Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung, Zielsetzung, Erläuterung des Aufbaus
2. Mittelalter
2.1 Historische Rahmenbedingungen für die Zeitwahrnehmung im Mittelalter
2.2 Künstlerische Umsetzung
3. Renaissance
3.1 Historische Rahmenbedingungen für die Zeitwahrnehmung in der Renaissance
3.2 Künstlerische Umsetzung
4. Anwendung auf „Die Besteigung des Mont Ventoux
5. Ergebnis
6. Literaturliste
1. Einleitung, Zielsetzung, Erläuterung des Aufbaus
In der vorliegenden Arbeit wird versucht, sich der Zeitauffassung im Mittelalter im Gegensatz zur Renaissance zu nähern. Welchen Stellenwert hatte die Zeit in welcher Epoche, was waren die geschichtlichen Gründe hierfür und wie wurde das Thema künstlerisch verarbeitet? Dies sind die zentralen Fragen, denen nachgegangen werden soll. Francesco Petrarcas „ Die Besteigung des Mont Ventoux “ gilt als epochenübergreifendes Werk, was, zumindest was die Datierung angeht, unzweifelhaft ist. Ob das Werk auch inhaltlich und / oder formal exemplarisch für den Bedeutungswandel und die Stellenwertverschiebung des Zeitbegriffes in der Übergangsszeit vom Mittelalter zur Renaissance gelten kann, wird zu erörtern sein.
Die Schwierigkeit einer solchen Themensetzung fällt sofort auf: Wie bei jeder vergleichenden Betrachtung angrenzender Zeitepochen stellt sich das Fehlen einer genauen Zeitgrenze als Problem dar. Epochen definieren sich hauptsächlich über Zeit. Als Beobachtungsobjekte, die zudem noch verglichen werden, müssten sie eigentlich exakt abgegrenzt werden, denn sonst besteht ja die Gefahr, zumindest in den Übergangsbereichen ein und dasselbe zu „vergleichen“. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es bei der Auseinandersetzung mit Zeitepochen gar nicht um deren exakte Abtrennung geht. Denn je genauer man sich auf die Thematik einlässt, desto klarer wird, dass eine künstliche Manifestation von Zeitgrenzen zwar eine Vereinfachung im Umgang mit der Thematik bedeuten kann, aber den historischen Tatsachen nicht gerecht wird. „[...] gerade in dieser Schwierigkeit tritt uns die Notwendigkeit entgegen, im historischen Prozeß Kontinuum und Wendemarken in dialektischer Verschränkung zu sehen – und keines der beiden Momente auf Kosten des anderen zu über- oder zu unterschätzen.“[1] „Mittelalter“ und „Renaissance“ bilden da keine Ausnahme. In diesem Zusammenhang ist ein Werk wie „ Die Besteigung des Mont Ventoux “ besonders aufschlussreich, weil die zeitliche Zugehörigkeit genau in die Übergangszeit der beiden Epochen fällt und somit als „Zeitbegriffsindikator“ vielversprechend erscheint.
Zum Aufbau der vorliegenden Arbeit: Der erste Schritt stellt den Versuch dar, sich dem Weltbild des Menschen im Mittelalter in Bezug auf den Zeitbegriff zu nähern. Eng verknüpft mit diesem Feld ist auch die Wahrnehmung und Verarbeitung des Raumes und der Begriff der Individualität, die in der gesamten Arbeit immer wieder angerissen werden. Eine Betrachtung der historischen Gründe für die epochenspezifische Wahrnehmung der Welt schließt sich an. Ein Exkurs in die antike Raum- und Zeitwahrnehmung wäre zwar sinnvoll, es wird aber, mit Verweis auf die relativ eng gesteckte Themensetzung, darauf verzichtet. Es schließen sich ein Betrachtungen an, wie sich diese Zeit (und auch Raum- und Individuum-) wahrnehmungen in der Kunst der Zeit manifestieren, womit der erste Teil der Arbeit abschließt. Die selben Fragestellungen werden im zweiten Teil auf den Menschen der Renaissance angewandt und erörtert.
Dass Petrarca erst zu diesem relativ späten Zeitpunkt ins Spiel kommt, hat folgenden Grund: In den ersten beiden Teilen der Arbeit werden „Schablonen“ des Zeitbegriffs zur jeweiligen Epoche zu erstellt, auf die nun im dritten Teil Petrarca mit seinem Werk gewissermaßen aufgelegt wird, um zu beobachten und zu überprüfen, wie er sich einfügt und ob sein Umgang mit dem Thema wirklich als exemplarisch für eine Verschiebung des Zeitbegriffs gelten kann.
2. Mittelalter
2.1 Historische Rahmenbedingungen für die Zeitwahrnehmung im Mittelalter
zît, zîth, zîch sfFN Zeit; Zeitalter; Jahreszeit; Tageszeit; Stunde; Dauer; Weile; Zeitpunkt; Periode; Leben; (Lebens-) Alter; Lebensumstände; (kanonische) Gebetszeit, -stunde; Fest (-tag); Frühling; [...] Ende; Tod [...][2]
Die semantische Vielfalt eines Begriffes, der gleichzeitig Leben und Tod bedeuten kann, macht eines deutlich: Der Ansatz, sich Begrifflichkeiten vergangener Epochen mit heute anerkannten Kategorien zu nähern, kann nicht funktionieren. Das gilt in besonderem Maße für das Mittelalter. Wenn man in das Verständnis des mittelalterlichem Menschen eindringen will, gilt es zu versuchen, ein höchstmögliches Maß an Objektivität an den Tag zu legen, auch in Bezug auf vermeintlich allgemeingültige, objektive Gegebenheiten und Begriffe. Ein grundsätzliches, erkenntnistheoretisches Problem schließt sich an: Der Mensch (bzw. der Forscher) kann seine eigene Weltanschauung nicht einfach ignorieren, sie stellt ja den Grund für die Beschäftigung mit der Thematik dar. Somit ist ein dauerhaftes, unauslöschbares, aber eben nicht zulässiges (bzw. für das Ergebnis irrelevantes) Bezugssystem zwischen historischen und modernen Anschauungen gegeben. Das Ziel kann daher nur heißen, sich so weit wie möglich von eigenen Anschauungen zu trennen, in dem Wissen, dass eine völlige Loslösung nicht erreicht werden kann. Besonders deutlich wird diese Notwendigkeit bei der Betrachtung von Zeit und Raum. Von dem von unserer heutigen Schnelllebigkeit und Lebensrhythmus geprägten Zeitbegriff auf den vorangegangener Kulturen zu schließen, wäre fatal. Das Zeitempfinden des mittelalterlichen Menschen kann nicht losgelöst von den Lebensumständen, die sein Welt- (und Zeit-) bild konstituieren, betrachtet werden. Der bei weitem größte Teil der Bevölkerung war direkt von der Landwirtschaft abhängig. Die Landschaft im Europa des Mittelalters unterschied sich drastisch von der heute: Fast der gesamte Kontinent war bewaldet, Verkehrswege existierten so gut wie nicht, die noch existierenden Römerstraßen waren inzwischen so gut wie unbrauchbar geworden.[3] Kontakte zwischen den Bewohnern der einzelnen Dorfgemeinschaften waren daher recht spärlich gesäht, Warentausch und Handel spielten keine zentrale Rolle. „Die Naturalwirtschaft wird [...] durch die Tendenz zur Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse aus der eigenen Produktion charakterisiert.“[4] Der Horizont eines durchschnittlichen Menschen des Mittelalters war also ein sehr begrenzter. Seine Zeitwahrnehmung orientierte sich am zyklischen Naturrhythmus, also am Wechsel von Tag und Nacht und dem der Jahreszeiten und kann somit generell als Langzeitempfinden definiert werden.[5] Ein äußerer Grund, kleine Maßeinheiten für Zeit zu entwickeln, war nicht gegeben. Dieses Fehlen exakter Maßeinheiten schlug sich auch in der Sprache nieder: Wendungen wie „im Handumdrehen“, „in einem Atemzug“ oder auch „Augenblick“ wurden benutzt, um die Dauer der Zeit für die jeweilige Handlung mitteilbar zu machen.
Durch die untrennbare Verbundenheit von Mensch und Natur bzw. dem, was wir heute „konstituierende Rahmenbedingungen“ nennen würden, Raum und Zeit nämlich, war es dem Menschen des Mittelalters unmöglich, die Welt und ihren Lauf als unabhängiges Objekt zu betrachten. Der Mensch verstand sich selbst als einen organischen Bestandteil dessen, was um ihn herum existierte, wenn auch als einen besonders wichtigen Bestandteil. Dieses Selbstverständnis verhinderte logischerweise ein Entstehen von Objektivität bei der Betrachtung der Welt, denn diese setzt ja eine Unterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt voraus.
Was nicht heißen soll, dass die Menschen des Mittelalters blind gewesen wären. Sicherlich haben auch sie mehrere Lebensbereiche wahrgenommen, wobei hier der mittelalterlichen Religiosität eine zentrale Rolle zuflällt: Die mittelalterlichen Glaubensvorsellungen besagten, dass das Kleine im Großen enthalten sei. Der Mensch galt sozusagen eine verkleinerte Form des gesamten Kosmos. Für alles, was in der Welt geschehe, existiere eine Analogie auf der menschlichen Ebene. Für die Zeit heißt das: Sie gewährleistet in der Welt den Wechsel von hell zu dunkel, von warm zu kalt, analog zum menschlichen Werden und Vergehen. Die oben erwähnte Religiosität gilt als wichtigster Grundzug mittelalterlicher Weltanschauung. Der Wert der gesamten Schöpfung und jedes einzelnen ihrer Bestandteile lag in der ihr innewohnenden Ermöglichung der Erkenntnis Gottes. Für sich betrachtet, war sie wertlos. Für die Zeit als Teil der Schöpfung bedeutet dies: ihr Wert lag in der Gewährleistung des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen. Eine aus diesem Zusammenhang herausgelöste Betrachtung von Zeit und Raum existierte nicht. Diese „bestimmende[n] Parameter der Existenz der Welt und grundlegende[n] Formen der menschliche Erfahrung“[6] wurden nicht als Form betrachtet, die dieser Erfahrung vorausgeht.
2.2 Künstlerische Umsetzung
Das oberste Ideal der mittelalterlichen Kunst kann definiert werden als die Verpflichtung zur Darstellung ewiger Wahrheiten und unvergänglicher Werte. Dieser Anspruch bedingt ein Dilemma, welchem sich jeder Kunstschaffende der Zeit ausgeliefert sah: Ewige Wahrheit, so die Lehre, ist nicht auf Erden sondern nur im Himmelreich vorhanden. Nicht die Welt des sinnlich Erfassbaren sondern „die Welt der göttlichen Wesen“[7] besaßen höchste Realität, die Schöpfung, die Natur, der Mensch galt als unvollkommen. Als Künstler hatte man nun aber nur ein Instrumentarium zur Verfügung, welches sich aus dem Fundus der erfahrbaren Welt bedienen musste, um verstehbar zu sein. Es galt also, das Vollkommene mit den Mitteln des Unvollkommenen darzustellen, sowohl in der Malerei als auch in der Literatur. Die allgegenwärtige, für die Epoche des Mittelalters typische Ausrichtung auf das Seelenheil im Jenseits war im Übrigen nicht nur auf das Anfertigen von Kunstwerken beschränkt, sie war allumfassend und in allen Lebensbereichen bestimmend. Die Welt möglichst originalgetreu abzubilden, war also keineswegs oberstes Anliegen des mittelalterlichen Künstlers. Deutlich wird dies an der Zweidimensionalität in der Malerei: man kann davon ausgehen, dass auch die Künstler des Mittelalters in der Lage gewesen waren, die einfachsten Lebensbeobachtungen zu machen, räumlich zu denken und natürlich auch Techniken zur Verfügung gehabt hatten, das Beobachtete „abzumalen“ oder zu beschreiben. Aus der Tatsache, dass sie darauf verzichtet haben, lässt sich aber ablesen, dass sie andere Prioritäten setzten. Auch die Darstellung zeitlicher Dimensionen spielte eine untergeordnete Rolle. Zeitliche Abfolgen waren notwendig, um den Fortlauf von Handlungen – etwa im höfischen Roman – zu gewährleisten, darüber hinaus wurde ihnen aber keine eigene Bedeutung, oder gar ein ästhetischer Eigenwert zugewiesen, was auch am Fehlen von Portraitzeichnungen während der gesamten Epoche deutlich wird. „Das Portrait [...] fixiert einen der vielen Zustände des Menschen in räumlicher und zeitlicher Konkretheit.“[8] und war somit für die Darstellung des „Allgemeine[n] auf Kosten des Einmaligen“[9] ungeeignet. Auf vielen Bildern des Mittelalters sind dieselben Personen mehrmals abgebildet, die zeitlich aufeinanderfolgende Handlungen ausüben. Diese „Simultandarstellung“ von verschiedenen Zeitebenen verdeutlicht, dass Raum und Zeit als Rahmenkonstanten für die Rezeption künstlerischer Werke einen im Vergleich zu heute völlig anderen, untergeordneten Stellenwert einnahmen. Genau genommen ist also ein Sprechen über künstlerische Umsetzung des Zeitbegriffs im Mittelalter ein Sprechen über das Fehlen bzw. den Effekt des Fehlens von Zeitlichkeit in der Kunst des Mittelalters.
Durch den Verzicht auf realgetreue Abbildung von Raum- und Zeitdimensionen in der Literatur verschieben sich gleichzeitig Maßstäbe und Perspektiven zum Beispiel bei der Beschreibung von Reisen. Die Figuren bewegen sich nicht eingebettet in zeitlich korrekte Abläufe, sie scheinen von einem Ort zum anderen zu springen, Dinge, die in weiter Entfernung liegen, werden beschrieben, als ob sie in nächster Nähe lägen,[10] analog zu der oben erwähnten Simultandarstellung verschiedener Zeitebenen in der Malerei. Eine zumindest grobe Raumdarstellung ist notwendig, um die Romanhandlung zusammenzuhalten. Dass die Beschreibung des Raumes bzw. der Natur nicht um ihrer selbst willen geschieht, sie also keinen eigenen ästhetischen Stellenwert einnimmt, lässt sich auch an ihrer Formelhaftigkeit festmachen. Naturbeschreibungen im höfischen Roman sind immer wiederkehrende Topoi, vorgegebene Schablonen, Konventionen. Deutlich wird dies zum Beispiel bei Hartmanns Gregorius:
[...]
[1] Dietze, Walter: Raum, Zeit und Klasseninhalt der Renaissance. Berlin 1974, S. 47.
[2] Hennig, Beate: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Tübingen 1998, S. 487.
[3] vgl. Gurjewitsch, Aaron: Das Weltbild des Mittelalterlichen Menschen. München 1989, S. 44.
[4] Ebda.
[5] vgl. Sulzgruber, Werner: Zeiterfahrung und Zeitordnung vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert. Hamburg 1995, S. 186.
[6] Gurjewitsch, S. 28.
[7] Ebda, S. 38.
[8] Ebda, S. 161.
[9] Ebda.
[10] vgl. Gurjewitsch, S. 67.