vereinen. Die ethnischen Minderheiten wurden im Jahr 1921 formal polnischen Staatsbürgern gleichgesetzt. In Folge kam es jedoch immer wieder zu Konflikten zwischen Litauen und Polen um das Gebiet um Vilnius. Nach den Wahlen zur Sejm in Vilnius 1922, bei der die nationalen Minderheiten immerhin 89 von 444 Sitzen erreichten, kam es zu einer Beschneidung der Minderheitenrechte. Der katholischen Kirche jedoch wurden umfassende Rechte auf Kosten anderer Konfessionen gewährt. Große Spannungen zwischen Majorität und Minorität waren vor allem bei der Besetzung staatlicher Ämter, sowie in der Ortsverwaltung spürbar. Beispielsweise wurde niemand eingestellt, der sich offen zu einer nationalen Minderheit bekannte. Die Situation der Minderheiten in der Wojewodschaft Wilna verschlechterte sich in den darauf folgenden Jahren kontinuierlich, so unterlag das Schulwesen gewissen Einschränkungen, und ab 1930 war es nicht mehr möglich, dass Vertreter nationaler Minderheiten in das Parlament entsendet wurden. Die Jahre von 1930 bis 1939 waren im Bezug auf die nationalen Minderheiten vor allem von Unterdrückung und Repressalien geprägt. (Skrzypek 1993, S.382-401)

Abb. 6: Zeitleiste Litauen Zwischenkriegszeit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Tuchtenhagen 2005 , in eigener Darstellung

3.3 Litauen im Zweiten Weltkrieg

Im Jahr 1939 wurde Litauen im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes aufgeteilt. Das so genannte „Memelland“ fiel dem Deutschen Reich zu, der Rest von Litauen ging an die Sowjetunion. Mit diesem Pakt war das Ende der Unabhängigkeit Litauens besiegelt. Auf deutscher Seite kam es zur Umsiedelung so genannter „Litauendeutscher“, auf Seite der Sowjets kam es zu Säuberungswellen, denen rund 14.000 „antisowjetische Kräfte“ zum Opfer fielen. Die Litauische Aktivistenfront versucht im Juni 1941 mit einem Aufstand die Regierungsgewalt an sich zu reißen, dies mißlang jedoch und die meisten Aktivisten wurden entweder verhaftet oder mussten ins Exil flüchten (Bubnys 2008, S.180). Nach dem Vormarsch Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion im Jahr 1941 bildeten sich in Litauen antisemitische Gruppen, die Pogrome gegen die jüdische Minderheit organisierten. Die Säuberungswellen in Litauen waren sehr effektiv: Bis zum Ende des Jahres 1941, so rasch wie in keinem anderen Land unter Einflusssphäre der Nazis, galt Litauen bereits als „judenfrei“. Insgesamt fielen 220.000 Menschen in Litauen der Shoa zum Opfer. Traurige Berühmtheit erreichte der als „Schlächter von Vilnius“ bekannte Österreicher Franz Murer, der besonders grausam dem jüdischen Ghetto in Vilnius vorstand (Pöschl 2007). Die litauische Bevölkerung engagierte sich insbesondere an „spontanen“ Mordaktionen an der jüdischen Minderheit und hat daher noch heutzutage eine Kollektivschuld zu tragen. Die aktive Teilnahme an Ermordungen durch Litauer belegen rund 15.000 Morde, die dem 12.Litauischen Wehrmachtsbataillon zugerechnet werden (Hollstein 1999, S.377). Für die Nationalsozialisten stellte Litauen wertvolles landwirtschaftliches Gebiet dar, welches für die deutsche Siedlungspolitik Richtung Osten genutzt werden sollte. Die litauische Bevölkerung galt dabei als „ minderwertigste baltische Rasse “. (Müller 2007, S.173-176)

Litauen wurde von Nazi-Deutschland, im Vergleich zu Estland, Lettland und Polen, als jenes Land bezeichnet, das „ als Ganzes wohl das primitivste, d. h. dasjenige, das am wenigsten verkehrswirtschaftlich erschlossen und mit den üblichen zivilisatorischen Errungenschaften am spärlichsten ausgerüstet ist. “ (Ungern-Sternberg 1939, S.5)

Abb. 7: Zeitleiste Litauen im Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Tuchtenhagen 2005 , in eigener Darstellung

3.4 Die litauisch-sozialistische Sowjetrepublik

Die Besetzung Litauens im Herbst 1944 durch sowjetische Truppen brachte erneut Vertreibungen, Verhaftungen, sowie Deportationen mit sich. So starben rund 50.000 Partisanen, die so genannten „Waldbrüder“, im Kampf gegen die Sowjets in den Wäldern Litauens. Insgesamt wurden in den Jahren 1944 bis 1951 über 300.000 Personen aus Litauen, vor allem nach Sibirien, verschleppt. Gleichzeitig setzte eine Russifizierung der litauischen Bevölkerung durch die Sowjets ein. So wurden insgesamt 200.000 Menschen aus der gesamten Sowjetunion in Litauen angesiedelt. (Hollstein 1999, S.377)

Die Verteilung der russischen Ethnie in Litauen während der Zeit der litauisch-sozialistischen Sowjetrepublik weicht von der allgemeinen Verteilung der Gesamtbevölkerung zwischen Stadt- und Landbevölkerung stark ab. Gründe hierfür ist der Zuzug russischer Arbeitskräfte für die industriellen Großbetriebe, dadurch siedelte die russische Minderheit großteils in den Städten Litauens, wie Tabelle 4 auf Basis der Daten des Census aus dem Jahr 1989 belegt:

Tab. 4: Russen in Stadt- und Landbevölkerung 1989 in Relativzahlen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

*Wert übernommen von Schmidt 2005

Arbeitsgrundlage: Melvin 1999, eigene Bearbeitung und Darstellung

Unter den Arbeitsmigranten finden sich zahlreiche Personen der so genannten „Intelligenz“, dazu zählen Fachkräfte und Ingenieure, sowie Arbeiter, die für den Bau von Großprojekten, wie der Errichtung des Kernkraftwerkes Ignalina, benötigt wurden (Hollstein 1999, S.380). Demzufolge empfand die Mehrheit der Litauer den Mai 1945 nicht als Befreiung, sondern als Wiederkehr der sowjetischen Okkupation (Bubnys 2008, S.173).

Abb. 8: Zeitleiste Litauen von 1945 bis 1991

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Tuchtenhagen 2005 , in eigener Darstellung

3.5 Wiedererlangung der Unabhängigkeit

Anfang Jänner 1991 überschlugen sich die Ereignisse in Litauen, das bereits im März 1990 den „Akt der Wiederherstellung des unabhängigen litauischen Staates“ beschlossen hatte. Ausgelöst durch eine Preiserhöhung für Grundnahrungsmittel reagierten tausende pro-sowjetisch eingestellte Menschen mit gewalttätigen Demonstrationen, in Folge dessen trat die Regierungschefin zurück. Gorbatschow nutzte diese Krise und schickte in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1991 Armee- und Sondereinheiten, die das Areal um den Fernsehturm in Vilnius besetzten. Tausende unbewaffnete Litauer stellten sich ihnen in den Weg. Der als „ Blutsonntag von Vilnius “ in die Geschichte eingegangene Tag forderte insgesamt 14 Todesopfer und hunderte Verletzte. Als Konsequenz dessen ging ein Sturm der Entrüstung um die Welt, woraufhin Moskau seine Truppen zurückzog und am 6. September 1991 die Republik Litauen anerkannte. (Butenschön 2002, S.109-111) Dennoch sind noch viele Aspekte, wie z.B. die genaue Rolle des Kremls und der beteiligten Personen dieses traurigen Kapitels ungeklärt und bedürfen einer Aufklärung (Wiener Zeitung 2011).

Trotz dieses blutigen Ereignisses werden die Beziehungen zwischen Litauen und Russland für den Zeitraum 1991 bis 2004, im Gegensatz zu den Beziehungen der weiteren baltischen Länder Lettland und Estland zu Russland, als vergleichsweise gut angesehen. Dies liegt vor allem daran, dass der Anteil der russischsprachigen Ethnie im Land geringer ist als in den beiden anderen baltischen Ländern. Probleme gibt es lediglich in der Frage einer Landverbindung zwischen der Oblast Kaliningrad und dem Gebiet der Russischen Föderation, der Verkehr läuft hier weiterhin über Transitverbindungen ab. Die politische Partizipation der litauischen Bevölkerung ist seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit auf niedrigem Niveau stagniert. Die Ursache hierfür ist sicherlich in der langen Zeit, in der man nicht frei und unabhängig war, zu suchen. Litauen war und ist nach der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit politisch Richtung „Westen“ gezogen. 1998 bekam man den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Die anschließenden erfolgreichen Verhandlungen führten schließlich zum Vollbeitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 zeitgleich mit Lettland und Estland. Erfolgreich bekämpft wurden in den letzten Jahren Korruption und Kriminalität. (Tuchtenhagen 2005, S.100-104)

In einer Volksabstimmung zum EU-Beitritt zeigte sich die pro-westliche Einstellung der Bevölkerung Litauens, indem 91% der Bürger mit „Ja“ votierten. Im selben Jahr der Erlangung der Vollmitgliedschaft der Europäischen Union trat Litauen dem Verteidigungsbündnis NATO bei, was insofern Brisanz in sich barg, da Litauen eine ehemalige Sowjetrepublik ist. Seit 2007 ist Litauen außerdem Teil des Schengen-Raums. (Bentin 2008, S.54)

Ein großer Teil der Bevölkerung Litauens findet sich nach dem Erlangen der Unabhängigkeit noch immer in der Opferrolle wieder. So werden Russland, Deutschland und Polen von breiten Schichten als ewige Feinde angesehen. Diese Einstellung ist wohl durch die fast 200 Jahre andauernde Unterdrückung begründet. Allgemein ist sich die litauische Bevölkerung keiner Täterrolle, z.B. während des Holocaust, bewusst, zu sehr hat man sich an die Opferrolle gewöhnt. „ Schlecht seien immer nur die Anderen – Russen, Deutsche, Polen, Juden, d.h. die Angehörige [n] (sic!) derjenigen Völker, mit denen die Litauer oft aneinander gerieten.“ (Bubnys 2008, S.176)

Auch zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit Litauens dominiert in dem Land die Angst vor Russland und einer Invasion, notiert das Nachrichtenportal Delfi […] der Russe [kommt] nicht zu uns, denn wir stehen unter dem Schutz der Nato und verfügen über Streitkräfte, die zurzeit modernisiert und reformiert werden. Und wenn der Russe nicht kommt, kommt auch der Belarusse nicht, und sonst ist niemand zu erwarten. Das Schicksal hat uns zur Freiheit verdammt, und das verzeihen wir ihm nicht. Wir verhalten uns so, als seien wir noch immer besetzt. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass wir unsere Regierungen nicht mögen oder sogar hassen wie eine Besatzermacht. Wir vertrauen unseren Parteien nicht, weil wir sie mit den Parteien der Besatzer assoziieren. Wir werden uns aber nicht als Herren unseres Landes fühlen, wenn wir unsere Herren stets als Okkupanten betrachten. So lange werden wir glauben, dass uns in unserem Land nichts gehört, und werden davonlaufen wie auf der Flucht vor der Verfolgung durch Besatzer. “ (Euro Topics 2010a)

Die Beziehungen der Litauer zu den Minderheiten des Landes lassen sich eindeutig aus der Geschichte ableiten. „Freunde“ sind Angehörige jener Minderheiten, deren Staaten Litauen im Laufe der Geschichte nichts angetan haben. „Feinde“ sind fast alle größeren Nachbarn, wie Polen, Deutsche und Russen. Zu den „Freunden“ der Litauer zählen die Nachbarn aus Lettland, sowie kleine Minderheiten wie die der Tataren oder die der Karäer. Die Einstellung der Litauer zu ihren Minderheiten kann sich jedoch rasch ändern, wie das Beispiel der Juden zeigt. Bis zum Ende der 1980er Jahre wurden sie noch zu den Freunden gezählt, durch die Forderung nach einer wirklichen Aufarbeitung der Shoa in Litauen, und der Beteiligung der Litauer daran, wurde die heutige kleine jüdische Gemeinde schnell zum Feind der litauischen Nation erklärt. Nicht immer stehen bei historischen Gedenkfeiern feindliche Nationen im Vordergrund, wie das Beispiel des Gedenkens an die Schlacht bei Tannenberg 1410 zeigt. Hierbei stand die Leistung der siegreichen Kämpfer im Vordergrund, und nicht das Feindbild des Deutschen. (Skrzypek 1993)

Abb. 9: Zeitleiste Litauen seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Arbeitsgrundlage: Tuchtenhagen 2005 , in eigener Darstellung

4 Rechtliche Grundlagen

In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.“ (United Nations 1966 zitiert nach Internationale Gesellschaft für Menschenrechte o.J.)

Litauen war das erste Land Mittel- und Osteuropas, das 1989 ein Gesetz über nationale Minderheiten verabschiedet hat. Dieses findet sich in einer deutschen Übersetzung im Anhang dieser Arbeit. Des Weiteren wurde bereits früh nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit ein Department of Nationalities eingerichtet, das der litauischen Regierung untersteht. Die Hauptaufgabe bestand in der Erhaltung der Kultur und Nationalität der ethnischen Minderheiten (Council of Europe 2001, S.4)

4.1 Verfassung 1992

Die litauische Verfassung gewährt den ethnischen Minderheiten des Landes keine kollektiven Rechte, jedoch sehr wohl individuelle. Von Regierungsseite gibt es immer wieder Bestrebungen, Initiativen zur besseren Integration der Minderheiten in Litauen durchzuführen, wie z.B. die Errichtung eines Ministeriums für nationale Minderheiten beweist. (Europäisches Parlament 1999, S.16)

Die Verfassung der Republik Litauen geht in einigen Artikeln auf die Rechte ethnischer Gemeinschaften ein:

Artikel 37:

Citizens belonging to ethnic communities shall have the right to foster their language, culture, and customs.” (Lietuvos Respublikos Seimas 1992)

Artikel 45:

Ethnic communities of citizens shall independently manage the affairs of their ethnic culture, education, charity, and mutual assistance. Ethnic communities shall be provided support by the State.” (Lietuvos Respublikos Seimas 1992)

In der Verfassung aus dem Jahr 1992 wird von “ethnic communities” gesprochen, das Wort Minderheit bzw. „minority“ kommt jedoch nicht vor.

4.2 Staatsbürgerschaftsfrage

Das Thema Staatsbürgerschaft spielt in Litauen keine außerordentliche Rolle in der politischen Diskussion bezüglich der Minderheiten. In Litauen besitzen mehr als 99 % der Bewohner auch die litauische Staatsbürgerschaft, was im Vergleich zu den beiden anderen baltischen Staaten Lettland und Estland einen exorbitant hohen Wert darstellt. Dieser resultiert nicht zuletzt aus der, von Litauen verfolgten, sogenannten „Null-Option“ aus dem Jahr 1992. (Schmidt 2005)

[...]

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Ethnische Minderheiten in Litauen
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
114
Katalognummer
V282342
ISBN (eBook)
9783656766964
ISBN (Buch)
9783656766957
Dateigröße
11468 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ethnische, minderheiten, litauen
Arbeit zitieren
Matthäus Trummer (Autor:in), 2012, Ethnische Minderheiten in Litauen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282342

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