Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Das archaische Es und die Ambivalenz
1.1.Der phylogenetische - mythische Strang:
1.2. Der evolutionistische- genetische Strang:
2. Das hypermoralische, sadistische Über-Ich
2.1. Die extreme Härte und Strenge des Über-Ichs bei der Zwangsneurose
3. Das überforderte Ich
3.1. Die Handlungsstörung als Eigenart der zwangsneurotischen Ich-Struktur
3.1.1. Die Autonomie-Beweisnot
3.1.2. Der Autonomie-Abhängigkeitskonflikt
4. Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)
1.Das archaische Es und die Ambivalenz
Das archaische Es des Zwangsneurotikers entspricht der anal-sadistischen Entwicklungsstufe, zeichnet sich aus durch undifferenzierte und unstrukturierte Triebansprüche und als Folge davon durch eine ausgeprägte Ambivalenz zwischen lt;Liebe und Hass.[1]
lt;Ambivalenz ist ein Begriff vonBleuler.Laplanche/Pontaliszufolge setzte er ihn primär im affektiven Sinne ein. So wird er auch von Freud übernommen. Eine normalerweise bestehende Komplexität der Gefühle oder die Fluktuation von Verhaltensweisen zeigt sich in der Ambivalenz in „der Aufrechthaltung eines Gegensatzes vom Typ ja – nein, wo Bejahung und Verneinung simultan und unauflöslich sind.“[2] Betont wird die Konflikthaftigkeit gegensätzlicher Strebungen. Die positive und negative Komponente eines affektiven Verhaltens ist für das Subjekt gleichzeitig und unauflöslich, sodass Konflikte als „in einem nicht-dialektischen Gegensatz gegenwärtig und unüberwindlich“[3] erlebt werden. Diese Aufrechterhaltung des beschriebenen Gegensatzes lässt sich im psychischen Bereich häufig wiederfinden, zeigt sich deutlich in der Eifersucht und ist ebenso in der Trauerreaktion feststellbar. Dieser Gefühlsgegensatz ist beim Zwangsneurotiker extrem ausgebildet, gilt als eines der primären Kennzeichnungen dieses Neurosetypus und als Zeichen eines ausgeprägten Ambivalenzkonflikts.
AlsBemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909d)stellt Freud die Fallgeschichte vor, welche als „Rattenmann“ bekannt wurde. Bei diesem Patienten hat er „ein chronisches Nebeneinander von Liebe und Hass gegen dieselbe Person, beide Gefühle von höchster Intensität,“ festgestellt. Er zählt „ein solches Verhalten von Liebe und Haß [...] zu den häufigsten, ausgesprochensten und darum wahrscheinlich bedeutsamsten Charakteren der Zwangsneurose.“ Er geht von der Vermutung aus, dass der Hass seine Wurzel in der sadistischen Komponente der Liebe hat, die „konstitutionell besonders stark entwickelt gewesen“ ist, gründlich unterdrückt werden musste und im Unbewussten fortwirkt. Die mit diesem Hass konkurrierende Liebe ist eine „bewusst“ Liebe.“[4] Freuds Theorie besagt, dass „gerade diese intensive Liebe [...] die Bedingung des verdrängten Hasses“ ist.[5] Diese auffällig anwachsende „bewusste Liebe“ ist daher als Reaktionsbildung gegen den Hass aufzufassen.
Bei Freuds Patienten bestand eine ausgeprägte Ambivalenz in der Vaterbeziehung. Die Liebe zu diesem ist ihm bewusst, der Hass auf ihn ist unbewusst. Dieser unbewusste Hass kann nicht zugelassen werden, bahnt sich jedoch blitzartig seinen Weg über Zwangsvorstellungen.
Die gleiche Ambivalenz zeigt sich auch einer geliebten Frau gegenüber. Auch hier kann der Hass nicht zugelassen werden, zeigt sich jedoch in einer Zwangshandlung, die Freud als lt;zweizeitige Zwangshandlung und damit als Vorläuferin des Ungeschehenmachens bezeichnet.
Freud schreibt:
„Es tobt in unserem Verliebten ein Kampf zwischen Liebe und Haß, die der gleichen Person gelten, und dieser Kampf wird plastisch dargestellt in der zwanghaften, auch symbolisch bedeutsamen Handlung.“[6]
Die Beobachtungen, welche Freud bei diesem Patienten machen konnte, werden anschließend gedeutet.
So betrachtet er den Zweifel als innere Unsicherheit, entstanden „infolge der Hemmung der Liebe durch den Hass.“[7] Dieser Zweifel dehnt sich auf alle Schutzmaßregeln aus, die gleichfalls dem Zweifel unterworfen und dadurch unvollziehbar werden. Davon zeugen die auffälligen Dauerwiederholungen. So wird alles Denken und Handeln bestimmt durch den unentschiedenen Kampf zwischen diesen beiden gegensätzlichen Kräften.
Auch eine beobachtbare partielle Willenslähmung wird von ihm auf die Ambivalenz zurückgeführt. Die Willensblockade kann sich durch lt;Verschiebung, einen Primärvorgang, bei dem sich die Intensität einer Vorstellung von dieser löst und auf andere wenig intensive übergeht,[8] auf sämtliche Handlungen ausbreiten, ein Mechanismus der bei der Zwangsneurose besonders stark ausgeprägt ist. Alles Denken und Handeln wird letztendlich bestimmt durch den unentschiedenen Kampf zwischen den beiden gegensätzlichen Kräften, der Liebe und dem Hass.
Auffällig bei vielen Zwangskranken ist die Beschäftigung mit Lebensdauer und Tod anderer. Diese Auffälligkeit ist begründet in unbewussten Todeswünschen. Diese Todeswünschen einem Menschen gegenüber, welche dem Hass entspringen, dürfen ebenfalls nicht bewusst werden und zeigen sich stattdessen als Reaktionsbildung in Form von Zwangsbefürchtungen um das Leben des gleichen Menschen. Sie können sich bis auf das „Jenseits“ erstrecken, wie es beim Rattenmann der Fall war.[9]
Freud nimmt an, dass die in der Ambivalenz vorhandenen Hassgefühle in bestimmten Situationen bewusst werden wollen. Besonders deutlich erkennt er diesen Vorgang beim Tod eines Menschen. Diese Annahme führt dazu, dass er inTotem und Tabu (1912-13a)das „Tabu der Toten“, ein bei den „Wilden“ bekanntes Phänomen, untersucht. Dieses Tabu zeigt sich in den unterschiedlichsten Verhaltensweisen und Handlung, in einer Kontaktvermeidung mit „trauernden Angehörigen“[10] und in der „Vermeidung des Namens eines Verstorbenen.“[11] Die Seelen der Verstorbenen werden von den „Wilden“ als bösartig empfunden und als Dämonen betrachtet. Freud betrachtet sie als Zeichen für unbewusste feindselige Gefühle ihnen gegenüber, die abgewehrt werden müssen. Er geht davon aus, dass die Verschiebung dieser feindseligen Gefühle auf einen Toten durch Projektion, einer archaischen Abwehrform,[12] aus einem Verstorbenen einen Dämon macht. Hinter dem Zwangsvorwurf der Zwangsneurose, trotz intensivster, liebevoller Pflege den Tod eines Angehörigen verschuldet zu haben, sieht er die gleiche Ambivalenz und erkennt hinter diesem Vorwurf ebenfalls einen unbewusster Todeswunsch. InTotem und Tabu(1912-13a)betont er, dass die Disposition zur Zwangsneurose ein „besonders hohes Maß“ dieser ursprünglichen Gefühlsambivalenz aufweist.[13]
Freud verfolgt in seinen Aussagen zur lt;Entstehung dieser Ambivalenz zwei unterschiedlich Stränge, einen evolutionistischen bzw. genetischen Strang und einen phylogenetischen, bzw. mythischen Strang.
1.1.Der phylogenetische - mythische Strang:
Vor der evolutionistisch - genetischen Richtung, einer von Anfang an bestehenden Ambivalenz zwischen zwei Trieben, die Freud inTriebe und Triebschicksale (1915c)vorstellt, hatte er inTotem und Tabu(1912-13a) bereits ein anderes Modell über die Entstehung der Gefühlsambivalenz entwickelt:
”Wir haben so oft Gelegenheit gehabt, die Gefühlsambivalenz im eigentlichen Sinne, also das Zusammentreffen von Liebe und Haß gegen dasselbe Objekt, an der Wurzel wichtiger Kulturbildungen aufzuzeigen. Wir wissen nichts über die Herkunft dieser Ambivalenz. Man kann die Annahme machen, daß sie ein fundamentales Phänomen unseres Gefühlslebens sei. Aber auch die andere Möglichkeit scheint mir wohl beachtenswert, daß sie, dem Gefühlsleben ursprünglich fremd, von der Menschheit aus dem Vaterkomplex erworben wurde, wo die psychoanalytische Erforschung des Einzelmenschen heute noch ihre stärkste Ausprägung nachweist.”[14]
1.2. Der evolutionistische- genetische Strang:
InTriebe und Triebschicksale (1915)vertritt er die Auffassung, dass der Hass der erste Ausdruck des Selbsterhaltungstriebes ist und die Liebe den Sexualtrieben entstammt.
Freud schreibt:
„Der Haß ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von seiten des narzißtischen Ichs. Als Äußerung der durch Objekte hervorgerufenen Unlustreaktion bleibt er immer in inniger Beziehung zu den Trieben der Icherhaltung, so daß Ichtriebe und Sexualtriebe leicht in einen Gegensatz geraten können, der den von Hassen und Lieben wiederholt. Wenn die Ichtriebe die Sexualfunktion beherrschen wie auf der Stufe der sadistisch-analen Organisation, so leihen sie auch dem Triebziel die Charaktere des Hasses”[15].
In den lt;Vorstufen der Liebe treten diese Triebe noch gemeinsam auf, um sich dann in der genitalen Phase als Gegensätze zu zeigen.[16]
Abrahamhat sich inVersuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido (1924)zur Ambivalenz ebenfalls geäußert. Während sich für Freud die Ambivalenz bereits auf der oral-sadistischen Stufe als eine Art von Liebe zeigt, die er als „Einverleiben oder Fressen“[17] bezeichnet, die mit der Aufhebung der Sonderexistenz des Objekts vereinbar ist, unterteiltAbrahamdie orale Entwicklungsstufe der Libido in eine primäre und eine sekundäre Phase. In der primären Phase wird „die Existenz der nährenden Person nicht aufgehoben.“[18] Dem Kind sei die Unterscheidung zwischen Ich und nährendem Objekt auf dieser Stufe noch nicht möglich und diese Stufe von daher frei von Ambivalenz. Diese primäre Stufe wird vonAbrahamals „vorambivalent“ bezeichnet. Erst in der sekundären Phase, der oral-sadistischen, „beginnt die Ambivalenz das Verhältnis des Ichs zum Objekt zu beherrschen.“[19] Bei der anal-sadistischen Stufe sieht er die Ambivalenz in zwei Bereichen. Es ist lt;zum einen die „Analerotik“ mit ihren einander entgegengesetzten Lusttendenzen, der Lust der Entleerung und der Lust an der Zurückhaltung des Darminhalts. Die begehrte Person wird als Besitz betrachtet und mit Kot gleichgesetzt. Hierin sieht er den gravierenden Unterschied zur genitalen Phase. „Während auf der genitalen Stufe ‚Liebe’ die Übertragung eines positiven Gefühls auf das Objekt bedeutet und eine psychosexuelle Anpassung an dieses in sich begreift, wird auf der vorhergehenden Stufe das Objekt als Besitztum behandelt.“ Es ist lt;zum anderen der Bereich der „sadistischen Impulse,“[20] in welchem sich der Wunsch nach Vernichtung des Objekts und der nach dessen Beherrschung gegenüber stehen. „Die Beseitigung oder der Verlust des Objekts kann also vom Unbewussten sowohl als sadistischer Vorgang der Vernichtung wie als analer Vorgang der Ausstoßung betrachtet werden.“[21] So gehen lt;konservative anale und sadistische Bestrebung des Festhaltens und Beherrschens Verbindungen ein und ebenso lt;destruktive des Ausstoßens und Zerstörens, die sich gegenseitig verstärken. AuchAbrahamsieht auf der anal-sadistischen Stufe eine uneingeschränkte Ambivalenz der Gefühlsregungen.[22]
Dass es häufig eine Komorbidität zwischen Zwangsneurose und Depression gibt ist bekannt. Den Unterschied zwischen beiden Erkrankungen siehtAbrahamdurch folgende Konstellation gegeben: Bei einem Überwiegen der „konservativen Tendenzen“ des Behaltens und Beherrschens kommt es zur Ausbildung einer Zwangsneurose, bei der destruktiven des Ausstoßens und Vernichtens zu einer Depression. Das Überwiegen der einen Tendenz gegenüber der anderen lässt entweder die Zwangsneurose oder die Depression stärker hervortreten.[23] Die Bestrebung, das Objekt zu behalten, wird auch als Grund dafür angegeben, dass es bei der Zwangsneurose nicht zum Suizid kommt.
Freud äußert sich dazu folgendermaßen:
„Es ist im Gegensatz zur Melancholie bemerkenswert, daß der Zwangskranke eigentlich niemals den Schritt der Selbsttötung macht, [...]. Wir verstehen, es ist die Erhaltung des Objekts, die die Sicherheit des Ichs verbürgt.“[24]
InDas Ich und das Es (1923b)betrachtet Freud die Ambivalenz „als nicht vollzogene Triebmischung.“[25]
Die Begriffe lt;Triebmischung und lt;Triebentmischung stehen in Zusammenhang mit zwei neuen Begriffen, die Freud inJenseits des Lustprinzips (1920)einführte, lt;Eros und lt;Todestrieb. Im Gegensatz zu seiner ersten Triebtheorie, in der sich Selbsterhaltungstrieb (Hunger) und Sexualtrieb (Liebe) gegenüberstehen sind die Antagonisten jetzt die Lebenstriebe (Eros), welche als eine Zusammenfassung von Selbsterhaltungstrieben und Sexualtrieben zu verstehen sind, und die Todestriebe. Als Repräsentanten des Todestriebes betrachtet er den Sadismus.[26] Eros und Todestrieb können sich mischen und entmischen. Eine zweckmäßige Mischung beider Triebe sieht er in der sadistischen Komponente des Sexualtriebes und im „Sadismus als Perversion das Vorbild einer, allerdings nicht bis zum äußersten getriebenen Entmischung.“ Die Zwangsneurose führt er im Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen als Beispiel für eine „Triebentmischung,“ an, bei der „das Hervortreten des Todestriebes eine besondere Würdigung verdient.“[27]
[...]
[1] Quint, H., Die Zwangsneurose aus psychoanalytischer Sicht, (1988), S. 20.
[2] Laplanche, J., Pontalis, J. B.: Das Vokabular der Psychoanalyse, (1996), S. 56.
[3] Laplanche, J., Pontalis, J. B.: Das Vokabular der Psychoanalyse, (1996), S. 57.
[4] Freud, S.: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, (1909d), GW 7, S. 455, 456.
[5] Freud, S.: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, (1909d), GW 7, S. 403.
[6] Freud, S.: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909d), S. 413, 414.
[7] Freud, S.: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, (1909d), GW 7, S. 457.
[8] Laplanche, J., Pontalis, J. B.: Das Vokabular der Psychoanalyse, (1996), S. 603
[9] Freud, S.: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, (1909d), GW 7, S. 452.
[10] Freud, S.: Totem und Tabu, (1912-13a), GW 9, S. 68.
[11] Freud, S.: Totem und Tabu, (1912-13a), GW 9, S. 70.
[12] Laplanche, J., Potalis, J. B.: Das Vokabular der Psychoanalyse, ( 1996), S. 400.
[13] Freud, S.: Totem und Tabu, (1912-13a), GW 9, S. 77.
[14] Freud, S.: Totem und Tabu, (1912-13a), GW 9, S. 189.
[15] Freud, S.: Triebe und Triebschicksale, (1915c), GW 10, S. 231.
[16] Freud, S.: Triebe und Triebschicksale, (1915c), GW 10, S. 228-232.
[17] Freud, S.: Triebe und Triebschicksale, (1915c), GW 10, S. 231.
[18] Abraham, K.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido,inPsychoanalytische Studien zur Charakterbildung, (1969), S. 140.
[19] Abraham, K.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido,inPsychoanalytische Studien zur Charakterbildung, (1969), S. 141.
[20] Abraham, K.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido,inPsychoanalytische Studien zur Charakterbildung, (1969), S. 120.
[21] Abraham, K.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido,inPsychoanalytische Studien zur Charakterbildung, (1969), S. 122.
[22] Abraham, K.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido,inPsychoanalytische Studien zur Charakterbildung, (1969), S. 123.
[23] Abraham, K.: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido,inPsychoanalytische Studien zur Charakterbildung, (1969), S. 124.
[24] Freud, S.: Das Ich und das Es, (1923b), GW 13, S. 283.
[25] Freud, S.: Das Ich und das Es, (1923b), GW 13, S. 270.
[26] Freud, S.: Das Ich und das Es, (1923b), GW 13, S. 268, 269.
[27] Freud, S.: Das Ich und das Es, (1923b), GW 13, S. 270.