Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Teil 1: Historischer und theoretischer Kontext
2.1. Das Siglo de Oro und die „Theatermanie“
2.2. Lope de Vega: El arte nuevo de hacer comedias en esto tiempo
2.3. Tirso de Molina: El burlador de Sevilla o El convidado de piedra
2.4. Comedia
2.5. Rezeptionsperspektiven im Drama
2.5.1. Dramatische Perspektive
2.5.2. Epische Perspektive
2.5.3. Kommunikationsmodell narrativer Texte
2.5.4. Theatralische Perspektive
3. Teil 2: Merkmale der theatralischen Perspektive in El Burlador de Sevilla
3.1. Poetische Sprache
3.2. Monolog
3.3. Aparte
3.4. Chor
3.5. Randpersonen und Massenszenen
3.6. Informationsvorsprung
3.7. Doppelfunktion der Bühnenhandlung
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„The theatrical situation, reduced to a minimum, is that A impersonates B while C looks on.“1
Laut dieser stark komprimierten, jedoch sehr prägnanten Definition des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Eric Bentley, basiert die theatralische Situation im Wesentlichen auf drei Komponenten: Während A hier den Theaterschauspieler bezeichnet und B die Rolle, die dieser verkörpert, steht C für das Publikum, welches das Bühnenspiel betrachtet. Mangelt es an nur einem dieser Faktoren, kann nicht mehr von einer theatralischen Situation gesprochen werden, da sich diese erst durch das Gegenüber von Schauspielern und ihrem Publikum konstituiert. Demnach nimmt im Theater, anders als z.B. im Kino, also auch der Zuschauer eine tragende Rolle ein, indem er dem Schauspiel erst durch seine Präsenz seinen eigentlichen Sinn verleiht und somit an der theatralischen Interaktion teilnimmt. Dieser Beteiligung, die seitens des Publikums hauptsächlich rein rezeptiver Natur ist, kann entweder eine dramatische, eine theatralische oder eine epische Perspektive zugrunde liegen.
Im Rahmen des hispanistischen Hauptseminars „Die comedia des Siglo de Oro“ oblag es mir, in Zusammenarbeit mit zwei Kommilitoninnen, die den Rezeptionsperspektiven im Drama zugrundeliegende Theorie herauszuarbeiten und diese anschließend den anderen Kursteilnehmern anhand ausgewählter Textstellen nahezubringen. Als Textgrundlage diente dazu das im Jahre 1613 verfasste Drama El burlador de Sevilla von Tirso de Molina. Dieses gehört neben Lope de Vegas El castigo sin venganza und Pedro Calderón de la Barcas La vida es sueño, welche beide gleichermaßen im Seminar behandelt wurden, zur Riege der bedeutendsten Werke und deren Autoren wiederum zu den einflussreichsten Dramatikern im Siglo de Oro. Da diese Epoche nicht nur für die Literatur in Spanien eine bahnbrechende war, möchte ich zunächst mit einer kurzen Beleuchtung des historischen Kontextes beginnen, welcher auch die durch Lope de Vega begründete antiaristotelische Dramentheorie El arte nuevo de hacer comedias hervorbrachte. Dieser „neuen Form“ der comedia kann man auch den Verführer von Sevilla zuordnen. Eine knappe Inhaltsangabe dessen ist unumgänglich, da im praktischen Teil der Arbeit dann auf Textstellen desselben Bezug genommen wird. Unter der Prämisse, „daß dramatische Texte für die Aufführung im Theater bestimmt sind“, muss die theatralische Situation nochmals einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden.2
Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei der „Interrelation zwischen der Geschichtsebene und den verschiedenen Ebenen der situativen Vermittlung [welche sich] am besten durch den Begriff der Perspektive erfassen [lässt]“.3
Nach einer knappen Definition der drei bereits genannten Perspektiven sowie einer Differenzierung voneinander bzw. einem impliziten Vergleich, wird im weiteren Verlauf die theatralische im Zentrum stehen, da diese meinen Part der Gruppenarbeit ausmachte. Als Schwerpunkt der Arbeit sollen dann im praktischen Teil die Merkmale der betreffenden Kommunikationsebene einer Analyse unterzogen und an ausgewählten Textpassagen illustriert werden. Dazu wird das Stück El burlador de Sevilla (Atribuida a Tirso de Molina) als Primärliteratur dienen. Die zugrundeliegende Theorie der Rezeptionsperspektiven in dieser Arbeit basiert vorwiegend auf W. Matzats Publikation Dramenstruktur und Zuschauerrolle, weshalb dieser ein besonderer Stellenwert als Sekundärliteratur zukommt.
2. Hauptteil
2.1. Historischer und theoretischer Kontext
2.1.1. Das Siglo de Oro und die „Theatermanie“
In der Epoche des Siglo de Oro, welche auf das 16. und 17. Jahrhundert datiert wird, erlebte Spanien eine enorme politische, aber vor allem auch wirtschaftliche Prosperität. Der Ursprung hierfür liegt unter anderem schon im Jahre 1492, dem Jahr der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und der damit einsetzenden Eroberung Lateinamerikas durch die spanische Konquistadoren. Durch das in der „neuen Welt“ entdeckte Gold, kam es in Spanien zu einem enormen ökonomischen Aufschwung, welcher die Grundlage für die Blütezeit der spanischen Literatur und Kunst schaffte. Dies rührt daher, dass die Gesellschaft „von dem aus den Kolonien herein strömenden Gold lebte, wenig produzierte und viel Zeit für Spektakel und Künste zur Verfügung hatte“.4 Ein weiterer Grund für die florierende Literatur zu dieser Zeit war der Buchdruck, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Spanien Einzug hielt, welcher die literarische Ausbreitung begünstigte. Da ein Großteil der Bevölkerung Analphabeten waren, suchte „die Mehrheit des Publikums […] die Befriedigung ihrer
Unterhaltungsbedürfnisse und ihrer Schaulust in einem müheloser rezipierbaren Medium, im Theater.“5 Auch aufgrund der großen Begeisterungsfähigkeit der Spanier für das Theater, nur in England war eine ähnliche Euphorie erkennbar, kam es zu einer regelrechten „Theatermanie“, wie M. Rössner die Situation in seinem Aufsatz Das Theater der Siglos de Oro bezeichnet.6 Die Anzahl der in dieser Zeit verfassten Theaterstücke wird von der hispanistischen Forschung auf ein Repertoire zwischen minimal 10.000 bis maximal 30.000 Exemplaren geschätzt, was eine gewaltige Produktivität der Theaterautoren erkennen lässt.7 Drei der bedeutendsten unter ihnen, um deren Namen man bei der Lektüre sämtlicher Texte zur Literatur im Siglo de Oro nicht herum kommt, waren Calderón de la Barca, Tirso de Molina und Lope de Vega. Letzterer ist auch der Begründer der antiaristotelischen Dramentheorie, welche 1609 unter dem Titel El arte nuevo de hacer comedias esto tiempo die bis dato bestehende Dramenpoetik revolutionierte.
2.1.2. Lope de Vega: El arte nuevo de hacer comedias en esto tiempo
Diese in Versen verfasste, vor Ironie strotzende Stellungnahme an die Academia de Madrid entpuppte sich zum Manifest der comedia des Siglo de Oro, da sich trotz starker Kritik der Vertreter des aristotelisch geprägten Dramas des Humanismus dann im Drama des 16./17. Jahrhunderts die von Lope de Vega konstituierten Vorstellungen durchsetzten. An dieser Stelle sollen nur die gravierendsten Unterschiede und Neuheiten aufgezeigt werden, deren primäres Ziel die dezidierte Abwendung vom Humanismus war. Ein zentraler Aspekt - wenn nicht sogar der zentrale Aspekt - sind bei Aristoteles die berühmten drei Einheiten im Theater. Zum einen gibt es die Einheit der Zeit, die besagt, dass sich die Handlung im Rahmen nur eines Tages abspielen darf. Dieser wird die arte nuevo nur insofern gerecht, dass zumindest die einzelnen Akte den Zeitraum von 24 Stunden meist nicht überschreiten, jedoch sind zwischen den Akten, die in der comedia nueva anders als im humanistischen Theater jetzt nicht mehr fünf, sondern nur noch drei jornadas zählen, größere zeitliche Sprünge erlaubt. Zum anderen setzt Aristoteles die Einheit des Ortes voraus, was auch den praktischen Sinn hatte, dass das Bühnenbild keines Umbaus bedurfte und so außerdem der Fokus auf dem Wesentlichen lag.
Das Publikum wurde dann über Geschehnisse, die zwar Teil der Handlung, jedoch nicht der Inszenierung waren, z.B. durch Botenberichte darüber in Kenntnis gesetzt. Lope de Vega hingegen betont die Notwendigkeit der aparencias, da vom Volk aufwendige Bühnenberichte durchaus erwünscht waren. Zu guter Letzt besteht Aristoteles noch auf die Einheit der Handlung, welche eine klare Haupthandlung innerhalb der Aufführung fordert und Nebenhandlungen nur bedingt zulässt. Letztere wird in der comedia des 16./17. Jahrhunderts empfohlen, ist allerdings nicht zwingend. Neben der zumindest teilweisen Außerkraftsetzung der erwähnten humanistischen Einheiten, ist die Gattungsmischung eine absolute Neuartigkeit, da zuvor Tragik und Komik immer strikt voneinander getrennt wurden. Die Begründung für die Vermengung von tragischen und komischen Elementen liegt in der Natur, da es hier auch nicht zu einer Separation derselben kommt. Die konsequente Trennung von edlem und niederem Stand bleibt ebenfalls aus, so dass bei der comedia immer wieder eine Überschreitung der Ständeklausel auffällt, wenn im Theater des Siglo de Oro nicht nur Adelige und Personen höheren Standes verkörpert werden. Im Stück selbst, oft durch die Rolle des gracioso verkörpert, kommen in der arte nuevo jetzt auch dem einfachen Volk angehörige Figuren vor. An diesem sollte sich schließlich die neue Dramenform orientieren. Lope de Vega hielt es für unabdingbar, sich bei der neuen Art Theater zu verfassen des Geschmackes des heterogenen vulgos zu bedienen, auch wenn das eine Abwendung der bestehenden Normen zur Folge hatte. Abgesehen davon soll El arte nuevo de hacer comedias en este tiempo nur einen Handlungsvorschlag und kein irreversibles Konzept für die neue Form des Dramas liefern, vor allem weil die comedia in erster Linie nicht von einem Regelwerk, sondern von der Bühnenpraxis lebt und in der Regel allein für die Aufführung im Theater bestimmt ist.8
Als Paradebeispiel für den in Lopes arte nuevo etablierten Dramenstil eignet sich der anno 1617 uraufgeführte El burlador de Sevilla o El convidado de piedra. In seinem Werk bricht Tirso de Molina nicht nur mit den bestehenden Normen des aristotelischen Theaters, sondern durch seinen Protagonisten, den berühmt berüchtigten Don Juan, auch mit allen gesellschaftlichen Tabus.9
Uneinigkeiten über den wahren Begründer des Don Juan-Mythos. Dieser Frage wird ausführlich z.B. in der dieser Arbeit als Primärtext zugrundeliegenden Edition nachgegangen. Da sich die genannte Ausgabe an der Fassung Tirso de Molinas („Atriubuida a Tirso de Molina“) orientiert, wird in dieser Ausarbeitung von dessen Autorenschaft ausgegangen.
2.1.3. Tirso de Molina: El burlador de Sevilla o El convidado de piedra
Das Stück beginnt in medias res mit Don Juan Tenorios Betrug an der Duquesa Isabela im Schloss in Neapel, wobei jener sich als deren Verlobter ausgibt. Die zunächst aufgrund seiner Verkleidung und der Dunkelheit unbemerkte Täuschung fliegt auf und der Skandal zwingt ihn zur Flucht. Die Herzogin bleibt aber nicht sein einziges Opfer. Auf seinem Weg nach Spanien, wo der Rey de Castilla beabsichtigt, ihn zu verheiraten, treibt der Verführer seine Spielchen weiter und schafft es auch noch andere Frauen, darunter das Fischermädchen Tisbea und die Bäuerin Aminta, zu erobern, immer durch das Versprechen einer Heirat oder durch eine List. Den Marqués de la Mota täuscht er ebenfalls, um an dessen Angebetete heranzukommen, welche aber den Betrug zuvor bemerkt. Im Gefecht mit ihrem Vater Don Gonzalo de Ulloa, wird dieser von Don Juan ermordet. Aufgrund seiner Freveltaten wird er immer wieder, besonders von seinem ständigen Begleiter und Diener Catalinón, vor einer göttlichen Strafe gewarnt. Auf die Warnungen entgegnet der Hasardeur jedes Mal: „¿Tan largo me lo fiáis?“ (z.B. V 152).10 Jedoch ist sein Kredit irgendwann verbraucht und die Begegnung mit dem steinernen Abbild des von ihm getöteten Don Gonzalo, den Don Juan unter Beteuerung seiner Furchtlosigkeit zu sich zum Essen einlädt, bedeutet den Anfang seines Endes. Nachdem die Statue ihm tatsächlich einen Besuch abstattet und ihn seinerseits zum Mahl in eine Kapelle bestellt. Da Tenorio nicht als Feigling gelten will, folgt er der Einladung. Er verspeist das ihm servierte Gericht aus Vipern und Skorpionen und trinkt den Wein aus Essig und Galle, bevor das Standbild ihn auffordert, ihm die Hand zu reichen. Der darauffolgende Händedruck lässt ihn innerlich verbrennen und die Höllenfahrt des Don Juan Tenorio endet mit seinen letzten Worten „Muerto soy“ (V 2961).
Durch die Reise des Protagonisten ist sowohl die aristotelische Bedingung der Einheit des Ortes als auch die der Zeit im El burlador de Sevilla nicht erfüllt. Nur die Einheit der Handlung ist weitgehend vorhanden. Auch die Ständeklausel wird durch die aus den verschiedensten Schichten stammenden Frauen und die Figur Catalinóns, der die Rolle des gracioso und somit des Vertreters des einfachen Volkes einnimmt, übergangen. Dies sind nur ein paar Beispiele, die belegen, dass wir es hier mit einer comedia ganz im Sinne von Lope de Vegas arte nuevo zu tun haben. Primärliteratur angeführte Drama El burlador de Sevilla (Atribuida a Tirso de Molina).
[...]
1 Bentley: The Life of the Drama (S. 150)
2 Matzat: Dramenstruktur und Zuschauerrolle (S. 13)
3 Matzat: Dramenstruktur und Zuschauerrolle (S. 17)
4 Rössner: Das Theater der Siglos de Oro (S. 162)
5 Tietz/ Rolshoven/ Mensching: Das spanische Theater des Siglo de Oro
6 Rössner: Das Theater der Siglos de Oro (S. 162)
7 Tietz/ Rolshoven/ Mensching: Das spanische Theater des Siglo de Oro
8 Lope de Vega: El arte nuevo de hacer comedias en este tiempo (1609)
9 Anmerkung: Die Autorenschaft Tirso de Molinas ist nicht unumstritten. Seit seinen Anfängen existieren
10 Anmerkung: Diese sowie alle folgenden Versangabe beziehen sich auf das in der Einleitung als