Leseprobe
SLK-Ringvorlesung zu Grundlagen und Methoden der Literaturwissenschaft
Was können und was wollen die Literaturwissenschaften?
Literatur ist kein statisches Gebilde à gilt auch f. d. Wissenschaft. Status u. Auffassungen davon, was Literatur u. Wissenschaft ist, verändern sich im Laufe d. Zeit.
Literatur ist Teil der menschlichen Kultur à muss im Umfeld betrachtet werden
Was ist ein Text, und wie lässt sich die unübersehbare Menge von Texten, die der Literatur zugerechnet werden, ordnen?
Was haben wir davon, wenn wir Texte literaturwissenschaftlich analysieren?
Palimzest = Bild f. Anliegen d. Literaturwissenschaft – verschiedene Schichten einer Textrezeption wie Schichten einer Zwiebel ganz viele Texte untereinander (Palimzest = Papyrus-Schriftrollen, weil so teuer immer wieder verwendet)
Germanistik
19. Jhdt.: Entstehen d. Germanistik ist stark mit Nationalstaatwerden (nationbuilding) verbunden – vor Gründung GERs als Nationalstaat 1870 àSchaffung eines kulturellen Grundstockes
Deutsche Sprache = besonders, hat sich spät entwickelt, erst im 18. Jhdt.
Ende 18. Jhdt: Verdreifachung d. Wortschatzes – Entwicklung zum vollen Format
im 19. Jhdt. wird Deutsch eine wichtige Wissenschaftssprache jetzt immer weniger = Verlust
Eigenarten d. deutschen Sprache:
- Komposita (lang zusammengesetzte Worte)
- trennbare Verben (z. B. stattfinden, findet ... statt)
Jede Sprache hat Sprachvielfalt = eigener Zugang auf Darstellung, Literatur
Auch Neu/Weiterentwicklungen: Deutsch als Fremdsprache, Deutsch als Zweitsprache
Gebrüder Grimm
Jacob u. Wilhelm Grimm
Sammlung v. Märchen als deutsches Kulturgut (nicht typisch deutsch, vieles eingewandert)
haben Germanistik mitgegründet
Begriff Germanistik als Fachbezeichnung geht auf sie zurück
+ Generelle Dreigliederung in: Linguistik, Mediävistik, Literaturwissenschaft
vom Konzept der Nationalphilologien zu den allgemeinen, vergleichenden
und transnationalen Literaturwissenschaften
Starke Verbindung v. Sprache u. Literatur
Textkompetenz
Textkompetenz als Schlüsselqualifikation: Verarbeitung u. Vermittlung literarischer u. kultureller Gegenstände u. Zusammenhänge
Text = „zerdehnte Sprechsituation“ (zeitlicher Abstand zw. Sprecher u. Hörer)
Text = Aussage
- Was ist Thema? Welche Sachlage entfaltet Text?
- Welche Aussagen über Sachverhalt?
- Wie aufgebaut?
- Methoden? (bewertend?, Sachen weggelassen?, Informationslücken?)
- Erzählmuster? (chronologisch?, Raffung?, Anschlüsse?)
- Zeitverlauf? (Erzählzeit Dauer, wie lang ich lesen muss ßà erzählter Zeit dargestellte Zeit)
- Impuls? Dauer? Dynamik?
- An welchen Stellen sind sinnvolle Verknüpfungen?
- Erzählperson? (Wer spricht mit wem?)
Zeiterfahrung = relativ
Text als Kommunikation – Erzählposition (Autor / Erzähler nicht ident)
Literaturwissenschaft = Textwissenschaft (soll nah bleiben, Text ist wichtiger als Autor)
Grundlagen der Wissenschaft:
a) Ein Gegenstand
b) Aussagen über diesen Gegenstand
c) Methoden zur Auffindung dieser Aussagen
Literatur = „Menschheitsgedächtnis der Wörter und Sätze, Schriftwerke und Dichtungen“
(Albrecht Schöne)
Literatur(wissenschaft) als Wissens- u. Erfahrungsarchiv
Autor(-in) à Werk àLeser(-in)
Produktion à Verarbeitung à Vermittlung à Rezeption
Textrezeption u. -produktion à Rezeption (also Text über Text ist auch wieder Text)
hängt v. komplexen Auswahl- u. Deutungsmechanismen ab
beeinflusst von betreffendem Trägerkollektiv oder Gesellschaft
à historisch u. kulturell wandelbar
Wo:
- Bildungsinstitute
- Schulbehörden (Lehrpläne, Prüfungsordnungen
- Schulen
- Universitäten
- Bibliotheken
- Theater
- Wissenschaft
- Literaturwissenschaft
- Literaturgeschichtsschreibung
- Medien (Empfehlungen, Rezensionen, Bestenlisten, Kritik)
- Buchhandel, Verlage (öffentliche Lesungen, Marketingstrategien)
- Kulturelle Vereine
- Politik (kulturpolitische Entscheidungen, Literaturförderung)
à all das trägt zur Rezeption und Wertung von Literatur bei
à all das bietet vielfältige Forschungsfragen
- Verbindung v. Literatur u. Gesellschaft
- Literatur als Kommunikationsmittel
- literarische Sozialisation à Umsetzung in Literaturpädagogik
holt sich Hilfe in anderen ( v. a. sozialwissenschaftliches Spektrum: Psychologie, Soziologie)
EDITION
Grundbegriffe d. Edition
„Edition“ = lat. „Herausgabe“
? Welche Ausgabe nehme ich ?
Wie kommt es zu versch. Ausgaben?
Manchmal Texte nur noch in verstümmelter Form übrig, oder d. heutige Text entspricht nicht der grundsätzlichen Autorintentionen
à Aktualisierung (Bsp.: Simplicissimus im Original einen 20-seitigen Titel in Faktur, heute ein Wort-Titel)
à Übersetzung (= Interpretationsarbeit)
à Kürzung (um neues Publikum zu erreichen)
à Übertragungsfehler, Nachdruckfehler
à Eingriffe durch Verlage u. Redaktionen aus politisch-ideologischen, religiösen, ethisch-moralischen Gründen
à Zensur
à Bilder (prägen stark die Rezeption, Aufnahme d. Werkes)
Ausgabentypen:
1. Leseausgaben
2. Studienausgaben
3. Historisch-kritische Ausgaben zeigt deutlich versch. Lesarten, Herausgeber macht Editionsprinzipien u. Entscheidungskriterien kenntlich zeigt Entzifferungen, Druckfehler, Einstellungen durch Herausgeber, Zensur, etc. auf
4. Faksimile-Ausgaben originalgetreue Kopie od. Reproduktion, selbes Papier, selbe Schrift, ...
5. Regestausgaben Sonderform, = nicht Abdruck v. Schriften, sondern Hinweise wo sich die Dokumente finden lassen (wenn es zu viele Dokumente/Briefe v. einem Autor gibt u. nicht alle abgedruckt werden können)
Bei Wissenschaft: auf zuverlässigen Text zurückgreifen (reclam, dtv, Insel)
Weg zur Herausgabe
wichtig, wo nachgelassenen Schriften eines Autors archiviert u. welche Quellen überliefert (zB.: Heine-Institut Düsseldorf, Fontane-Archiv Potsdam)
Auswahl d. Textgrundlage
relevant:
- Autographen eigenhändige Niederschrift
- Abschriften v. fremder Hand
- Korrekturfahnen
- Erst- und Nachdrucke
- Veröffentlichungen in Zeitschriften od. Sammelbänden
- Vorstudien
- Exzerpte Zusammenstellung d. wichtigsten Gedanken in einem Text
- alle Zeugnisse, d. Aufschluss über Textgeschichte geben (u.a. Briefe, Tagebuch)
Frage nach Textkonstitution:
kritische Durchsicht v. Text, um Druckfehler, Textentstellungen zu finden à evtl. Korrektur
Herausgeber historisch-kritischen Ausgabe à alle denkbaren Fehlerquellen einkalkulieren !
Variantenapperat
historisch-kritische Ausgabe à Textgenese so umfassend wie möglich dokumentiert
- Chronologie d. Textzeugnisse
- Verzeichnis d. Entstehungsvarianten (= Autorvarianten)
spiegelt Arbeitsprozess d. Autors wieder (Korrekturvorgänge etc.)
- Verzeichnis d. Überlieferungsvarianten (= Fremdvarianten)
spiegelt Druckgeschichte eines Textes wieder
Varianten à nützlich f. Textinterpretation
Erläuterungen u. Kommentare
Erschließung d. edierten Texte = zentrale Aufgabe d. Editionsphilologie
= Voraussetzung, um literarisches Werk aus geschichtlichem Abstand heraus zu verstehen
à durchaus umstritten, in welcher Weise und in welchem Ausmaß das geschehen soll
TETXTANALYSE - HERMENEUTIK
Auseinandersetzung mit Text = Form v. Dialog
Literarische Texte = polyvalent, vieldeutig
à haben Auslegungsspielraum
Texte haben verschieden Zugänge, wie Zwiebelschichten, wie Türen zu einem Raum, unterschiedliche Blickwinkel
? Frage nach Macht oder Allmacht des Interpreten?
entscheidet, wie weit Auslegungsspielraum reicht (reichen soll / reichen darf)
! Es gibt keine einzig richtige Interpretation !
à bedeutet aber nicht, dass alle Herangehensweisen angemessen sind, es gibt schon unterschiedliche Qualität
wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur zielt auf Komplexität, auf verschiedene (individuelle) Lesarten ab = Unterschied zur typischen Schul-Interpretation (vgl. Vogt 52-54)
Verstehen hängt immer auch mit Interpretation zusammen.
zB Biographien: beruhen auf Auswahl, Erzählweise, Konzentration u. Deutung
Bsp Text v. Herodot über gefangenen Ägypterkönig
Hat alter Mann das Fass zum Überlaufen gebracht? Hat er mit den Kindern gerechnet, nicht mit der Bestrafung des alten, armen Mannes? Berührt ihn das Leiden seines Volkes? Hat er das Gefühl, sein Volk nicht mehr beschützen zu können?
Rezeption => steht im ständigen Wandel
à Alle Texte werfen Fragen u. Probleme auf, fordern zur Auslegung u. Deutung heraus à Immer wieder auch neue Fragen. à unterschiedliche Sichtweisen, unterschiedliches Herangehen, unterschiedliche Epochen od. Kulturen kommen zu anderen Fragen
Hermeneutik = Verstehenslehre, Kunst d. Verstehens
vgl. Götterbote Hermes, der immer Botschaften überbringt
in philosophischer Hinsicht: Hermeneutik = Auslegung od. Interpretation bestimmter Phänomene und Reflektieren d. Verstehensprozesses
Hermeneutik findet zwischen Textlektüre, Gedanken u. Rezeption statt
à zwischen Text und Kontext
kann nie ganz eindeutig sein à Geisteswissenschaften sind problemorientiert (Naturwissenschaften ergebnisorientiert)
Unterscheidung v. Wilhelm Dilthey: „erklärende Naturwissenschaften ßà verstehende Geisteswissenschaften“ früher: Geisteswissenschaften Minderwertigkeitskomplex, weil nicht so eindeutig
Dialog mit Text u. Wissensinformation
Verstehen(sbegriff) ist prozessual
Hermeneutischer Zirkel
„das Ganze aus dem Einzelne und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen“
à dabei bewegen wir uns im „Zwischenzustand von Vertrautheit und Fremdheit“
Hans-Georg Gadamer
Kreisbewegung: ausgehend von d. Lektüre ergeben sich text-externe (historische und gesellschaftliche) Informationen, d. unverstandene Stellen im Text aufklären, womöglich aber auch neue Fragen aufwerfen
= Wechselspiel von Text und (historischem) Kontext
wir deuten immer auch im Kontext unseres Vorwissens (was ist für mich selbstverständlich?)
z. B. Naturgedichte aus Romantik à anderer Naturbegriff als heute, auch anderer als in anderen Kulturen à Natur als Idylle, Natur als Bedrohung = Wechselspiel v. Sprachverstehen und Sachwissen
Texte werden immer neu und anders gelesen
(z. B. Revival von Hesse durch 68er, vom Autor sicher nicht als Jugendbewegungsromane gedacht)
Lesen = aktiver Prozess, im Kopf entsteht eine individuelle Vorstellung (ßà Film)
Kunst will Auseinandersetzung
Sinn der Texte jeweils aufs Neue reaktualisiert
- Leitfragen: Wie lesen Sie den Text?
- Was für Stimmungen löst ein Text aus?
- Was für Assoziationen verbinden wir damit?
- Anschaulichkeit: Was „sehen“ Sie?
auch die ästhetischen und literarischen Erfahrungen differieren (Wertungskriterien!)
à kann deshalb nicht nur von „Interpretationshorizont“ (Gadamer) sprechen, sondern auch von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Interpretationsgemeinschaft“ (Stanley Fish).
à „Interpretationsgemeinschaft“ – kommt auch aus Vorbildung d. Deutschunterrichts
Interkulturelle Hermeneutik à in d. Fremdkulturwissenschaften, z.B.
Deutsch als Fremdsprache / Interkulturelle Germanistik
METHODEN DER LITERATURWISSENSCHAFT
Gegenstand d. Forschung = Literatur
Literaturwissenschaft soll dem Text angemessen sein, gerecht werden
– nicht zu verschematisiert, zu verwissenschaftlicht (z. B. Lachen ist erlaubt)
Literaturwissenschaft soll Wissenschaftler und Literaturliebhaber zusammenbringen
Schönheit muss noch erkennbar sein Idealtyp: Sammler (Nähe zum Objekt)
Methoden müssen passen à Interpretation kann sich an Literatur orientieren.
a) notwendige anonyme Verfahren
b) + kompetente u. exemplarische Subjektivität
in diesem Sinne = Literaturwissenschaft bestrebt, sprachliche Ausdrucksformen (Erinnerung an d. Andersartigkeit poetischer Texte) in d. wissenschaftliche Fach zu integrieren
Textinterpretation à Deutung
Literarische Hermeneutik
! es gibt keine einzig richtige Interpretation !
Textdeutung muss:
- sich um Plausibilität u. Nachvollziehbarkeit bemühen
- => möglichste viele Texte eines gegebenen Textes integrieren u. damit anderen konkurrierenden Deutungen standhalten können
- darauf achten, durch welche künstlerischen Mittel u. Strategien ein Text Bedeutungen bzw. Sinnpotentiale erzeugt
- nicht nur strukturanalytische u. gattungspoetische à sondern auch literatur-geschichtliche, historische u. soziologische Erkenntnisse u. Gesichtspunkte einbeziehen = im Kontext etwas anderes hinzuziehen (Geschichte, Psychologie, ...)
à Interpret entscheidet, wie weit er sich aus dem Fenster lehnt
à legt Auslegungsspielraum fest
Interpretationen erfolgen v. außerhalb d. Texte liegenden Standpunkten, Perspektiven, Anschauungen aus à produzieren darum von d. gewählten Positionen her bestimmte Bedeutungen
Interpretationen entstehen aus Aufeinander-Beziehen v. Text u. Außertextlichem (Kontext)
literarische Text muss kontextualisiert werden, um verstanden werden zu können (während d. Lektüre) à erhält erst dadurch Sinn u. Bedeutung
Geschichte d. Interpretation
- alle Textdeutungen über Kontexte ausgeführt
- nach 2. WK: „werkimmanente Interpretation“ (nur Text, alles außen ist unwichtig)
Sind alle Kontexte, die in einer Interpretation eingesetzt werden können, gleich sinnvoll?
Wie weit kann ich mich mit außertextlichen Komponenten beschäftigen?
Was ist sinnvoll? Passen Werkzeug und Gegenstand zusammen?
(Ist es wirklich sinnvoll Adjektive zu zählen, aber Inhalt zu vernachlässigen?)
à zeigt sich erst in Ergebnissen d. fertigen Interpretation
à muss von Fall zu Fall beurteilt werden
Oft d. Interpretationen berühmt, die ungewohnte Perspektive aufzeigen
Trotzdem: im Mittelpunkt sollte der Gegenstand Literatur stehen
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