Die Darstellung von Schizophrenie in der Literatur. E.T.A. Hoffmann und Robert Louis Stevenson


Master's Thesis, 2014

78 Pages, Grade: 2,2


Excerpt


Inhalt

1) Einleitung

2) Die Darstellung der Schizophrenie in der Geschichte

3.) Die Darstellung von Schizophrenie in der Literatur
a. Die Darstellung von Schizophrenie im Motiv des Doppelgängers
i. Darstellungsformen
ii. Reaktionen der Umgebung
b. Die Darstellung von Schizophrenie bei ETA Hoffmann
i. Die Elixiere des Teufels
ii. Der Sandmann
c. Die Darstellung von Schizophrenie bei Robert Louis Stevenson
i. Dr. Jekyll und Mr. Hyde
ii. Realitätsbezug

4) Conclusio

5) Bibliographie

1) Einleitung

„Der Mensch ist nach homerischer Auffassung zweimal da, in seiner wahrnehmbaren Erscheinung und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei wird erst im Tode […]. Eine […] Vorstellung, nach welcher in dem lebendigen, voll beseelten Menschen, wie ein fremder Gast, ein schwächerer Doppelgänger, sein anderes Ich als seine ‘Psyche‘ wohnt.“[1]

Der Zusammenhang zwischen Körper und Geist und der Spaltung ebendieser Instanzen beschäftigt nicht nur die Medizin, sondern auch die Literatur, in dem Versuch, das nicht Sichtbare zu verstehen. Unter der Verwendung diverser Mittel verarbeiten Schriftsteller wie E.T.A. Hoffmann und Robert Louis Stevenson im 19. Jahrhundert sowohl Ursachen, als auch verschiedene Formen der Darstellung innerer Gespaltenheit. Das Auftauchen eines sogenannten Doppelgängers wird als eines der häufigsten Mittel genutzt, kann diese Figur doch sowohl als Ursache, als auch als Ausdruck einer seelischen Störung verwendet werden. Wie und in welchen Erscheinungsformen der Doppelgänger auftaucht, variiert hierbei. Auch das Erscheinen sogenannter mephistophelischer Figuren, die dem Original äußerlich nicht ähneln, kann als eine Form des Doppelgängertums angesehen werden. Hiermit steht der Begriff des Identitätsverlustes in engem Zusammenhang. Auch die Nutzung von fiktiven Motiven wie mächtigen Tränken oder verzauberten Gegenständen findet sich in diversen literarischen Beispielen wieder.

Welche Parallelen zwischen den literarischen Interpretationen psychischer Krankheiten und der medizingeschichtlichen Auffassung auftauchen, soll mittels eines vorangegangenen geschichtlichen Überblicks bezüglich des Ansehens jener Krankheiten in den verschiedenen Jahrhunderten verdeutlicht werden. Ein solcher Vergleich findet sich in dargestellten Reaktionen der Umwelt, sowie in deren Vermutungen um die Ursache jener auftretenden Krankheiten. Des Weiteren finden sich diverse Realitätsbezüge, vor Allem zu Stevensons Novelle Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die dem Verlauf der von Stevenson dargestellten Krankheit fast exakt gleichen. Ein Überblick literarischer Beispiele, wobei auf die oben genannten Schriftsteller im Folgenden besonderes Augenmerk gerichtet werden soll, wird die Darstellungsformen des Doppelgängers aufzeigen, sodass im Folgenden bei Hoffmann und Stevenson eine detailliertere Einordnung in die Nutzung der jeweiligen Motive seitens der Autoren ermöglicht wird. Anhand von einigen Beispielen werden drei verschiedene Darstellungsformen literarischer Doppelgänger aufgezeigt, die sich schließlich auch in den hier zu besprechenden Hauptwerken wiederfinden. Besonderes Augenmerk wird hier u.a. auf den menschlichen Narzissmus gerichtet werden und dessen Auftreten und Folgen in der Literatur. Auch das Motiv der Freiheit findet sich in diversen Quellen, in welchen die Protagonisten dieses einzig im Zuge einer Psychose ausleben können.

Hoffmann nimmt in seinem Roman Die Elixiere des Teufels das Vererben einer seelischen Krankheit auf, die an dieser Stelle als ein Fluch des Teufels dargestellt wird. Das Wissen um diesen Fluch, gekoppelt mit dem Trinken der teuflischen Elixiere, kann eine bereits vorhandene, unauffällige Psychose mittels eines ebensolchen Placebo Effekts herbeiführen. Auch in Der Sandmann entscheidet ein Kindheitstrauma über den Verlauf des weiteren Lebens des Protagonisten, welches einzig auf die Angst ausgerichtet ist, das Trauma erneut erleben zu müssen. Träume und Wünsche werden auf fiktive, unerreichbare Dinge oder Menschen übertragen, wie beispielsweise auf das Abbild einer Heiligen oder die Gestalt einer künstlichen Frau. Hoffmann lässt seine Protagonisten, die an diversen und sich immer weiterentwickelnden Psychosen leiden, ihre jeweiligen Symptome auf jene fiktiven Motive projizieren, sodass schließlich die Krankheit selbst einen fiktiven Charakter erhält und auf den Rezipienten nahezu widernatürlich erscheint. Die Rationalität steht hier im Hintergrund, ausschlaggebend ist der Glaube der betroffenen Person und dessen Stärke, welche im Zuge einer Psychose zunimmt.

Dem gegenüber steht Robert Louis Stevenson, der sich als einer der ersten seiner Zeit mit dem Phänomen der Doppelexistenz beschäftigt und das visuell verdeutlicht, was in dem Geist jener Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung geschieht: Das Annehmen einer fremden Identität, einer fremden Verhaltensweise, eines fremden Charakters. Die unterschiedlichsten Ursachen sind denkbar und während Hoffmann die realen Ursachen mittels Motiven, die es auf die Realität zu übertragen gilt und die sich mit dem Glauben der Welt vor einigen Hundert Jahren decken, verschleiert, präsentiert Stevenson einen medizinischen Ansatz, welcher, ob fiktiv oder nicht, die Persönlichkeitsspaltung als solche darstellt. In diesem Fall ragen vorangegangene Gefühle wie das Gefühl der Unzugehörigkeit und Fremde zu dem eigenen Körper, Gefangenschaft im eigenen Körper und der damit verbundene Wunsch der Freiheit heraus. Was Dostojewski mittels eines zwillingshaften Doppelgängers darstellt, verdeutlicht Stevenson in einer unabhängigen, zweiten Person, die losgelöst von Aussehen und Identität erscheint und somit glaubt, von jeglichen Konsequenzen befreit zu sein.

Somit entsteht die These, dass bei jenen Protagonisten fiktive Mittel als Ausbruch für eine seelische Störung angewandt werden, die jedoch trotz ihrer, objektiv betrachteten, Existenzlosigkeit eine drastische Wirkung innerhalb der Seele erzielen. Geht man davon aus, dass es sich bei den dargestellten Protagonisten um bereits prädestinierte psychisch Kranke handelt, bzw. um Menschen, die eine gewisse Veranlagung zu seelischen Störungen in sich tragen, so reicht in diesem Fall irgendeine Motivation, an die der Betroffene glaubt, um das, was wir heutzutage eine psychische Krankheit nennen, ausbrechen zu lassen. Der Versuch, das Unsichtbare für den Rezipienten sichtbar werden zu lassen, lässt die zu besprechenden Autoren fiktive Mittel verwenden, die auf ihre eigene Art und Weise die Entstehung, den Verlauf und das Ende einer solchen Krankheit aufzeigen.

Laut Titel konzentriert sich diese Arbeit auf die Schizophrenie als psychische Störung, doch behandelt sie ebenfalls die Folgen einer Schizophrenie, die u.a. eine multiple Persönlichkeitsstörung bedeuten können. Vor allem in der Literatur gehen die Grenzen zwischen den diversen Symptomen fließend ineinander über, sodass in den vorliegenden Quellen folgendes gelten kann: Bei den dargestellten Protagonisten entstehen Spaltungsfantasien durch die schizophrene Paranoia, fremdgesteuert zu werden. Der Doppelgänger und somit der Beginn einer multiplen Persönlichkeitsstörung wird demnach von dem Betroffenen selbst entwickelt, indem er in seiner Schizophrenie dem Wahn untersteht, es gäbe jemand anderen, der an seiner Statt handeln kann oder bereits handelt. Diese Idee kann durch jene Paranoia, verbunden mit dem bereits erwähnten Freiheitsdrang einhergehen. Oft geben die von den Autoren genutzten Ursachenträger einzig den Anstoß, der eine Paranoia in eine gespaltene Persönlichkeit verwandelt, indem die Paranoia verstärkt wird. Die in der Literatur vorherrschende Form dieser Besessenheit nennt sich „luzide Besessenheit“ („in der der Mensch wahrnimmt, wie die zwei Seelen in seiner Brust miteinander ringen“[2] ). Bei diesen zwei Seelen handelt es sich um einen Kampf zwischen der triebhaften Seite des Menschen und dessen gesellschaftlicher Seite, welche die Moral vertritt. Die Literatur behandelt sowohl ein gleichzeitiges Auftreten dieser Persönlichkeiten, als auch ein Auftreten nacheinander. Auch die Fälle des Wissens, bzw. Nicht-Wissens um einen weiteren Charakter werden im Folgenden auftauchen.

2) Die Darstellung der Schizophrenie in der Geschichte

Die Definition und das Ansehen psychischer Erkrankungen, wie die der Schizophrenie, finden in der Geschichte sowohl medizinische Ansätze, als auch mystische und religiöse. Im Allgemeinen wird Schizophrenie gegenwärtig als eine psychische Störung angesehen, die sowohl das Empfinden des Inneren, als auch das der Umwelt verändert. Symptome sind u.a. Halluzinationen, ein instabiles Gefühlsleben und das Fremdfühlen im eigenen Körper.[3] Des Weiteren finden sich Beschreibungen von „Ohnmachts- und Größenphantasien eigentümlicher Wortgebrauch mit neuen Bedeutungen, […] Verfolgungswahn.“[4] Insbesondere Ich-Störungen werden im Laufe dieser Arbeit interessant, da „[h]ierbei […] die Kranken [meinen], daß ihr Denken, ihr Fühlen und ihre Handlungen von außen gesteuert werden und sie dadurch keine Kontrolle mehr über sich selbst haben.“[5] Eine Folge dieser Störung ist demnach eine ausgeprägte Paranoia. Eine Schizophrenie ist nicht zu verwechseln mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung, die in den folgenden Literaturbeispielen häufig auftauchen wird. Dennoch beinhaltet die Wortbedeutung dieses Begriffs, den im Jahre 1908 der Psychiater Eugen Bleuler prägte, eine Seelenspaltung. Er ist zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern „σχίζειν“ (s’chizein = abspalten) und „φρήν“ (phrēn = Seele). Offenbar wurde bei der Benennung dieser Krankheit von einer labilen Seele ausgegangen, die irgendwann ebenfalls eine Spaltung erfahren kann. Wird angenommen, dass fremde Mächte die eigenen Gedanken und Emotionen steuern, so geht der Patient von einem Fremdwirken aus, das sich in den Literaturbeispielen in der zumeist dem Protagonisten entgegenwirkenden und unabhängig handelnden Figur des Doppelgängers widerspiegelt. Die Grenzen zwischen einer Schizophrenie und einer multiplen Persönlichkeitsstörung sind in der Literatur somit verschwommener als in der Medizin.

Betrachtet man nun die Geschichte der Behandlung Schizophrener, so werden diverse Betrachtungsweisen seitens des Umfeldes sichtbar, die auch in der Literatur verarbeitet sind. Es wird davon ausgegangen, dass bereits in der Frühzeit geistige Erkrankungen aufgetreten sind, jedoch ist unklar, wie mit den betroffenen Menschen verfahren wurde. Eine der ersten Quellen, die auf diese Art von Krankheiten hindeutet, findet sich aus dem Jahr 2600 v.Chr. Auf einen ägyptischen Gott mit dem Namen Imhotep ist hier eine frühe Therapieform mit dem Namen „Tempelschlaf“ zurückzuführen. Hierbei führte man in den Tempeln dieses Gottes eine Art Schlaftherapie durch, bei welchem den Patienten der Gott erschien und diese von ihrem Leiden heilen sollte.[6] Weitaus detailliertere Informationen finden sich aus der griechischen Antike, aus welcher Zeit ebenfalls die Erkenntnis stammt, Geisteskrankheiten seien in dem Gehirn verwurzelt. Hippokrates kritisiert die sogenannten „heiligen Krankheiten“ und betont, dass jegliche Erkrankungen – in diesem Fall die Epilepsie – keine auferlegte Strafe der Götter seien, sondern „Schuld an diesem Leiden ist das Gehirn, wie auch an den wichtigsten Krankheiten sonst.“[7] Seine Auffassung, das Gehirn steuere alles,[8] gleicht der heutigen medizinischen Kenntnis, ging jedoch im Laufe der Geschichte wieder verloren. In der Antike wurden Schizophrene demnach als geisteskranke Menschen angesehen, denen es galt zu helfen, beispielsweise mittels „Isolation, Beschränkungen bis hin zu Zwangsmaßnahmen, warme Ölumschläge, Aderlass.“[9] Obgleich der drastisch klingenden Maßnahmen bestand die Ambition, zu helfen und der Umstand, dass Schizophrenie als eine Krankheit angesehen wurde, lässt für abergläubische Erklärungen, wie sie im Mittelalter aufkamen, keinen Spielraum. Seit dem Altertum wurde ein weiterer Heilungsversuch durchgeführt. Der sogenannte „Starstich“, bei welchem die trübe Linse des Auges eingedrückt wird, führte zumeist zu Erblindung und in vielen Fällen (z.B. bei Johann Sebastian Bach) zum Tod.[10] Eine ähnliche Methode findet sich in der Augenheilkunde des 20. Jahrhunderts mit William Freemans Maßnahme der Lobotomie. Freeman glaubte, psychische Krankheiten entstünden durch einen Überschwung an Emotionen, welchen er mittels eines Eispickels durch das Auge am Gehirn zu entfernen gedachte. Er operierte 2500 Menschen und der Tod einer Patientin beendete schließlich 1967 seine Karriere.[11] Bei diesen Beispielen wurde Schizophrenie als eine im Gehirn entstehende Krankheit angesehen, während die Betrachtungsweisen im Mittelalter zu einer göttlichen Strafe tendierten.

Hier lässt sich jedoch trotzdem ein klarer Gegensatz zwischen den einzelnen Religionen erkennen. Während die Gläubigen des Islams seit der Antike und im frühen Mittelalter, vor Allem in Spanien, Hospitäler für geistig Kranke errichteten,[12] erfuhr das Christentum diesbezüglich einen Rückschritt. Was bereits in der Antike als geltend gemacht wurde, wurde nun verworfen und „als göttliche Strafe, Prüfung oder als dämonische Besessenheit interpretiert.“[13] Letzterer Punkt führt mich nun zu den spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Hexenverfolgungen und zu dem Werk Hexenhammer, verfasst im Jahre 1487 von Jakob Sprenger und Heinrich Institoris. Die Autoren schildern hier das Erkennen von Hexen und Ketzern und das nötige Verfahren mit ebendiesen. Auch zu psychisch Kranken findet sich des Öfteren die Annahme, sie seien vom Teufel oder dessen Dämonen besessen:

„So wie der Dämon aus dem Gedächtnis […] die Gestalt eines Pferdes durch örtliche Bewegung dieses Wahngebilde bis zum mittleren Teil des Hauptes hervorführt, wo die Zelle der Vorstellungskraft ist, und folglich bis zum allgemeinen Sinn […]. Und alles das können sie so plötzlich ändern und stören, daß die Gestalten notwendigerweise so erachtet werden, als wenn sie sich dem äußeren Auge darstellten. Ein Beispiel zeigt sich deutlich an dem natürlichen Defekt bei Gehirnkranken und anderen Verrückten.“[14]

Es wird hier zwar zwischen Gehirnkranken und Besessenen unterschieden, doch woran man erkennt, welcher Umstand zutrifft, wird nicht erwähnt. Möglich ist auch eine Gehirnerkrankung aufgrund einer Besessenheit. Laut Foucault zählten im Mittelalter zu den heilbaren Kranken einzig jene, die gewalttätig oder melancholisch waren oder an einer Hirnentzündung litten.[15] Halluzinationen und andere Symptome werden in dem vorliegenden Ausschnitt dem Werk von Dämonen zugeschrieben und galten nach Foucault dementsprechend als nicht heilbar. Der christliche Glaube des Mittelalters befähigte Gott der Macht über die Seele, während es dem Teufel einzig möglich war, in den menschlichen Körper (und somit auch in dessen Gehirn) einzugreifen.[16] Während sich Gott der übernatürlichen Instanz widmen kann, ist der Teufel in der Lage, das irdische Dasein zu beeinflussen. Selbst Kranken, die nicht als besessen galten, wurde derzeit jedoch keine medizinische Hilfe wie im Islam zuteil. Psychisch Kranke waren mit Kriminellen und Vagabunden gleichgesetzt und wurden entweder zur Schau gestellt oder in Dorenkästen, sprich Holzkäfige, gesperrt.[17]

Eine Rückführung zu den Erkenntnissen der Antike bewirkte u.a. René Descartes (1596-1659), welcher von einer Trennung zwischen Körper und Geist überzeugt war. „[Der Geist] ist somit von allen materiellen Dingen getrennt, die im Körper als res extensa auftreten. Die bloße Materie als res extensa ist somit auch streng getrennt von der denkenden Substanz.“[18] Eine Behandlung der geistig Kranken findet sich jedoch auch in Frankreich Mitte des 17. Jahrhunderts nicht. Sogenannte Internierungshäuser (Hôpital général) – vergleichbar mit den englischen Workhouses – wurden errichtet und „haben keinerlei medizinische Aufgabe; man wird in sie nicht aufgenommen, um behandelt zu werden; man tritt ein in sie, weil man nicht länger Teil der Gesellschaft sein kann oder darf.“[19] Erste Institutionen, die tatsächlich heilen sollten, entstanden ab Ende des 18. Jahrhunderts und können als erste psychiatrische Einrichtungen gelten. Doch konnte auch dort nicht etwa mit einer fachgerechten Behandlung gerechnet werden. Die bereits erwähnte Therapieform der Lobotomie ist hierbei nur ein Beispiel. Der Gebrauch von glühenden Eisen oder der „Anwendung der Moxa auf den Scheitel“[20] sind Maßnahmen, die in dem Werk P.-J. Schneiders Entwurf zu einer Heilmittellehre dargestellt werden. Die Unsicherheit und Unwissenheit, eine Krankheit zu behandeln, die für das bloße Auge nicht sichtbar ist, ist vorherrschend in der gesamten Geschichte der Behandlung und der Betrachtung von Schizophrenie.

Während der Zeit der Romantik entstand auch außerhalb der Medizin ein reges Interesse an der Seele und Schriftsteller wie Jean Paul, Fjodor Dostojewski, E.T.A. Hoffmann uvm. begannen sich mit der Spaltung der Psyche auseinanderzusetzen. Interessant für die in dieser Arbeit bearbeiteten Darstellungsformen psychischer Krankheiten, wie die der Schizophrenie, ist der Mesmerismus, entwickelt von Franz Anton Mesmer (1734 – 1815). Mesmer glaubte, mit Hilfe eines Fluidums eine Verbindung zwischen Patienten und sowohl der Erde und dem All, als auch anderen Menschen herstellen zu können. Dies, gekoppelt mit Magneten, sollte bei Kranken sogenannte Krisen hervorrufen, mit deren Hilfe die Patienten geheilt werden könnten:

„Für Mesmer war die Krise der künstlich hervorgerufene Beweis für die Krankheit und das Mittel zu ihrer Heilung. Er sagte, Krisen seien jeweils spezifisch: bei einem Asthmatiker sei es ein Asthmaanfall, ein Epileptiker bekomme einen epileptischen Anfall, usw. Wenn man diese Krisen wiederholt herbeiführe, würden sie immer weniger ausgeprägt, schließlich verschwänden sie, und das bedeute Genesung.“[21]

Es wird sich in den vorliegenden Literaturbeispielen zeigen, dass diese Form der Therapie möglicherweise bei den betreffenden Autoren durchaus bekannt war. Das Provozieren eines Krankheitsausbruches von außen ist nämlich ein Aufgabenbereich der literarischen Doppelgängerfigur als Ursachenträger. Außerdem wird sich der Gegenspieler in der Literatur oftmals durch sein unheimliches und abstoßendes Äußeres auszeichnen – eine Darstellungsform, die sich kunstgeschichtlich auch in der Epoche des Idealismus wiederfindet. Hier versuchte man, die geistige Störung bildlich darzustellen. „Das Verrückte müsse lächerlich und scheußlich wirken, wenn es vom Vernünftigen getrennt zur Darstellung komme.“[22] Eine solche bildliche Darstellung nutzt auch die Literatur in den verschiedensten Formen.

Um mit den geschichtlichen Aspekten abzuschließen, soll schließlich ein Beispiel aus dem Jahre 1933 erwähnt werden. Die „Gesetzgebung zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verbot im Dritten Reich eine Fortpflanzung psychisch Kranker und bot schließlich sogar Anlass für Zwangssterilisationen.[23] Diese Behandlung geisteskranker Menschen deckt sich mit einem Ausdruck aus dem Jahre 1920 von Karl Binding und Alfred Hoche, die u.a. die „Einführung eines rechtsförmigen Verfahrens zur Tötung geistig beeinträchtigter Menschen, sogenannter ‘Ballastexistenzen‘“[24] forderten. Auch die Behauptung, eine Anwendung von Zwangsmaßnahmen bei psychisch Kranken sei keine Freiheitsberaubung, da diese Patienten über keinen freien Willen verfügten,[25] stammt aus dem Jahre 1952 und zeigt, dass das Ansehen psychisch Kranker noch vor wenigen Jahren einen primitiven Charakter trug. Die Tatsache, dass Schwangerschaften psychisch Kranker verboten werden sollten, zeugt von einer Angst, dem Unsichtbaren und Unbekannten gegenüber und infolgedessen wurden die Betroffenen gemieden und diskriminiert.

Es lässt sich nun also zusammenfassend sagen, dass die Geschichte des Ansehens von psychisch Kranken nahezu durchgehend durch Ausgrenzung, Entmündigung und Bestrafung gekennzeichnet ist. Durch diese Erfahrungen sind jegliche Krankheiten von Schuldbewusstsein geprägt, wurde den Betroffenen doch immer gezeigt, dass ihre Andersartigkeit nicht erwünscht ist. Bestrafungen und der Zwang, zuzugeben, dass der eigene Glaube nur dem Wahnsinn zuzuschreiben ist, führte dazu, dass „der Mensch [...] eine psychologisierbare Gattung erst geworden [ist], seit [...] sein Verhältnis zum Wahnsinn äußerlich durch Ausschluß und Bestrafung und innerlich durch Einordnung in die Moral und durch Schuld definiert worden ist.“[26] Diese Ablehnung spiegelt sich auch in den folgenden literarischen Werken wider, in welchen das dargestellte Umfeld der Protagonisten zwar verschiedenartig auf die Betroffenen reagiert, jedoch stets in einer negativen Art und Weise. Auch in der Literatur wird sich zeigen, dass eine Mischung aus Angst, Befremdung, Belustigung und Unverständnis als Reaktion aufkommt und so den Erkrankten verunsichert und noch tiefer in die Psychose fallen lässt.

3.) Die Darstellung von Schizophrenie in der Literatur

a. Die Darstellung von Schizophrenie im Motiv des Doppelgängers

i. Darstellungsformen

„Doppelgänger, so heißen Leute, die sich selber sehen.“[27] Mit diesen Worten prägt Jean Paul 1796 den Begriff des literarischen Doppelgängers. Insbesondere in der Romantik wird die Doppelgängerfigur als ein Motiv seelischer Spaltung verwendet. Zeitüberschneidend, und womöglich auch anteilig maßgebend für die zunehmende Popularität dieses Motivs, werden im 19. Jahrhundert die bisher meisten Fälle von multiplen Persönlichkeitsstörungen, wie beispielsweise die der Mary Reynolds, auf welche noch detaillierter eingegangen wird, veröffentlicht. Man kann also sagen, dass das Auftreten psychischer Krankheiten zu dieser Zeit ein aktuelles Thema ist, welches u.a. in der Literatur verarbeitet wird. Die Figur des Doppelgängers beinhaltet in der Literaturgeschichte weit mehr als eine bloße Kopie von etwas oder jemandem. Vielmehr wird der Doppelgänger häufig als Gegenspieler dargestellt, wessen Erscheinen zu einem Identitätsverlust des Originals (wobei der Begriff des Originals hier auf das lyrische Ich zurückzuführen ist, da jede Hälfte einer gespaltenen Persönlichkeit auf ihre Art ein Original ist) führt. Im Folgenden sollen die verschiedenen Auftritte dieser Doppelgänger dargestellt und beleuchtet werden. Bei jedem der Beispiele wird die Folge für den Protagonisten eine Art von Identitätsverlust sein. Dies kann auf der einen Seite so aussehen, dass der Verstand durch das Auftreten eines solchen Doppelgängers verloren geht, oder, auf der anderen Seite, ein tatsächlicher, aktiver Identitätsverlust, welcher physischer Natur ist. Die Figur des Doppelgängers „stands for contradiction within unity“[28], sie wird also aus einer inneren Gespaltenheit geschaffen, die aber gleichzeitig ein Gefühl der Einheit hegt, stammt sie doch aus dem eigenen Ich. Insbesondere die Doppelgänger verkörpern diese Theorie wortwörtlich, da sie eine exakte Kopie des Originals darstellen. Entstanden aus einer Ich-Störung, die eine Mischung aus Paranoia und Selbstentfremdung ist, entsteht in der Literatur die Figur des Doppelgängers um das Unsichtbare visuell darzustellen.

Die Art und Weise des Auftretens solcher Doppelgänger kann grob in drei verschiedene Arten unterteilt werden: Zum einen wäre der tatsächliche, aktive Doppelgänger, eine leibhaftige Kopie, ähnlich einem Zwilling. Eine zweite Möglichkeit ist das Auftreten des Doppelgängers als eine Art Abbild des Originals in Gegenständen, sei es durch einen Spiegel oder durch Bilder wie Fotos oder Gemälde. Die dritte Form ist etwas komplexer und umfasst vor Allem die Ursachen, die zu einem zweiten Ich, einer Doppelpersönlichkeit und somit zu einem Identitätsverlust des einen Ichs führen. Auf der einen Seite finden sich häufig Ursachen aus einem wissenschaftlichen Bereich, z.B. Tränke und Elixiere, und auf der anderen Seite tauchen personifizierte Ursachenträger auf, oft dargestellt als mephistophelische Figuren, wie z.B. zwielichtige Personen, Dämonen, oder sogar der Teufel selbst, die schlussendlich Schuld an der seelischen Spaltung des Protagonisten tragen. Der Doppelgängerbegriff manifestiert sich hier vor allem durch die Übernahme der Identität des Protagonisten seitens jener mephistophelischen Figuren, wodurch diese wiederum zu einem Doppelgänger ihrer Opfer werden. Die wissenschaftlichen Ursachen erschaffen einen Doppelgänger während die personifizierten Ursachen selbst zu einem Doppelgänger werden. Bei Ersterem ist die Spaltung absichtlich herbeigeführt, bei Letzterem wird sie durch einen Hinterhalt oder durch Gewalt erzwungen.

Den Doppelgänger als visuell kopierte Figur findet man zunächst im Allgemeinen bei Zwillingen. Sie gleichen dem Sprichwort nach wie ein Ei dem anderen und sind gar nicht oder kaum voneinander zu unterscheiden. Die Literatur hat sich dieses Phänomen zu eigen gemacht und es entstehen insbesondere in der Romantik diverse fiktive Versionen von dieser Art des Doppelgängertums. Fjodor Dostojewski (1821-1881) schildert in einem seiner früheren Romane Der Doppelgänger[29] (1866) das Leben des Angestellten Jakow Petrowitsch Goljadkin. Der Protagonist betont häufig, wie stolz er auf seine offene und ehrliche Art ist: „Ich bewege mich unter guten Menschen ohne Maske.“[30] Er lebt ein einfaches Leben und ist sich „seiner Bedeutungslosigkeit bewusst [...], [will] sie aber nicht wahrhaben.“[31] Herr Goljadkin pflegt keine sozialen Kontakte und diese Mischung aus Isolation und Minderwertigkeitskomplex, oft gekoppelt mit Phasen des Narzissmus, führen in der Mehrzahl der literarischen Doppelgängerdarstellungen zu dem Auftauchen des Zwillings, so auch bei dem Protagonisten Dostojewskis. Die Idee eines Doppelgängers kommt Goljadkin selbst als er seinen Abteilungschef in einer Kutsche erblickt und diesen nicht grüßen möchte. „[O]der soll ich so tun, als ob ich es nicht wäre, sondern irgendein anderer, der mir außerordentlich ähnlich sieht[?]“[32] Der Protagonist spielt in dieser Situation mit dem Gedanken, eine gesellschaftliche Verantwortung einem anderen zu überlassen, einem Doppelgänger seiner selbst. Den Auslöser bilden hier also die gesellschaftlichen Normen, Zwänge, die sich auch bei weiteren Autoren, wie z.B. bei Robert Louis Stevenson, als die Ursache für das Auftreten des Doppelgängers herausstellen. Der Wunsch, den sozialen Richtlinien zu entkommen, wird ihm erfüllt als eines Nachts ein Mann seinen Weg kreuzt, der „kein anderer [war] als er selbst, Herr Goljadkin selbst, ein anderer Herr Goljadkin, aber vollständig derselbe wie er selbst, mit einem Worte, was man nennt, sein Doppelgänger in jeder Beziehung.“[33] Er gleicht ihm sowohl äußerlich, als auch namentlich. Nach einer scheinbaren Freundschaft stellt sich jedoch heraus, dass der Doppelgänger des Herrn Goljadkin sowohl dessen Ruf, als auch dessen Identität an sich reißen will. Er beginnt eine Arbeit in derselben Firma und rückt sich durch seine Intrigen in ein besseres Licht. Der wahre Herr Goljadkin verliert sein Ansehen und „begann endlich sogar an seiner eigenen Existenz zu zweifeln.“[34] Herr Goljadkin ist immer wieder bereit, seinem Doppelgänger zu verzeihen, doch hintergeht ihn dieser immer wieder und nutzt seine Gutmütigkeit aus. „[W]ir beide, Jakow Petrowitsch, wollen leben wie die Fische im Wasser, wie zwei leibliche Brüder; wir wollen List anwenden, Freundchen, wollen zusammen List anwenden; wir wollen unsererseits eine Intrige gegen sie einfädeln.“[35] Herr Goljadkin hofft stets, dass sein Doppelgänger sich mit ihm verbündet und mit ihm gegen seine Feinde ankämpft. Ein brüderliches Verhältnis wird erwähnt, was ein undurchtrennbares Band bedeuten würde, das die beiden miteinander verbindet. Im Laufe der Lektüre kristallisiert sich immer mehr der Doppelgänger Herrn Goljadkins als dessen exaktes Gegenteil heraus. Er schmeichelt sich bei der Gesellschaft ein, knüpft Intrigen und scheint jedermanns Freund zu sein. Herr Goljadkin, welcher immer wieder beteuert, wie stolz er auf seine Ehrlichkeit ist, erscheint hier als der exakte Gegenpart. Er wehrt sich gegen das Verhalten seines Doppelgängers anstelle nun aus den beiden agierenden Extremen eine Mitte für sein Verhalten zu finden, mit welchem er sich in der Gesellschaft wohler fühlen kann. Durch die oft unklaren Grenzen zwischen Traum und Realität wird für den Leser nicht ersichtlich, ob der Doppelgänger ein Gebilde von Herrn Goljadkins Fantasie ist oder ob er tatsächlich für jedermann sichtbar existiert. Der Leser verfolgt die Gedanken des Protagonisten und kann somit oft ebenfalls nicht zwischen Halluzination und Realität unterscheiden. Die Situation spitzt sich so zu, dass Herr Goljadkin eines Tages auf seinen Doppelgänger losstürzt, „in der offensichtlichen Absicht, ihn zu zerreißen und auf diese Art ein für allemal mit ihm fertig zu werden.“[36] Die Tatsache, dass der Protagonist hier seinen Widersacher töten will, zeugt von einer selbstzerstörerischen Ader, resultierend aus der Unfähigkeit, einen festen Platz in der Gesellschaft zu finden. Sein zweites Ich ist wie ein Bruder mit ihm verbunden und ihm dennoch so verhasst, dass er bereit ist, dieses Ich, also einen Teil seiner Selbst, zu vernichten. Er wird von diesem Doppelgänger derart dominiert, dass er schlussendlich seine Identität als ein Mitglied der Gesellschaft gänzlich verliert und abtransportiert wird. Man kann nur spekulieren, dass es sich hierbei um einen Transport in eine Nervenklinik handelt.

Die Gefühlsschwankungen seinem Doppelgänger gegenüber, von freundschaftlich bis feindlich, zeugen von einer inneren Gespaltenheit, resultierend aus den gesellschaftlichen Zwängen, die der Protagonist nicht bewältigen kann, und aus der Paranoia, von Feinden verfolgt und manipuliert zu werden. Auch die Assoziation eines Doppelgängers mit dem Tod taucht auf. Der Abteilungschef berichtet beispielsweise, seine Tante habe kurz vor ihrem Tod ebenfalls ihren Doppelgänger gesehen.[37] Herr Goljadkin schwankt immer wieder zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Narzissmus und so unbeständig zeigt sich auch sein Verhältnis zu seiner zweiten Hälfte. Er erleidet immer wieder einen Realitätsverlust und erkennt den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr. Selbstgespräche in Form von Dialogen, bei welchen der Protagonist den Part mehrerer Gesprächspartner übernimmt, sind weitere Indizien für Goljadkins ausgeprägte Schizophrenie. Der auftauchende Doppelgänger übernimmt die gesellschaftliche Rolle, die dem Original nicht möglich ist. Er ist selbstsicher, kommunikativ und beliebt.

Auch Edgar Allan Poe (1809-1849) beschreibt in seiner Erzählung William Wilson[38] den Fall des gleichnamigen Schülers, welcher auf seinen Doppelgänger stößt. Auch hier taucht das Motiv des Bruders wieder auf: „Doch wären wir Brüder gewesen, so hätten wir Zwillinge sein müssen.“[39] Sie gleichen sich in Aussehen, Namen und Geburtsdatum und der Protagonist vermutet sogar, dass sein Doppelgänger sein Benehmen nachahmt, um gänzlich unverwechselbar mit ihm zu werden. Das einzige Merkmal, das die beiden voneinander unterscheidet ist die Stimme, die bei Wilsons Doppelgänger durch eine Beeinträchtigung der Stimmbänder leiser ist als bei William Wilson selbst. Geht man hier von einem seelischen Doppelgänger aus, so wird an dieser Stelle bereits durch den Unterschied in der Stimme deutlich, dass dieser schwächer sein muss. Auffallend bei dem Beispiel ist jedoch, dass Wilsons Doppelgänger keineswegs gegenteilige oder böse Absichten verfolgt, wie etwa der Doppelgänger Herrn Goljadkins. Er tritt zwar ebenfalls in der Rolle des Widersachers auf, doch in einem positiven Sinne. Bereits während der Schulzeit der beiden Jungen wird deutlich, dass der zweite William Wilson dem Protagonisten widerspricht, ihn sogar dann und wann bevormundet. Der bisher immer unabhängige, eigenständige Wilson kann mit diesem Verhalten nicht umgehen und als er bei einer weiteren Begegnung mit seinem Mitschüler von ihm fremden Erinnerungen heimgesucht wird, ergreift er die Flucht aus dem Internat. „Ich kann das sonderbare Gefühl, das mich erfasste, wohl am besten wiedergeben, wenn ich sage, dass es mir schwer wurde, den Glauben abzuschütteln, diesem Wesen, das da vor mir stand, vor langer Zeit einmal […] verwandt gewesen zu sein.“[40] Auf seinem folgenden Lebensweg errettet ihn sein Doppelgänger immer wieder vor fatalen Taten, die er begehen will und zwingt ihn so, immer wieder seinen derzeitigen Aufenthaltsort zu verlassen, da das Aufdecken seiner Vorhaben stets Schande über ihn bringt. Schließlich fordert Wilson seinen Doppelgänger auf einem Maskenfest zum Duell und tötet ihn. Das Motiv der Maske erscheint hier als Sinnbild für undurchschaubare Seelen. Das Ich ist hinter einer Maske verborgen. Die Tatsache, dass Wilson nach dem tödlichen Hieb einen Spiegel zu sehen glaubt, in welchem er selbst blutbesudelt zu sehen ist, beweist, dass es sich auch bei William Wilson um eine gespaltene Persönlichkeit handelt, bei der zwei verschiedene Charaktere gegeneinander ankämpfen. Auch hier besteht die Bereitschaft, das zweite Ich zu töten, um dem Doppelgänger zu entkommen. Wilsons Doppelgänger spricht nach dem tödlichen Hieb mit lauter, klarer Stimme: „In mir lebtest du – und nun ich sterbe, sieh hier im Bilde, das dein eigenes ist, wie du dich selbst ermordet hast.“[41] In Wilsons Persönlichkeit bildete sich sein Über-Ich als eigenständige Person heraus, die seine triebhafte Seite stets vor Unheil zu bewahren versuchte. Schließlich siegt jedoch das Es und tötet den Teil von ihm, der die gesellschaftlichen Normen verkörpert.

Sowohl bei Dostojewski, als auch bei Poe, scheint jeder in der Umgebung des Protagonisten in der Lage zu sein, den Doppelgänger ebenfalls wahrzunehmen. Es bleibt also stets ein letzter Zweifel vorhanden, ob die Doppelgänger und die Protagonisten ein und dieselbe Person sind. Eine in den Erzählungen nicht angedeutete Möglichkeit, welche außerdem die Erkrankung in Form einer Psychose erklären würde, ist der Grund für das Verhalten des Umfelds. Dieses kann durchaus von der Erkrankung wissen und dennoch auf die jeweilige Stimmung des Protagonisten eingehen, sodass dieser nicht merkt, dass er zwei Charaktere lebt. Das Vermeiden von beispielsweise Wutausbrüchen kann ein Grund für dieses Verhalten sein. Denn betrachtet man den Verlauf der Geschichten, und vor allem Poes Schlussszene, so wird deutlich, dass der Doppelgänger eine zweite Persönlichkeit der Protagonisten ist, welche dann und wann – meist in diffizilen Situationen – auftaucht. Eine Gemeinsamkeit, welche beide Texte bisher aufweist, ist zudem das Verhältnis zwischen ihnen und ihrem Doppelgänger bezüglich der Frauen, die sie begehren. Beide Protagonisten verlieren ihr bisheriges Leben, sei es gesellschaftlich oder wortwörtlich, auf einer Abendveranstaltung, auf welcher sie hoffen, sich der Dame ihres Herzens nähern zu können. Der Doppelgänger übernimmt also ebenfalls die Rolle des Störers der Liebe. Die eine Seite der Persönlichkeit sucht nach Nähe und die andere Seite versucht diese zu verhindern, was auf eine bindungsunfähige, narzisstische Persönlichkeit schließen lässt, da es keinen Menschen geben kann, der dem Protagonisten wichtiger ist als er selbst.

Abschließend zu diesem Teil des Kapitels möchte ich nun ein Beispiel aus dem 21. Jahrhundert nennen. In seinem Roman Ruhm[42] schildert Daniel Kehlmann das Leben eines prominenten Schauspielers namens Ralf Tanner. Für den Rezipienten wird deutlich, dass das Leben als Schauspieler für den Protagonisten immer lästiger wird. Als er Nora kennenlernt und merkt, dass sie an ihm interessiert ist, obwohl sie glaubt, er sei nur ein Imitator des berühmten Ralf Tanner, nimmt sein Leben eine andere Wendung. Er tritt in einem Club als Imitator seiner selbst auf, wenn auch mit wenig Erfolg, und als er morgens neben Nora aufwacht, ist ihm, „als hätte ein Fremder sich in dieses Zimmer verirrt; und dieser Fremde war nicht sie.“[43] Er ist nicht mehr er selbst und kann sich nicht einmal mehr selbst imitieren. Es trifft sich nun, dass er durch Zufall einen Filmtrailer mit sich im Fernsehen sieht und sich nicht erinnern kann, diesen Film gedreht zu haben. Es wird deutlich, dass es eine Kopie des echten Ralf Tanner gibt, die nun sogar dessen Leben lebt. Doch in diesem Fall des Identitätsverlustes bleibt der Protagonist keinesfalls verzweifelt zurück. Im Gegenteil, er hat sein altes Ich abgelegt. „Also hatte er den Ausweg gefunden. Er war frei.“[44] Sein Doppelgänger hat ihm, womöglich wider Willen, seine Freiheit als Mensch zurückgegeben und das Gefühl, als Prominenter verfolgt zu werden, hat ein Ende. In diesem Fall wird der positive Aspekt eines Identitätsverlustes dargestellt. Fraglich ist, ob es sich bei diesem Beispiel um eine psychische Störung handelt, doch zeigt es, dass der Wunsch, aus dem eigenen Ich auszubrechen, menschlich ist. Tanner steigt von der Oberschicht in die Mittelschicht ab und verliert so seine Einsamkeit, indem er ein Leben führen kann, das nicht im Rampenlicht steht.

Die hier genannten Beispiele zeigen, dass das Zusammentreffen mit einem Doppelgänger stets einen Identitätsverlust bedeutet und dieser die Protagonisten stets gesellschaftlich abstuft. Für Kehlmanns Protagonisten bedeutet diese Abstufung Freiheit und die Möglichkeit, als durchschnittlicher Bürger in der Gesellschaft leben zu können, während Poes und Dostojewskis Figuren von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Die vorangegangenen Beispiele des 19. Jahrhunderts nutzen die Figur des Doppelgängers als einen gespaltenen Teil der eigenen Seele.

Insbesondere das Auftreten des Doppelgängers als Abbild wird stark durch Narzissmus begünstigt. Seine literarischen Anfänge findet diese Form der Darstellung in dem griechischen Mythos von Narziss, einem schönen Jüngling, welcher jedoch dazu verflucht ist, nur sich selbst lieben zu können.[45] Als er eines Tages aus einem See trinken will, verliebt er sich in sein Spiegelbild, jedoch ohne zu wissen, dass er es ist. Er vergisst die Welt um sich herum, während er über seinem Spiegelbild trauert, das seine Liebe nicht erwidert. Den Tod findet er durch ebendiesen Doppelgänger, indem er versucht, sein Spiegelbild zu umarmen. Ein Unterschied dieser Geschichte zu vielen anderen Abbildern ist, dass Narziss nicht weiß, dass er in sich selbst verliebt ist, er kann also nicht wahrhaftig als narzisstisch gelten. Dennoch treibt ihn sein Spiegelbild, sein Doppelgänger, in den Wahnsinn, er vergisst die Realität und stirbt schlussendlich in dem Versuch, sich mit diesem Doppelgänger zu vereinen.

Der Selbstmord spielt in allen drei Darstellungsformen eine zentrale Rolle. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Protagonisten Selbstmord begehen, um dem Doppelgänger zu entfliehen, um die seelische Spaltung aufzuheben. Die Literatur zeigt, dass eine Vereinigung mit dem Doppelgänger lebend nicht möglich ist. Die einzige Lösung, der Spaltung zu entkommen, ist der Tod, bzw. der Tod einer der beiden Persönlichkeiten. Narziss erblickt sich selbst in einer Art Spiegel und die Protagonisten, die ihre Doppelgänger in Abbildern erkennen, gehen oft ebenfalls von einem Spiegelbild aus. So auch Herr Goljadkin, der seinen Doppelgänger im ersten Augenblick für einen Spiegel hält.[46] Die finale Szene von William Wilson spielt sich ebenfalls zwischen Spiegeln ab, durch welche schließlich deutlich wird, dass Wilson Selbstmord begeht. Die Annahme, es handele sich um einen Spiegel, kommt der Realität sehr nahe, agiert der Doppelgänger doch tatsächlich nur innerhalb des eigenen Körpers.

Als ein weiteres Beispiel ist Oscar Wilde (1854-1900) und sein Werk Das Bildnis des Dorian Gray[47] zu nennen. Im Vordergrund steht hier die sinnliche Begierde, welcher der Protagonist Dorian Gray frönt. Der schöne Jüngling wird von dem Maler Basil Hallward auf einem Portrait dargestellt. Bereits nach Beendigung des Bildes gibt der Künstler zu: „[J]edes Portrait, das mit Gefühl gemalt wird, ist ein Portrait des Künstlers und nicht des Modells. [...] Nicht ihn offenbart der Maler; der Maler offenbart vielmehr sich selbst auf der farbigen Leinwand. [...] [I]ch fürchte, darin das Geheimnis meiner eigenen Seele preisgegeben zu haben.“[48] Hier findet eine erste Spaltung statt, indem Basil Hallward einen Teil seiner Seele in dieses Bild mit einwebt. Als Dorian sein Portrait sieht, verliebt er sich in dieses Bild und so, im Gegensatz zu Narziss, wissentlich in sich selbst. „Wäre ich es doch, der ewig jung bliebe, und wäre es das Bildnis, das altere!“[49] Auch hier taucht die Idee des Doppelgängers seitens des Protagonisten selbst auf und fortan ist auch Grays Seele mit der des Bildnisses verwoben. Man kann also sagen, dass das Bildnis ein Doppelgänger zweier Menschen ist, der des Künstlers und der des Dargestellten. In diesem Fall sind durchaus erotische Züge homosexueller Art seitens Basil Hallward gegenüber Dorian Gray erkennbar, während sich bei diesem jedoch einzig eine erotische Beziehung zu seinem Portrait erkennen lässt. Er geht kaltherzig durch die Welt und genießt zusammen mit Lord Henry die sinnlichen Genüsse. Während dieser die Triebhaftigkeit Dorians fördert, appelliert Hallward an dessen Gewissen. In gewisser Weise können die beiden Weggefährten des Jünglings ebenfalls als seine Doppelgänger angesehen werden, verkörpern sie doch beide Seiten Dorian Grays, auch wenn die triebhafte Seite an dieser Stelle überwiegen mag. Im Laufe des Romans begeht Dorian mehrere Verbrechen, nicht zuletzt auch den Mord an Basil Hallward, da eine leidenschaftliche Wut auf den Maler in ihm aufkommt, als er merkt, dass das Bildnis an seiner Statt altert und ihm so seine Sünden aufzeigt. Hier zeigt sich eine Form der Darstellung wie sie auch bei Stevensons Doktor Jekyll und Mr. Hyde erkennbar ist. Die Sünden, die der Protagonist begeht erhalten ein Gesicht, das Böse wird personifiziert. Bei Dorian Gray selbst deutet nichts auf dessen exzessiven Lebensstil hin, einzig das Portrait ist das „Symbol seines Doppellebens.“[50] Auch in diesem Fall glaubt der Protagonist an seelischen Frieden, wenn er seinen Doppelgänger tötet. Er zerstört das Bildnis mit demselben Messer, mit dem er Basil ermordet hat und wieder führt dieser Akt der Selbstzerstörung und der Selbstverleumdung zu dem eigenen Tod. Seine Leiche zeigt schließlich die Schande, die er mit dem Zerstören des Bildes versucht hat, zu verdecken. Das Bildnis des Dorian Gray ist ein Beispiel des Konfliktes zwischen Gut und Böse und die beiden Seiten sind mit jeweils einem eigenen Gesicht dargestellt, obwohl es sich um eine einheitliche Seele handelt. „Kultiviertheit und Verderbtheit. [...] Ich habe beides kennengelernt. Heute erscheint es mir entsetzlich, daß sie jemals zusammen auftreten könnten.“[51]

Die folgenden Beispiele sollen sich nun detaillierter auf die Ursachen einer Persönlichkeitsspaltung konzentrieren. Zu Anfang sollen die sogenannten mephistophelischen Figuren als Ursachenträger dargestellt werden und schließlich wird kurz auf den wissenschaftlichen Aspekt als Ursache eingegangen. Im Falle von Gustav Meyrinks (1868-1932) Der Golem[52] wurzelt die Ursache von Athanasius Pernaths paranoiden Halluzinationen in der Sage des Golems, den er zwischenzeitlich glaubt, zu sehen. Der Roman ist in zwei Erzählebenen gegliedert. Die Äußere bildet der auktoriale Erzähler, welcher die Geschichte des Athanasius Pernath träumt. Das Motiv des Doppelgängers findet sich auf dieser Ebene erst auf den letzten Seiten wieder als der Erzähler schließlich aus seinem Traum erwacht und das Haus des Pernath in Prag besucht. In diesem fiktiven Haus angekommen, begegnet er dem ungealterten Pernath und seiner Geliebten Mirjam. Bei dem Anblick Pernaths stellt sich dieser nun als der Doppelgänger des Ich-Erzählers heraus: „Mir ist, als sähe ich mich im Spiegel, so ähnlich ist sein Gesicht dem meinigen.“[53]

Auch innerhalb des Traumes, bzw. der Erzählung, findet sich die Figur des Doppelgängers wieder. Der Gemmenschneider Athanasius Pernath lebt ohne Erinnerungen an seine Vergangenheit in dem Prager Ghetto, in welchem der von Rabbi Löw geschaffene Golem sein Unwesen treiben soll. Als er eines Abends ein Buch zur Ausbesserung erhält (es handelt sich um das Buch Ibbur), ist sich Pernath sicher, der Golem habe ihm das Buch gebracht. Zwar hat er ihn nicht sehen können, ist aber in der Lage, dessen Gangart nachzuahmen. „Meine Haut, meine Muskeln, mein Körper erinnerten sich plötzlich, ohne es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wünschte und nicht beabsichtigte. [...] Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, wie ich ein paar Schritte im Zimmer machte.“[54] Diese Szene lässt den Rezipienten bereits erahnen, dass Pernath und der Golem eine Person sind, bzw., dass sich Pernath unbewusst für diesen hält und die Existenz dieser mephistophelischen Sagen-Figur zu diesem Glauben geführt hat. Das auszubessernde Buch Ibbur, das Buch der Seelenwanderung, deutet ebenfalls auf eine Spaltung der Seele Pernaths hin. Das Wandern der Seele findet immer dann statt, wenn Pernath die Persönlichkeit wechselt. Zudem können die Erinnerungslücken an seine Vergangenheit die Folgen einer psychischen Behandlung sein. Der medizinische Aspekt wird hier von Hillel verkörpert, der im selben Haus wie Pernath lebt und womöglich eine solche Behandlung an seinem Patienten durchgeführt hat. Hillel glaubt nicht an die Existenz des Golems „selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor mir sähe.“[55] Offenbar weiß er von Pernaths Wahnvorstellungen und kann somit die Existenz des Golems sicher verwerfen. In der Öffentlichkeit erleidet Pernath schließlich eine Art Anfall, indem er nicht sprechen kann, da ihm Finger in seinen Mund greifen. Er erkennt die Finger als dieselben, die ihm das Buch Ibbur gebracht haben. Die Tatsache, dass seine Freunde anwesend sind und nach einem Arzt verlangt wird, zeugt nicht von einem Fremdeingreifen, das es Pernath unmöglich macht, zu sprechen. Die Lähmung der Zunge deutet auf die Sage des Golems hin, welcher mittels eines Zauberspruches, der ihm auf die Zunge gelegt wird, zum Sklaven wird.[56] Auch das scheinbare Verirren in das Haus „in dem der gespenstische Golem jedesmal verschwand“[57], untermauert die Annahme einer Schizophrenie, bzw. einer Persönlichkeitsspaltung, bei der sich Pernath nicht mehr an die Handlungen als Golem erinnern kann und Halluzinationen den Blick für die Realität verschleiern. Indizien wie das plötzliche Nicht-Verstehen des Buches Ibbur, da es auf Hebräisch geschrieben ist, obwohl Pernath es nach dem Erhalt gelesen hat oder der zwanghafte Wunsch, seiner geliebten Mirjam das „Bild [s]eines Doppelgängers“[58], das des Golems, zuzusenden als Pernath selbst in Haft ist, deuten auf eine gespaltene Persönlichkeit hin, die Pernath auch später nach einem von ihm begangenen Lustmord selbst erkennt: „[W]enn ich auch bei vollkommen klarem Bewußtsein handelte, so hatte ich dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt hatte, wachte auf und war stärker als ich.“[59]

Auch der Schatten spielt in der literarischen Darstellung von seelischer Spaltung eine Rolle. Die Identifizierung des eigenen Schattens mit der Seele findet sich u.a. in Geschichten wie die von dem Cowboy Lucky Luke. Im Hinblick auf einen Ursachenträger, der eine seelische Spaltung hervorruft, ist hier jedoch vor allem Adelbert von Chamissos (1781-1838) Peter Schlemihls wundersame Geschichte[60] zu nennen. In dem Roman manifestiert sich die Gestalt des Ursachenträgers in Form einer mephistophelischen Figur, nämlich die des Teufels. Der Protagonist verkauft seinen Schatten im Zuge eines Gartenfestes an einen „grauen Mann“[61] gegen einen nie versiegenden Geldbeutel. Schon kurz nach dem Geschäft bereut er seine Tat, da er merkt, wie er von der Gesellschaft verstoßen und verurteilt wird. Einzig sein Diener Bendel steht trotz seiner Schattenlosigkeit zu ihm und ist sogar bereit, ihm „[s]einen Schatten zu borgen.“[62] Er teilt somit seine eigene Identität mit seinem Herren. Bendel wird gewissermaßen zum Doppelgänger Schlemihls und verliert seine eigene Individualität. „Die Vorstellung der Seele als Schatten ergab sich aus dem Schatten, welcher dem Menschen folgt oder voraufgeht usw.“[63] So wie der Schatten, ist auch die Seele etwas, das den Menschen nicht verlässt, an das der menschliche Körper stets gebunden ist. Einen adligen Titel annehmend, lernt Graf Peter die „himmlische Erscheinung“[64] Mina kennen und verliebt sich in sie. Die Förstertochter wird von dem Protagonisten auf eine engelsgleiche Ebene gesetzt, was bei einigen in der Literatur dargestellten Frauen, in die sich der seelisch Gespaltene verliebt, der Fall ist. Kurz vor der Verehelichung verrät ein weiterer Diener Schlemihls dessen Geheimnis, sodass Minnas Vater die Hochzeit abbricht und ihm drei Tage Zeit lässt, seinen Schatten wiederzufinden. Durch das Auftauchen des Teufels in Gestalt des grauen Mannes, und davon ist auszugehen, nennt sich dieser doch selbst einen „arme[n] Teufel“[65], bricht aus dem Protagonisten der Wahnsinn aus, als seine Schattenlosigkeit ihn schließlich seiner Liebe beraubt. „Angstschweiß troff von meiner Stirn, ein dumpfes Stöhnen entrang sich meiner Brust, in mir tobte Wahnsinn.“[66] Der Teufel fordert für die Rückgabe des Schattens Schlemihls Seele, wodurch eine Gleichsetzung der Seele mit dem menschlichen Schatten aufgezeigt wird. „[M]anche Völker tragen ihre Kranken auch heute noch in die Sonne, um mit ihrem Schatten die entschwindende Seele wieder herbeizulocken.“[67] Äußerlich erhält Schlemihl seine Menschlichkeit zurück, doch wird der Pakt mit dem Teufel hier nach innen verlagert. Eine Seelenlosigkeit deutet ebenfalls auf eine Spaltung hin, hätte Schlemihl doch keine Macht mehr über seine Seele. Schlemihl weist das Angebot zurück und löst sich somit von dem Teufel. Dennoch ist er durch diese Entscheidung zu ewiger Einsamkeit verdammt.

Jegliche Handelsabkommen mit dem Teufel finden sich in der Weltliteratur des Öfteren, auch mit psychischen Krankheiten als Folge. Thomas Mann (1875-1955) schildert in seinem Roman Doktor Faustus[68] beispielsweise einen solchen Pakt mit dem Teufel. Der Protagonist Adrian Leverkühn verschreibt sich der Unfähigkeit, zu lieben, damit er sein Leben als Genie der Musik führen kann. Dieses Leben rekapitulierend schreibt Adrians Freund Serenus Zeitblom, „unmöglich konnte man sich des Eindruckes erwehren, als bedeute [Adrians ungeheurere Aktivität] Sold und Ausgleich für den Entzug an Lebensglück und Liebeserlaubnis, dem er unterworfen gewesen war.“[69] Nach der von dem Teufel ihm gegebenen Zeit, gesteht Adrian Leverkühn alles seinen Freunden und seiner Familie und endet schließlich in der Hölle, die sich als eine Nervenheilanstalt entpuppt, in welcher Adrian den Rest seines Lebens apathisch und psychisch gestört verbringt. „Ich spreche da von einer gewissermaßen geheimen und inneren Unbeweglichkeit.“[70]

Als Ursachenträger tauchen hier mephistophelische Figuren wie der Teufel oder der mystische Golem auf. Eine bereits bestehende Schizophrenie kann durch das Auftauchen dieser Figuren zu einer Persönlichkeitsspaltung führen, werden die Protagonisten doch gewissermaßen genötigt, ihr Ich zu spalten. Bei Peter Schlemihl ist diese Tatsache ausgeprägter als bei Athanasius Pernath, da er durch einen Hinterhalt in eine Situation gerät, die ihn zwingt, zwischen seinem Schatten und seiner Seele zu entscheiden. Die Schwäche des Menschen, in diesem Fall die Gier, ausnutzend, erreicht der Teufel sein Ziel.

Beispiele für wissenschaftliche Ursachen finden sich vor allem in den folgenden drei Hauptquellen. Wissenschaftliche Ursachen sind zumeist absichtlich herbeigeführt und geraten den Protagonisten in den folgenden Beispielen einzig außer Kontrolle. Auch ist nicht auszuschließen, dass das Wissen um ein chemisches Elixier, das die Seele spalten kann, oft ausreicht, dieses Phänomen zu bewirken, selbst wenn das Elixier dies gar nicht vermag. Wir sprechen hier also von einem Placebo Effekt. Eine bereits vorhandene Schizophrenie kann durch diesen Glauben zu einer Persönlichkeitsspaltung mutieren, indem der Betroffene in seiner Paranoia und in seinen Wahnvorstellungen jegliche Zweifel an der Echtheit dieser Elixiere verliert. Hinzu kommt das Sehnen nach der Freiheit, die man als jemand anderes ausleben kann, sprich, das Sehnen nach der Möglichkeit, beliebig zwei verschiedene Identitäten anzunehmen.

[...]


[1] Rohde, S. 5 f.

[2] Ellenberger, S. 186

[3] Vgl. www.onmeda.de

[4] Bär, S. 24

[5] http://neuro24.de

[6] Vgl. Kolta, Schwarzmann-Schafhauser, S. 78

[7] Diller, S. 134

[8] Vgl. Arenz, S. 45

[9] Ebd., S. 48

[10] Vgl. www.dr-leber.de

[11] Vgl. www.npr.org

[12] Vgl. Arenz, S. 50

[13] Ebd. S. 51

[14] Sprenger, Institoris, S. 221

[15] Vgl. Foucault, S. 101 f.

[16] Vgl. Sprenger, Insitoris, S. 227

[17] Vgl. Arenz, S. 53

[18] www.descartes-cogito-ergo-sum.de

[19] Foucault, S. 104 f.

[20] Arenz, S. 72

[21] Ellenberger, S. 103

[22] Gorsen, S. 318

[23] Vgl. Arenz, S. 89

[24] www.faz.net

[25] Vgl. Arenz, S. 73

[26] Foucault, S. 113

[27] Nerrlich, S. 239

[28] Herdman, S. 2

[29] Vgl. Dostojewski, Fjodor. Der Doppelgänger: Anaconda Verlag GmbH, Köln. 2012

[30] Ebd., S. 211

[31] Bär, S. 298

[32] Dostojewski, S. 13

[33] Ebd., S. 69

[34] Ebd., S. 76

[35] Ebd., S. 95

[36] Dostojewski, S. 179

[37] Vgl. Ebd., S. 79

[38] Vgl. Poe, Edgar Allan. William Wilson. In: Etzel, Theodor (Hrsg.). Edgar Allan Poe. Gesammelte Werke. Anaconda Verlag GmbH, Köln. 2012. S. 372-393

[39] Ebd., S. 378

[40] Ebd., S. 382

[41] Poe, S. 393

[42] Vgl. Kehlmann, Daniel. Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg. 2009

[43] Kehlmann, S. 81

[44] Ebd., S. 93

[45] Vgl. www.narzissmus.org

[46] Vgl. Dostojewski, S. 199

[47] Vgl. Wilde, Oscar. Das Bildnis des Dorian Gray. Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart. 2007

[48] Ebd., S. 13

[49] Wilde, S. 41

[50] Bär, S. 309

[51] Wilde, S. 299

[52] Vgl. Meyrink, Gustav. Der Golem. Deutscher Taschenbuchverlag GmbH & Co. KG, München. 2009

[53] Ebd., S. 263

[54] Ebd., S. 24

[55] Meyrink, S. 106

[56] Vgl. www.gedichte.eu

[57] Meyrink, S. 99

[58] Ebd., S. 206

[59] Ebd., S. 234

[60] Vgl. Von Chamisso, Adelbert. Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Anaconda Verlag GmbH, Köln. 2007

[61] Von Chamisso, S. 18

[62] Ebd., S. 31

[63] Hoffmann-Krayer, S. 444

[64] Von Chamisso, S. 35

[65] Ebd., S. 50

[66] Ebd., S. 48

[67] Rank, S. 154

[68] Vgl. Mann, Thomas. Doktor Faustus. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 38. Aufl. 2012

[69] Mann, S. 636 f.

[70] Ebd., S. 638

Excerpt out of 78 pages

Details

Title
Die Darstellung von Schizophrenie in der Literatur. E.T.A. Hoffmann und Robert Louis Stevenson
College
University of Siegen
Grade
2,2
Author
Year
2014
Pages
78
Catalog Number
V285554
ISBN (eBook)
9783656861966
ISBN (Book)
9783656861973
File size
826 KB
Language
German
Keywords
darstellung, schizophrenie, literatur, hoffmann, robert, louis, stevenson
Quote paper
Julia Anna Jagalski (Author), 2014, Die Darstellung von Schizophrenie in der Literatur. E.T.A. Hoffmann und Robert Louis Stevenson, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/285554

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