Die Phänomenologie des Fremden und das Konzept der Responsivität nach Bernhard Waldenfels


Dossier / Travail de Séminaire, 2003

100 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung oder was ist Phänomenologie

1. Phänomenologie nach Waldenfels
1.1 Das Paradox der Fremderfahrung
1.2 Das Fremde und die Wissenschaft
1.3 Das Fremde und das Verstehen

2. Das Eigene und das Fremde
2.1 Zusammenfassung
2.2 Kritik

3. Der Raum
3.1.Zusammenfassung
3.2 Die Schwelle

4. Das Konzept der Responsivität nach Waldenfels
4.1 Zusammenfassung
4.2 Der Anspruch
4.3 Das Antworten
4.4 Zusammenfassung
4.5 Kreativität
4.6. Kritik

5. Stimmt der Erfahrungsbegriff von Waldenfels?
5.1 Sprachspiele
5.2. Begriffsanalyse, Wesensbestimmung oder Wesensbestimmung als Begriffsanalyse?
5.3. Wissen und Können
5.4. Schlussfolgerung

6. Schluss

Literatur

Einleitung oder was ist Phänomenologie

Angesichts der zunehmenden Tendenz, alles zu seinem eigenen Besten in aller »Freiheit« funktionieren zu lassen, kann die Phänomenologie nur die Rolle eines Störenfrieds übernehmen.[1]

Das Fremde durchdringt das Leben, das ich in der Welt führe; ich bin nie völlig in der Welt bei mir selbst zu Hause. Sofern die Fremdheit das Erscheinen dessen, was ist, in all seinen Formen mitbetrifft, kann man durchaus von einer transzendentalen Fremdheit sprechen.[2]

Bernhard Waldenfels hat eine Fülle von Publikationen vorgelegt, die sich u.a. in kritischer Anlehnung an Husserl, Heidegger, Scheler, Plessner, Schütz, Sartre, Merleau-Ponty, Levinas, Derrida, Foucault und kritischer Absetzung von Habermas, Gadamer, Mead oder auch Wittgenstein mit dem Thema des Fremden auseinandersetzen. Diese Arbeit hat zur Aufgabe, die zentralen Gedanken herauszuarbeiten und zu diskutieren.

In der Einleitung soll dem Leser ein erstes Vorverständnis von Phänomenologie vermittelt werden, die im Anschluss, in der Lesart von Waldenfels, im Vordergrund der Diskussion steht.

Mit der Konzeption der Responsivität, das anschließend an die Darstellung und Diskussion der Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels erörtert und gewürdigt wird, stellt sich Waldenfels die Aufgabe einer Trans­formation der phänomenologischen Konzeption der Intentionalität unter Benutzung kommunikationstheoretischer Einsichten. Darüber hinaus orientiert sich die Konzep­tion an Verhaltenstheorien, die das Verhalten als Auseinandersetzung mit der Welt und als Antwort auf weltliche und mitweltliche Herausforderungen begreifen. Allgemein kann gesagt werden, dass Waldenfels sich gegen eine Übernormierung und Überregulierung des Handelns richtet, indem er von einer leiblichen Auseinan­dersetzung des Menschen mit der Welt ausgeht. Die Konzeption der Responsivität soll als Korrektiv in eine technisch verfasste Wissenschaft eingeführt werden.[3]

Nachdem das Konzept der Responsivität entfaltet und kritisch gewürdigt wurde, werden zentrale Gedankengänge noch einmal aufgegriffen und mit Hilfe sprachanalytischer Überlegungen diskutiert.

Zunächst stellt sich die Frage, was meint Phänomenologie?[4] Der Ausdruck >Phänomenologie< bedeutet primär einen Methodenbegriff, so Martin Heidegger in Sein und Zeit: „Er charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser.“[5] Die Phänomenologie drücke eine Maxime aus: „Zu den Sachen selbst!“ Diese stehe allen freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funden, der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen usw. entgegen.[6] Heidegger bestimmt den Ausdruck >Phänomen< – im Rückgriff auf die griechische Bedeutung – als das Offenbare, als das „Sich-an-ihm-selbst-zeigende“[7]. Seiendes könne sich in verschiedener Weise, d.h. je nach Zugangsart, „von ihm selbst her zeigen“[8].

Was sollen diese eigenartigen Formulierungen wie das „Sich-an-ihm-selbst-zeigende“? Um diese Frage zu beantworten, schauen wir einmal bei dem Meister der Phänomenologie vorbei: Edmund Husserl

Husserl hat seinen Studenten immer wieder nahgelegt, man müsse alle Theorien über das Bewusstsein, alle Vormeinungen und Erklärungen beiseite lassen, um in möglichster Unbefangenheit und Unmittelbarkeit zu beobachten, was im Bewusstsein vorgeht. Und zwar jetzt und hier in meinem Bewusstsein.[9]

Ein Beispiel: Wir sehen die Sonne aufgehen. Wir wissen eigentlich, dass die Sonne nicht aufgeht, es scheint bloß so. Die Wirklichkeit ist eine andere. Mit diesem `Schein-Wirklichkeits-Schema` kann man seine ganze vertraute Lebenswelt in die Luft gehen lassen. Nichts ist, was es ist, sondern es scheint bloß so.

Der Sonnenaufgang, unwissenschaftlich betrachtet, ist, so würde uns Husserl aufklären, ein „Phänomen“ unserer Lebenswelt. Und er ist es auch dann noch, wenn ich weiß, wie es wirklich zu Stande kommt. Die Bewusstseinforschung im Sinne Husserls beobachtet die innere Ordnung der Bewusstseinsphänomene. Sie deutet nicht und erklärt nicht, sondern unternimmt den Versuch zu beschreiben, was die Phänomene „von sich her“ sind und zeigen.

Der traditionelle Dualismus zwischen „Wesen“ und „Erscheinung“ verschwindet so bzw. wir entdecken, dass es zu den Operationen des Bewusstseins gehört, eine solche Unterscheidung vorzunehmen. Das Bewusstsein ist sich auf eine sonderbare Weise dessen bewusst, was ihm in der Wahrnehmung entgeht. Und da die Phänomene alles sind, was ins Bewusstsein tritt, ist auch diese Unsichtbarkeit ein Phänomen des Bewusstseins. Das Wesen ist also nicht etwas, was „hinter“ der Erscheinung steckt, sondern es ist selbst Erscheinung. Es wird zur Erscheinung, wenn ich es denke oder wenn ich denke, dass es mir entgeht.

Husserl wollte zeigen, dass die ganze Außenwelt schon in uns da ist. Wir sind kein leerer Behälter, in den die Außenwelt hineingeschüttet wird, sondern wir sind immer schon bezogen auf etwas. Unser Bewusstsein ist demnach immer ein Bewusstsein von etwas. Es gibt kein leeres Bewusstsein, das wie ein leerer Spiegel oder ein leerer Magen wäre und dem Objekte gegenüberstehen, mit denen es seine Leere ausfüllt. Husserl ging davon aus, dass das Bewusstsein sich immer durch ein >gerichtet sein auf etwas< auszeichnet. Diese Grundstruktur des Bewusstseins nannte er Intention.

Verschiedenen Arten von Bewusstseinsvorgängen entsprechen verschiedene Arten von Intentionen, Formen des Gerichtet-Seins auf etwas. Und dabei ist es nicht so, dass bspw. ein Objekt zunächst >neutral< erfasst wird, um dann in einem zusätzlichem Akt noch >gewollt<, >gefürchtet<, >geliebt<, >begehrt< oder >bewertet< zu werden. Sondern vielmehr so, dass beim Wollen, Bewerten oder Lieben das Objekt jeweils anders gegeben ist.

Die Methodik, die Husserl entwickelt hat, nennt sich „phänomenologische Reduktion“. Dabei wird eine Wahrnehmung oder allgemein ein Bewusstseinvorgang vollzogen und die Aufmerksamkeit dabei nicht auf das Wahrgenommene, sondern auf den Vorgang der Wahrnehmung gerichtet. Man steigt also aus der Wahrnehmung aus, aber nicht vollständig, sondern nur soweit, dass man den Vollzug selbst in den Blick bekommt:

„Ich sehe einen Baum. Wenn ich das Baumwahrnehmen wahrnehme, bemerke ich, daß ich den wahrgenommenen Baum mit dem Index >wirklich< versehe. Wenn ich mir aber einen bestimmten Baum nur vorstelle oder mich an einen erinnere – was sehe ich dann? Sehe ich Erinnerungen, Vorstellungen? Nein, ich sehe Bäume, aber eben solche, die mit dem Index >Vorstellung< oder >Erinnerung< versehen sind. So viele Bäume, so viele Seinsarten. Jetzt hier gesehene Bäume, erinnerte Bäume, vorgestellte Bäume. Derselbe Baum, den ich das erste mal erfreut ansehe, weil er mir Schatten spendet, das andere Mal unter dem Gesichtspunkt mustere, ob seine Abholzung wirtschaftlich lohnend ist, derselbe Baum ist in diesen Wahrnehmungen nicht derselbe Baum. Sein Sein hat sich verändert, und wenn ich ihn in sogenannter >objektiver<, rein sachlicher Art untersuche, so ist das auch nur eine der vielen Weisen, den Baum >sein< zu lassen.“[10]

Bei der phänomenologischen Reduktion, auch „phänomenologisches Sehen“ genannt, wird die Frage danach, was denn nun der Baum >in Wirklichkeit< sei ausgeklammert. Man achtet auf die verschiedenen Weisen, wie und als was er sich dem Bewusstsein gibt. Oder genauer: wie das Bewusstsein sich bei ihm aufhält. Das Bewusstsein ist also nicht >drinnen<, sondern >draußen<, bei dem, wovon es Bewusstsein ist. Vergräbt man sich tief genug in sein Bewusstsein, dann befindet man sich unversehens wieder bei den Dingen draußen, man wird zu ihnen „hinausgeschleudert“[11]. Im Alltag achten wir auch auf Dinge, Menschen und uns selbst, aber nicht darauf, wie uns das alles in unserem Bewusstsein >gegeben< ist. D.h. dann aber auch, dass die phänomenologische Achtsamkeit auf die Welt der Bewusstseinsvorgänge einer Einstellung bedarf, die den Ansprüchen und Verwicklungen des alltäglichen Lebens widerstreitet. Deshalb habe, so Safranski, Husserl den Bruch mit der >natürlichen Welteinstellung< stets betont.[12]

Es könnte (aufgrund der groben Vereinfachungen) der Eindruck entstanden sein, dass als Phänomenologe nicht allzu viel zu tun sei. Ganz so einfach ist es, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nun aber auch nicht. Dazu gehen wir zu einem (post-)modernen Phänomenologen über, dessen Überlegungen jetzt im Vordergrund stehen sollen – Bernhard Waldenfels.

Zunächst, um den Bezug zu Husserl nicht zu verlieren, ist zu sagen, dass sich Waldenfels immer wieder auf Husserl bezieht[13], allerdings räumt er ein, dass mit dem Auftauchen des Strukturalismus in den 60er Jahren die Grundfeste der Phänomenologie ins Wanken geraten sei. D.h. die Reinheit des Sinns, die Zentrierung auf ein Subjekt, die Kontinuität der Geschichte, die Ganzheit einer einzigen Vernunft und der Mensch als Mittelpunkt dieses Geschehens.[14] Dem gemäß versucht Waldenfels, in der Grundausrichtung phänomenologisch bleibend, Anschlüsse an solche Theorien zu finden, bspw. an Michel Foucaults strukturalistische Überlegungen[15].

Die im folgenden referierten Überlegungen beziehen sich vorrangig auf vier „Studien zur Phänomenologie des Fremden“, die Bernhard Waldenfels vorgelegt hat: „Topographie des Fremden“ (TdF), „Grenzen der Normalisierung“ (GdN), „Sinnesschwellen“ (SS) und zur „Vielstimmigkeit der Rede“ (VdR)[16].

Die Thesen, Begriffe usw., die Waldenfels in diesen Studien entwickelt, werden aus unterschiedlichen Bereichen, Thematiken und Gebieten generiert und in verschiedenen Zusammenhängen erprobt, wie: Philosophiegeschichte, Lebenswelt, Xenologie, Moral, Politik, Human- und Sozialwissenschaften, Krankheit, Therapie, Eros, (das andere) Geschlecht, Leib, Sinne, Kunst und Technik, Architektur, Rede und Schrift, Zeit und Raum oder Schwellenerfahrungen.

In dieser Arbeit stellt sich nun die Aufgabe, wesentliche Aspekte, Begriffe und Thesen zur Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels herauszuarbeiten, durch das Beleuchten von unterschiedlichen Seiten verständlich zu machen aber auch kritisch zu hinterfragen, wobei gewisse Wiederholungen absichtlich erfolgen. Der Begriff des Fremden ist im Hinblick auf die Interkulturelle Kommunikation als Grundbegriff zu erachten, um dessen Reflexion ich mich aus phänomenologischer Perspektive im Nachstehenden bemühe.

1. Phänomenologie nach Waldenfels

Die Phänomenologie beschäftigt sich nach Waldenfels theoretisch mit Erfahrungen [17]. Unter Erfahrung ist phänomenologisch zu verstehen, dass sich jemandem >etwas als etwas< zeigt. Das bedeutet, dass alles, was sich zeigt, als etwas gemeint, gegeben, aufgefasst, verstanden, gedeutet oder behandelt wird. Es sind immer wiederholbare Gestalten, wiederholbarer Sinn, Strukturen und allgemeine Regeln im Spiel.[18]

Die Phänomenologie befasst sich nun aber nicht direkt mit dem, was sich zeigt (also bspw. unserem Baum), sondern indirekt, indem sie es so nimmt, wie oder als was es sich zeigt. Die Sachen selbst eröffnen sich erst über eine dritte Dimension oder Instanz. Sachgehalt und Zugangsart werden verklammert, d.h. der Bezug zu den Sachen selbst und den angestrebten Zielen wird von der Zugangsweise unterschieden und gleichzeitig beides aufeinander bezogen.[19]

Als was und wie etwas erscheint, stellt sich als Differenz dar – und zwar nach Waldenfels als signifikante Differenz. Es hebt sich ab von anderen Gesichtspunkten und ist eingebettet in Bezugsfelder. Etwas tritt hier auf und nicht dort, heute und nicht gestern, nacheinander und nicht gleichzeitig, innen und nicht außen, als dieses und nicht als jenes, als Eigenes und nicht als Fremdes, usw. usf. Damit ist auch gesagt, dass die Gesichtspunkte, unter denen sich etwas darstellt, selektiv und exklusiv sind.

Waldenfels schlägt vor, mit Husserl (1950ff) von einem „Nullpunkt“ zu sprechen, der das Hier und Jetzt, an das jede Erfahrung geknüpft ist, verdeutlichen könne. Subjektivität eines Sehenden, Handelnden oder Sprechenden werde somit aus der leibhaftigen Orientierung im Gesichts-, Handlungs- oder Redefeld gewonnen und nicht etwa aus einer psychischen Innenschau. Subjektivität lässt sich demnach an der Art und Weise ablesen, wie etwas in Sicht, zur Ausführung oder zur Sprache kommt.[20]

Unter Erfahrung sei phänomenologisch ein Geschehen zu verstehen, in dem die Sachen selbst, von denen gesprochen wird, zutage treten. Erfahrungen machen i. S. Waldenfels heißt etwas durchmachen, was einschließt, dass wir auch durch Leiden und Enttäuschungen lernen. Das Machen von Erfahrung ist kein Herstellen von Erfahrungen, sondern setze voraus, dass uns die Initiative entgleitet[21].

Mit dieser Erfahrungskonzeption möchte sich Waldenfels (u.a.) sowohl gegen einen Empirismus absetzen, der sich auf vorgefundene Tatsachen verlässt, als auch von einem Rationalismus, dessen Ausgangspunkt vorentworfene Denkschemata und Kategorien sind. Erfahrung im hier gemeinten Sinne ist demgegenüber als Prozess zu verstehen. In diesem bildet und verdeutlicht sich Sinn und nehmen die Dinge Struktur und Gestalt an. Strukturiert wird das Erfahrungsgeschehen durch die Intentionalität. Intentionalität bedeutet, wie schon erwähnt, dass uns >etwas als etwas< erscheint, also in einem bestimmten Sinn, in einer bestimmten Gestalt, Struktur oder Regel.

Damit verwiesen Erfahrungen auf Ordnungen, die in bestimmten Grenzen variieren. Die Bestimmung, dass >etwas als etwas< erscheint, schließe gleichzeitig ein, dass etwas so und nicht anders erscheint. D.h.: Jede Erfahrung sondert und schließt andere Erfahrungsmöglichkeiten aus.[22]

Das eben Genannte hebe ich als erste Grundthese von Waldenfels heraus: Jede Ordnung unterliegt bestimmten Zugangsbedingungen. D.h., wenn uns >etwas als etwas< begegnet ist diese Begegnung immer an bestimmte Ordnungen, an ein Drittes gebunden. Anders: Etwas begegnet uns als etwas immer vor dem Hintergrund bestimmter, d.h. meiner oder unserer, Sinnhorizonte und im Rahmen bestimmter Sinngefüge. Diese schließen immer Bestimmtes aus und anderes ein.

Was meint nun aber Waldenfels mit Ordnung? Unter Ordnung versteht Waldenfels lapidar: „einen geregelten, nicht beliebigen Zusammenhang von diesem und jenem, der sich aus Kontrasten, Resonanzen und Wiederholungen ergibt“[23].

Er geht weiterhin davon aus, dass wir in Ordnungen denken, leben, sprechen und fühlen. Ohne diese wäre niemand, wer er ist und wäre nichts, was es ist.[24] Unter Ordnung ist aber nichts zu verstehen, was zu dem, das uns in der Erfahrung begegnet, hinzutritt, etwa als kulturelle Zutat, sondern uns begegnet alles, was in der Erfahrung auftaucht als etwas und wer in der Erfahrung auftaucht, tut dies stets als jemand. Was oder wer in der Erfahrung auftaucht ist immer schon in Zusammenhänge stiftende Ordnungen eingelassen.[25]

Jede Ordnung habe nur einen begrenzen Geltungsbereich. Ordnungen gestatteten bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten, andere nicht.[26] Der gleichzeitigen Selektion und Exklusion folgt, „daß es bestimmte Ordnungen gibt, nicht aber eine einzige Ordnung. Diese Kontingenz begrenzter Ordnungen bildet die Vorbedingung dafür, daß es Fremdes gibt, und zwar in dem präzisen Sinne, daß etwas sich dem Zugriff der Ordnung entzieht.“[27]

Mit Kontingenz ist gemeint, dass etwas anders sein könnte oder auch anders getan werden könnte. Was anders sein oder anders getan werden könnte, verweist darauf, dass das, was ist, nicht notwendig bzw. gleich-möglich ist.[28] „Es ist jeweils mehr möglich als wirklich, und dieses Mehr begleitet die Wirklichkeit als schillerndes Schattenbild.“[29]

Ordnungsmuster sind etwa Lebenswelten, Lebensformen, Sprachspiele, Rahmenbildungen, Regelsysteme, Paradigmen und Diskurse[30]. Sie sind alle dadurch gekennzeichnet, dass sie Bestimmtes einschließen und anderes ausschließen.

Ordnungskonzepte sind Gestalt, Struktur, Textur, Geflecht, Feld oder System. Diese ließen sich in kein universales System überführen, da sie durch Differenzen wie Figur/Grund, System/Umwelt oder Drinnen und Draußen konstituiert seien. Demnach entstehen neue Gestalten und Strukturen durch Prozesse der Transformation und Abweichung. Hierbei würden stets bestimmte Möglichkeiten ergriffen, andere zurückgelassen.[31]

Dasjenige, was sich dem Zugriff einer bestimmten Ordnung entzieht, stellt also die Vorbedingung dafür dar, dass es Fremdes gibt. Wir werden später sehen, dass sich das Fremde genau durch diesen Entzug in der Erfahrung zeigt.

Nach diesem kurzen Vorgriff, wollen wir aber nochmals allgemein auf die Erfahrung zurückkommen.

Waldenfels ist es also daran gelegen, die Erfahrung, das Durchmachen von etwas, stärker zu berücksichtigen als dies in anderen Theorien aber auch in der Praxis geschieht. Um seine Konzeption besser zu verstehen, bringe ich ein einfaches Beispiel, das er selber einführt und gut verdeutlicht, wogegen sie sich richtet:

Wie bekannt, gibt es nach Watzlawick, Beavin, Jackson u.a. in der Menschliche(n) Kommunikation (1969) einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. Wir haben es weiterhin mit formalen Bestimmungen wie Information, Informationsstufe, Relation, Symmetrie und Komplementarität zu tun. Schauen wir uns die Auflösung des Gefangenparadoxons nach Watzlawick et al einmal an!

Der Gefangene hat zwei Wächter, von denen der eine immer die Wahrheit sagt, der andere immer lügt – ohne dass der Gefangene weiß, welcher der beiden der Lügner und welcher der Wahrsprecher ist. Er soll nun mit einer Frage herausbekommen, welche der beiden Gefängnistüren offen und welche geschlossen ist. Und er tut es, der Leser wird sich erinnern können, indem er den einen Wächter fragt, was der andere sagen würde. Der Beziehungsaspekt wird zur Metainformation.

Waldenfels moniert, dass eine Gesprächsdynamik – die sich bspw. aus einer Deutung der Sprechakte als Mitteilung, Vorwurf, Sichaufspielen, Annährungsversuch oder den mitthematisierten Bestimmungen der Positionen als Freund, Konkurrent, Vorgesetzter, Mann/Frau etc. und einem daraus entstehenden Deutungsstreit speist – über diesen theoretischen Ansatz wegformalisiert wird. Das Was der Erfahrung wird mit Formeln überfallen und eingeebnet. Die Frage wird reduziert auf Informationsbeschaffung, der Angeredete wird zur Informationsquelle, Unwahrheit zur Falschinformation, usw. usf.

Allerdings, darauf weist Waldenfels ausdrücklich hin, ist nicht das Modell, sondern seine Handhabung zu kritisieren.[32]

Allgemein kann gesagt werden, dass Waldenfels sich mit seiner Konzeption gegen eine Übernormierung und Überreglung des Handelns richtet, indem er von einer leiblichen Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt ausgeht[33].

Sein Grundbegriff des Fremden soll ein Korrektiv gegenüber diesen Tendenzen darstellen. Die Phänomenologie nehme Züge einer Fremdheitslehre an, die sich mit der Fremdheit der Welt zu beschäftigen habe, der natürlichen, kulturellen und sozialen Welt.

Wir sehen, dass wir es mit einem nicht ganz unbescheidenen, wenn auch für die Philosophie nicht ungewöhnlichen Anspruch zu tun haben. Aneignung, Anpassung, Selbsterhaltung, Verarbeitung, usw. werden als Formen eines Umgangs mit dem Fremden verstanden werden.[34]

„Angesichts der zunehmenden Tendenz, alles zu seinem eigenen Besten in aller >Freiheit< funktionieren zu lassen, kann die Phänomenologie nur die Rolle eines Störenfrieds übernehmen.“[35] Und so kann es dann auch heißen, und damit ist der Anspruch des Kommenden markiert:

„Das Fremde durchdringt das Leben, das ich in der Welt führe; ich bin nie völlig in der Welt bei mir selbst zu Hause. Sofern die Fremdheit das Erscheinen dessen, was ist, in all seinen Formen mitbetrifft, kann man durchaus von einer transzendentalen Fremdheit sprechen.“[36] An anderer Stelle heißt es, dass die Diagnose der Moderne in eine weit gefasste Phänomenologie des Fremden übergeht[37].

Wir können also erst einmal festhalten, dass das, was unter dem Begriff[38] >das Fremde< von Waldenfels eingeführt wird, in einem enorm weiten Sinne zu denken ist.

Wir werden jetzt die Vorstellungen von Waldenfels herausarbeiten. Dazu werden wir sehr vorsichtig, tastend vorgehen müssen, da wir vermeiden wollen, die Fremderfahrung – und ich bitte den Leser dies zunächst in dem einfachen Sinne, dass wir etwas als fremd erfahren, zu verstehen – theoretisch oder praktisch einzuebnen. Dies ließe sich nur vermeiden, wenn sich „die Stellung des Fremden in der Erfahrung und dementsprechend auch unsere Einstellung zum Fremden (...) ändert“[39]. Soll die Fremderfahrung nicht zunehmend aneignend sein, was schlussendlich ja heißt, dass das Fremde nichts Fremdes mehr sein kann, so müssen wir uns zunächst von der Annahme verabschieden, dass das Fremde etwas wäre, das sich besprechen lässt oder prinzipiell verständlich ist. Wir können also nicht nach dem Motto vorgehen: etwas erscheint mir als fremd, ich kenne es nicht und verstehe es nicht, also versuche ich es zu verstehen oder ignoriere es einfach, sondern die „Erscheinung“, das Bemerkbarmachen, die Erfahrung des Fremden interessiert uns erst einmal vorrangig. Erst aus dieser erwächst ein bestimmter Umgang mit dem Fremden, der durchaus Ignoranz, Aneignung, Überwindung und dergleichen bedeuten kann.

Mit Fragen danach, was das Fremde ist und wozu es gut ist, wäre der Weg zur Aneignung schon beschritten. Keine Frage, das sind eigenartige Ausgangsvorrausetzungen, wenn wir über etwas sprechen wollen, was sich eigentlich nicht besprechen lässt. Waldenfels versucht es deshalb mit einer indirekten Rede und durch den Versuch, anders und nicht bei uns selbst zu beginnen. Diesem Versuch wollen wir nachgehen.

Allerdings ist zuzugestehen, das diese Ausgangsvoraussetzungen mit einem Darstellungsproblem einhergehen. Die Termini wie Fremdheit, das Fremde usw., die ich ja schon genutzt habe, entziehen sich einer klar zu fassenden Bestimmtheit. Aus diesem Grunde bemühe ich mich, sie immer wieder in anderen Zusammenhängen zu verdeutlichen, was aber auch einschließt, dass ich nicht mit klaren, was immer das heißt, Begriffsbestimmungen anfänglich agieren kann. Eingangs wird es gut sein, wenn der Leser sich erst einmal selbst befragt, was er unter solchen Ausdrücken verstanden haben wissen will und wie, wann, wo oder auch wozu er sie verwendet.

1.1 Das Paradox der Fremderfahrung

Zunächst stellt sich die Frage, wie denn überhaupt die Frage nach dem Fremden zu stellen ist. D.h., wo ist der philosophische bzw. phänomenologische Ausgangspunkt der Überlegungen zu nehmen, wenn eine Aneignung oder Überwindung des Fremden vermieden werden soll.

Wir fragen nicht: Was ist das Fremde? – Durch diese Frage wäre das Fremde schon in eine bestimmte Ordnung einbezogen. Aber auch nicht: Wie erkenne ich das Fremde? Denn damit wäre schon vorausgesetzt, dass es Fremdes gibt, das sich einem Erkennen zuführen lässt oder auch nicht.[40] Sondern unser Ausgangspunkt, den ich zugleich als zweite Grundthese hervorheben möchte, besteht in einem Paradox:

Die paradoxe Bestimmung des Wesens des Fremden wird durch Husserl – die sich Waldenfels entlehnt und in verschiedenen Zusammenhängen variiert – als „bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ gegeben[41].

Dies bedarf einer Erläuterung: Die Fremdheit bestimmt sich nach Husserl durch die Art ihrer Zugänglichkeit. Alles Seiende, dementsprechend auch das Fremde, lässt sich nicht ablösen von seiner Weise der Gegebenheit und des Zugangs, somit auch nicht von einer Örtlichkeit. „Bei der Bestimmung der Phänomenalität der Phänomene sind Was, Wie und Wo nicht voneinander zu trennen, so wie Nähe und Ferne auch aus dem Prozeß sachlicher Veranschaulichung nicht wegzudenken sind.“[42]

Die Denkfigur der zugänglichen Unzugänglichkeit lässt sich über den Ordnungsbegriff spezifizieren: Die Zugänglichkeit des Unzugänglichen hängt von bestimmten Zugangsbedingungen ab. Von bestimmten Ordnungen also, die jenes erschließen und jenes verschließen. Sobald wir uns etwas zugänglich machen, machen wir uns gleichzeitig anderes unzugänglich. Deswegen können wir sagen: „ So viele Ordnungen, so viele Fremdheiten. Das Außer-ordentliche begleitet die Ordnungen wie ein Schatten.“[43]

Nach Waldenfels lässt sich das Paradox vielfältig anwenden, bspw. auf die Begegnung mit fremden Personen oder die Konfrontation mit fremden Kulturen. Die Fremdheit nimmt primär die Form eines Sinn entzugs an, d.h. einer Unverständlichkeit oder Unvertrautheit.[44]

Ich fasse zusammen: Wir hatten in der ersten Grundthese gesagt, dass alles, was wir erfahren, an eine bestimmte Ordnung gebunden ist. Somit auch das Fremde, aber auf eine besondere Weise: Da Ordnungen, die unsere Erfahrungen strukturieren, kontingent sind, also niemals alles umfassen, was wir erfahren, ist genau dieses graduelle Nicht-Greifen der Ordnung dasjenige, was wir als fremd erfahren. Wir können auch sagen: Das Fremde sind alle durch eine jeweilige Ordnung ausgeschlossenen Möglichkeiten. Es sind Kontingenzerfahrungen, die bei Waldenfels, wenn ich ihn richtig verstehe, den Hintergrund aller Erfahrungen bilden, die das Fremde ausmachen. Das Fremde zeigt sich als etwas, einen Zugang, nämlich als Unzugängliches, als sich unseren Sinnordnungen in unterschiedlichen Graden Entziehendes. Wir haben also einen Zugang zum Fremden, nur dass dieser Zugang uns gleichsam durch einen Entzug aufweist, dass das Fremde unzugänglich ist (zweite Grundthese).

1.2 Das Fremde und die Wissenschaft

Dass die Phänomenologie die Erfahrung in der Wissenschaft stärker gewichtet sehen möchte, haben wir oben schon angesprochen. Jetzt soll das damit zusammenhängende Problem auf unser Thema, das Fremde, zugespitzt werden.

Im nächsten Abschnitt (1.3) wenden wir uns dem Zweifel von Waldenfels gegenüber der (hermeneutischen) Vorstellung zu, die ja auch viele psychologische Theorien unhinterfragt durchzieht, nämlich, dass das Fremde durch Verstehen zu überwinden sei. Ich erinnere hier nur an Begriffe wie Selbstentfremdung, Empathie, Klärung, Autonomie usw.[45]

Waldenfels weist darauf hin, dass die Fremdheit keine Eigenschaft von Gegenständen ist, die man beobachtet, benennt oder analysiert. Eine Gegenstandsbestimmung würde das Fremde bereits zu einem noch nicht Bekannten, Erklärten oder Verstandenen machen. Das heißt aber auch, dass das Fremde in einer normalen Objektwissenschaft gar nicht vorkommen kann. Die Xenologie, als Wissenschaft vom Fremden, würde sich bspw. mit einer Bestimmung ihres Gegenstandes, eben dem Fremden, zunehmend selbst auflösen. Fremdes würde es zunehmend nicht mehr geben.

Das Wort >fremd< lässt sich nur relational verwenden: x ist fremd für y. Es lässt sich aber auch nur okkasionell gebrauchen: Etwas ist von Fall zu Fall fremd. Und schließlich braucht Fremdes den Kontrast zum Eigenen, welches sich eingrenzt, indem es anderes ausgrenzt.

Die Fremdheit Afrikas, die ein Europäer erfährt bzw. die Fremdheit Europas, die ein Afrikaner spürt, ist nicht zu vertauschen mit der Verschiedenheit von Sonne und Mond, die ein neutraler Himmelsbeobachter feststellt. Fremderfahrung besteht nach Waldenfels darin, dass mir oder uns etwas begegnet, indem es sich entzieht. Erst dieser Entzug charakterisiert das Fremde als Fremdes.[46]

Das eine Sache anders als eine andere ist, also Andersheit, bildet sich vor den Augen eines Dritten. Eines wird jeweils vom anderen abgegrenzt, so etwa Sonne und Mond.[47] Die Verschiedenheit ist jedoch keine Fremdheit, denn Fremdheit setzt einen Eigenbereich und ein Selbst voraus, „dem etwas begegnet, indem es sich zugleich seinem Zugriff, seinem Blick, seinem Verständnis entzieht.“[48]

Die Muttersprache bspw. kann man zwar als Sprache unter anderen betrachten, etwa in Sprach- und Kulturvergleichen, doch das Betrachten von Sprache oder Kultur als eine unter anderen bringe die Differenz zwischen Eigenem und Fremdem zum Verschwinden und unterziehe das einem Vergleich, „was in actu unvergleichlich ist“[49].

Eigenes und Fremdes zeichneten sich, so Waldenfels, durch eine Unvergleichlichkeit aus, allerdings nicht im Sinne einer gänzlichen Verschiedenheit bspw. von Sprachen oder Lebensformen, denn dies feststellen, hieße ja bereits vergleichen[50]. Unvergleichlichkeit in der Fremderfahrung meine etwas anderes, „nämlich daß das Fremde als Fremdes jedem Vergleich entrückt ist, eben weil es gar nicht etwas ist, das wir vorwegnehmen, erwarten, erfassen oder bestimmen können.“[51]

Wenn wir das Fremde nicht so fassen würden, wären wir schon auf dem Weg der Aneignung. Als planbares, noch nicht angeeignetes, bewältigtes oder unbestimmtes Etwas wäre das Fremde bereits in Eigenes verwandelt.

Also, das Fremde lässt sich nirgends anders „beobachten“ als in der Erfahrung – es gibt nichts, was an sich fremd wäre – und zwar in der paradoxen Form der zugänglichen Unzugänglichkeit, im Sinn- und Verstehensentzug, wie wir es in unserer zweiten Grundthese festgelegt hatten. Erfahrung machen heißt etwas durchmachen, d.h. direkt mit etwas konfrontiert sein. Erfahrungen sind somit immer an ein Hier und Jetzt gebunden und setzen ein Selbst, ein Eigenes voraus, das sich durch bestimmte Ordnungen konstituiert. Da diese Ordnungen, indem sie diese oder jene Erfahrung ermöglichen, andere mögliche Erfahrungen ausschließen, d.h. kontingent sind, ist es möglich, dass wir mit etwas konfrontiert werden, das sich unseren Sinnhorizonten entzieht, fremd ist. – Das war es ja im wesentlichen, was wir als erste Grundthese festgehalten hatten. In der normalen Objektwissenschaft, wie sie Waldenfels versteht, stehen wir unseren Gegenständen sozusagen relativ unbeteiligt gegenüber: wir interpretieren, deuten, diagnostizieren usw. aus der Perspektive eines in die Geschehnisse nicht unmittelbar verstrickten Dritten, aus einer etablierten Erfahrungsordnung. Wir würden somit eine Position bzw. Rolle des die Geschehnisse Überschauenden einnehmen, die das u.U. konfrontative Erleiden der Fremderfahrung, bspw. des Sinnentzugs, verunmöglicht.

Eine dritte Grundthese ist somit: Da das Fremde nur in der Erfahrung zugänglich ist, ist immer ein Ich, Selbst oder, wie wir auch sagen können, Eigenes notwendig, das mit dem Sinnentzug – dem Versagen der Ordnung –, durch den das Fremde sich zeigt, hier und jetzt konfrontiert ist. Für einen außenstehenden Beobachter, der bspw. registriert, dass jemand mit diesem oder jenem konfrontiert ist und gegebenenfalls verwirrtes oder irritiertes Verhalten zeigt, ist in dem hier gemeinten Sinne das Fremde nicht erfahrbar. (Es sei denn, der Beobachter wird durch die Beobachtung selbst in die Erfahrung eines Sinnentzugs gerissen und damit aus der Rolle des Dritten, aus angewandten Sinnbezügen.)

1.3 Das Fremde und das Verstehen

Waldenfels behauptet, dass die polare Ergänzung von Vertrautheit und Fremdheit eine vermittelnde Ganzheit voraussetzte, innerhalb der sich Eigenes im Fremden und Fremdes im Eigenen wiederfinden ließe. Diese Teilhabe am Ganzen sei wie ein vorgängiges Einverständnis: Was noch nicht oder noch nicht völlig verständlich ist, bleibt der Verständlichkeit zumindest offen. Die Überwindung der Fremdheit, so könnte ein Anhänger dieser Position argumentieren, geschieht doch immerzu – so wenn wir beim Gespräch oder beim Lesen etwas verstehen. Die Fremdheit ist nicht unüberwindlich und prinzipiell verständlich. „Es handelt sich lediglich um eine relative Fremdheit für uns, nicht um eine Fremdheit in sich selbst.“[52]

Fremdheit bedeutet unter diesen Voraussetzungen Missverständlichkeit oder Unverständlichkeit.

Beim Missverständnis zeigt sich immer erst hinterher, dass ein solches vorliegt. Eine Äußerung wird anders verstanden, als sie zu verstehen ist. Beim Unverständnis ist die Verständlichkeit selbst in Gefahr und nicht nur eine ihrer Facetten. Die Unverständlichkeit beschränkt sich nun aber nicht nur darauf, dass eine Äußerung unsinnig, widersinnig oder falsch ist. So ist bspw. die Rede vom viereckeigen Kreis nicht unverständlich, denn sie setzt einen Sinn voraus, den sie durchstreicht. Erst wenn unsere Bemühungen zu verstehen gehemmt sind und wir nicht weiterkommen, setzt die Unverständlichkeit ein. Wir kennen uns nicht aus und finden uns nicht zurecht.

Gehen wir von der Annahme aus, dass es mehr als eine relative Unverständlichkeit gibt, entpuppt sich die Überwindung des Fremden durch Verstehen als Gewaltakt. Das Fremde als das relativ Unverständliche wäre ein Durchgang. Der Wille zu Wissen als Fragebestreben oder als Streben nach Wissen führt in der gefundenen Antwort zu sich selbst zurück.[53]

Anders: Räumen wir mit Waldenfels ein, dass es ein in sich Unverständliches gibt, dann wäre das Verstehen eine Selbsttäuschung, würde dem Fremden nicht gerecht und würde etwas, was als in sich nicht zu Verstehendes erfahrbar ist, in Ordnungen, Regeln und Strukturen zwingen, deren Kehrseite, deren Schatten es ist. Die Annahme des Los- und Lediggewordenseins bzw. der Möglichkeit des Los- und Ledigwerdens des Schattens, sozusagen, wie man sich auch dreht und windet, ist illusorischer und schimärischer Art. Wir können Fremdes lernen, verstehen, uns aneignen usw., aber, so würde Waldenfels opponieren, eben nicht generell.

Auch das Fragen erweise sich als selektiv und exklusiv – Fragliches wird von Fraglosem getrennt. Was nicht zur Sprache kommt, ist nicht unverständlich, sondern es übertritt die Schwelle des Gesprächs nicht. Das Fremde i.S. Waldenfels wäre in diesem Fall das vom Gespräch Ausgeschlossene. „Es verweist auf Zugangsbedingungen, die nicht etwa darüber befinden, welchen Sinn eine Sache hat, sondern darüber, welcher Sinn sich durchsetzt.“[54] Waldenfels spricht von Frageordnungen, d.h. vereinfacht und in meinem Verständnis, in welchen Variabilitätsbereichen kann diese oder jene Frage als seriöser Sprechakt, so oder so gestellt werden – damit bspw. ein Sprecher, der jemand im institutionellen Kontext des Rechts verhört, ernstgenommen wird – und welche Möglichkeiten des Fragens werden ausgeschlossen – bspw. Möglichkeiten in einer empirischen Wissenschaft zur Gegenstandsbefragung[55]. Hier kommen Machtfragen ins Spiel.

Der Versuch, den Waldenfels unternimmt, besteht darin, die Unverständlichkeit als Grenze der Verständlichkeit zu fassen. Diese Grenze sei nun aber keine vorläufige, sondern eine unaufhebbare. Sie ließe sich verschieben aber nicht tilgen.[56]

Wir haben es hier mit einer Abwandlung dessen zu tun, was ich oben als erste Grundthese bezeichnet habe: „jeder Sinn und jede Form der Verständlichkeit (bleibt) an bestimmte Lebensformen und Weltordnungen gebunden, die sich ihrerseits als selektiv und exklusiv erweisen.“ [57]

[...]


[1] Waldenfels 1998, 45

[2] Waldenfels 1997, 79

[3] Vgl. Waldenfels 1994, 14 und 332 sowie 1998, 99

[4] Hier wird selbstverständlich keine vollständige Antwort auf die Frage zu geben beansprucht, sondern nur versucht, einen Einstieg in die Phänomenologie von Waldenfels zu erleichtern. Bestimmte Wendungen in der phänomenologischen Arbeit von Husserl oder Unterschiede zwischen bspw. Husserls und Heideggers Phänomenologieverständnis werden hier nicht berücksichtigt. Für eine Übersicht in die weitverzweigte phänomenologische Entwicklung empfehle ich: B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie, Wilhelm Fink Verlag, 1992

[5] Heidegger, Sein und Zeit, S.27

[6] Vgl. ebd., S.27f

[7] Ebd., S.28, Hervorhebung getilgt

[8] Ebd.

[9] Sepp 1988, zitiert nach Safranski 1997, S.92

[10] Safranski 1997, S.94

[11] Sartre 1936, zitiert nach Safranski 1997

[12] Vgl. Safranski 1997, S.92ff

[13] Alle Bezugnahmen meinerseits auf Husserl sind im Folgenden den Schriften von Waldenfels entnommen und werden nur mit dem entsprechenden Erscheinungsdatum gekennzeichnet.

[14] Vgl. Waldenfels 1992, S.130

[15] Leider verbleibt es in den mir vorliegenden Schriften nur bei Andeutungen, d.h. wie Phänomenologie und bspw. Foucault zusammen zu denken sind bleibt weitgehend unbeantwortet. Nun ist es nicht zu bestreiten, dass Waldenfels tendenziell eine andere Phänomenologie vertritt, wie die, gegen die sich Foucault in Die Ordnung der Dinge wendet: „Wenn es aber ein Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der (man könnte ihn, ganz allgemein gesagt, den phänomenologischen Weg nennen), der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt – kurz, der zu einem transzendentalen Bewußtsein führt.“ (Foucault 1969, zitiert nach Kögler 1994, S.30). Aber er verlässt sich offenbar schlicht darauf, dass seine Leser ein bestimmtes Verständnis bspw. des Diskursbegriffs von Foucault mit ihm teilen. Und das ist, schaut man sich einmal in der kontroversen Debatte um Foucault oder auch in seinen Schriften um, eine recht gewagte Unterstellung. So wäre es bspw. interessant, die Vorstellungen, die Waldenfels zur Leibthematik entwickelt, mit dem historischen Verständnis Foucaults der Körper- und Leibtechniken zu konfrontieren. Dieses sich in den mir vorliegenden Schriften von Waldenfels durchziehend „offenlassende“ Manko kann ich allerdings in dieser Arbeit nicht überbrücken. Aber festzuhalten bleibt bereits an dieser Stelle: Strukturalistische Theorien, i.S. von Erklärungen formaler Prinzipien, die ja nun – zumindest in ihren extremen, ob nun atomistischen oder holistischen, Varianten und den damit zusammenhängenden „metaphysischen“ Implikationen – ohne Erfahrungen, Bewusstsein, Ich, Selbst und dergleichen auszukommen beanspruchen, in die an ein Hier und Jetzt gebundenen leiblichen Erfahrungen, die immer, wie Waldenfels einräumt, an Ordnungen gebunden seien, zu verlegen, ist m.E. zu einfach und theoretisch unbefriedigend. Wie wir später sehen werden, ergeben sich aus dieser Unbestimmtheit der Überlegungen von Waldenfels folgenreiche Unschärfen und Widersprüche.

[16] Für die häufig zitierten Studien verwende ich die in Klammern gesetzten Kürzel.

[17] Zur Ergänzung: An anderer Stelle heißt es, die Phänomenologie beschäftige sich mit dem Wechsel von Perspektiven, Auffassungen und Einstellungen und ließe sich als „Lehre von den Gesichtspunkten“ bestimmen (GdN, S.50). Von Bewusstsein, wie bei Husserl, ist nicht mehr die Rede.

[18] Vgl. VdR, S.121

[19] Vgl. GdN, S.50

[20] Vgl.GdN, S.21f

[21] Vgl. ebd., S.173

[22] Vgl. TdF, S.19f

[23] SS, S.183

[24] Vgl. VdR, S.180f

[25] Vgl. Waldenfels 2001, S.63

[26] Vgl. TdF, S.20

[27] Ebd., Hervorgehoben von mir

[28] Vgl. VdR, S.173

[29] Ebd., S.175

[30] Ich möchte anmerken, wenn auch nicht weiter ausführen, dass sich zumindest die Begriffe Paradigma, i.S. Kuhns, und Diskurs, i.S. Foucaults, auf die wissenschaftlich interne Erfahrungsorganisation beziehen, in der sich ein Wissenschaftler (zumeist) implizit bei der Methodenwahl oder Gegenstandsbeurteilung bewegt. Man sollte die Begriffe, entgegen der Praxis, nicht ungeprüft auf alle gesellschaftlichen Erfahrungsbereiche ausweiten.

[31] Vgl. GdN, S.56

[32] Vgl. ebd., S.26

[33] Vgl. Waldenfels 1994, S.14

[34] Vgl. GdN, S.44f. Waldenfels denkt Fremderfahrung (Anspruch) und Umgang (Antworten) durchgängig zusammen. Da er immer wieder betont, dass der Anspruch vor dem Antworten komme, habe ich aus Darstellungsgründen die Erfahrung an den Anfang dieser Arbeit gestellt, was aber mit der Gefahr einhergeht, den Eindruck zu erwecken, als ob die kontemplativ passive Wesensschau, die Zeit und Muße hat, später in einen („passiven“) Aktionismus umschlägt. – Davor sei gewarnt. Allerdings ist dieser Eindruck m.E. nicht gänzlich falsch, wird aber in dieser Arbeit nicht weiter kritisch geprüft.

[35] Ebd., S.45

[36] TdF, S.79

[37] Vgl. Waldenfels 2001, S.37

[38] An einer Stelle heißt es zwar, die Fremdheit sei kein Begriff, sondern kontextuell und von vornherein im Plural zu denken, wegen des Bezugs zu Ordnungen. Eine Theorie des Fremden würde der Sache widersprechen wie auch eine Theorie des Antwortens. Ich werde aber dennoch von Begriffsbestimmungen ausgehen, da diese Aussage so nebulös ist, dass ich sie nicht nachvollziehen kann. (Waldenfels, Gespräch mit Bernhard Waldenfels 2001, S. 431)

[39] TdF, S.50f

[40] TdF, S.25

[41] Husserl 1950ff, zitiert nach Waldenfels, TdF, S.25

[42] Waldenfels, TdF, S.26

[43] Ebd., S.33. In diesen Sätzen wird (mit fraglichen Schlussfolgerungen) Bezug auf Foucaults Diskursbegriff genommen, der hier nicht ausgebreitet werden kann.

[44] Vgl. VdR, S.88

[45] Waldenfels richtet sich m.E. gegen alle Theorien, ob nun des Seins oder des Werdens, die meinen es gebe ein prinzipielles sich oder andere Verstehen, ein vollständiges bei sich oder bei anderen Sein, eine prinzipielle Verständlichkeit der eigenen Kultur oder fremder Kulturen, ein totales Sichwiedergewinnen des sich von was auch immer fremd gewordenen Menschen oder, allgemein gesprochen, der Welt. Deshalb scheint es für Waldenfels auch unerheblich, ob entsprechende Theorien den Begriff des Fremden oder der Erfahrung des Fremden im phänomenologischen Sinne überhaupt kennen. Dies wird deutlich, wenn er von „verleugneten Erfahrungen“ (GdN, S.24) spricht.

[46] Vgl. VdR, S.127f

[47] Vgl. GdN, S.177

[48] Ebd., S.177

[49] VDR, S.179

[50] Vgl. TdF, S.76

[51] Ebd., S.76, Hervorgehoben von Waldenfels

[52] VdR, S.71

[53] Vgl. ebd., S. 70ff

[54] VdR, S.76

[55] Dem Leser wird ebenfalls aufgefallen sein, dass man sich so in eine Aporie verstrickt, da das Fragen nach den ausgeschlossenen Fragen eben auch ein Fragen ist und andere Fragemöglichkeiten (oder auch die Möglichkeit nicht zu fragen) ausschließt – infinite Iteration des Fragens. Soweit ich sehe, laufen alle diese formalen Spielerein oder auch formalistischen Argumente, insofern sie nicht befreit von jedem Zweck, kritischem Eingriff in die Praxis oder auch Sinn leer mit sich selber spielend als logische Fingerübungen daherkommen, darauf hinaus, was Bertolt Brecht in so wunderbar einfache Fragen (eine Frageordnung) gepackt hat: Wem nützt der Satz? Wem zu nützen gibt er vor? Zu was fordert er auf? Welche Praxis entspricht ihm? Was für Sätze hat er zur Folge? Was für Sätze stützen ihn? In welcher Lage wird er gesprochen? Von wem? Der institutionelle Rahmen sollte also Beachtung finden. Dass es gerade diese Problematik, allgemein die Legitimationsproblematik, ist, auf die Habermas mit seiner Diskursethik versucht zu antworten, scheint Waldenfels, obwohl er sie in anderen Zusammenhängen kritisiert, gar nicht zu sehen.

[56] Vgl. VdR, S.75ff

[57] Ebd., S.81

Fin de l'extrait de 100 pages

Résumé des informations

Titre
Die Phänomenologie des Fremden und das Konzept der Responsivität nach Bernhard Waldenfels
Université
Neisse University Görlitz  (Kommunikationspsychologie)
Cours
Interkulturelle Kommunikation
Note
1,0
Auteur
Année
2003
Pages
100
N° de catalogue
V28701
ISBN (ebook)
9783638304061
Taille d'un fichier
1057 KB
Langue
allemand
Annotations
Die Phänomenologie des Fremden und des Weiteren das Konzept der Responsivität nach Bernhard Waldenfels werden vorgestellt, diskutiert und mit Hilfe sprachanalytischer Überlegungen (Wittgenstein, Tugendhat, Ros) kritisch gewürdigt.
Mots clés
Phänomenologie, Fremden, Konzept, Responsivität, Bernhard, Waldenfels, Interkulturelle, Kommunikation
Citation du texte
Arndt Keßner (Auteur), 2003, Die Phänomenologie des Fremden und das Konzept der Responsivität nach Bernhard Waldenfels, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28701

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