Frauendarstellungen in Peter Handkes Erzählungen "Wunschloses Unglück" und "Die linkshändige Frau"

Ein Vergleich


Term Paper (Advanced seminar), 1998

24 Pages, Grade: 1,2


Excerpt


Inhalt

1. Reales Geschehen und fiktive Welt: Handkes Schreibmotivation

2. Namengebung und sozio-kultureller Hintergrund der Frauenfiguren
2.1 Lebensumstände als Relikte des 19. Jahrhunderts
2.2 „Middle Class“ Perfektion des 20. Jahrhunderts

3. Minimalvoraussetzungen der Emanzipation
3.1 Eigentum als „verdinglichte Freiheit“
3.2 Bildung und Ausbildung als Grundlage der Existenz
3.3 „Ein Zimmer für sich allein“

4. Kommunikation und zwischenmenschlicher Bereich
4.1 Sprachliche Kommunikation mit der Vaterfigur
4.2 Sprache und Rollenverhalten in Männerbeziehungen
4.3 Rückzug zur Einsamkeit

5. Handkes Rolle als Erzähler
5.1 Gratwanderung zwischen Identifikation und Distanz in „Wunschloses Unglück“
5.2 Filmische Darstellung in „Die linkshändige Frau“

6. „Die linkshändige Frau“ - ein Schritt zur Bewältigung „wunschlosen Unglücks?“

7. Literaturverzeichnis

1. Reales Geschehen und fiktive Welt: Handkes Schreibmotivation

Peter Handkes Erzählung „Wunschloses Unglück“ nimmt den Tod seiner Mutter Ende des Jahres 1971 zum Anlaß, der Geschichte dieser in den starren Formen österreichisch-kleinbürgerlichen Lebens verhafteten Frau nachzuspüren. Der Autor geht dabei von der lapidaren Zeitungsmeldung unter der Rubrik „Vermischtes“ aus, durch welche in dürren Worten vom Selbstmord der 51jährigen Hausfrau berichtet. Gleichsam als Gegenposition hierzu steht der Entschluß Handkes, ihre wahre Lebensgeschichte als eine Darstellung der sie prägenden äußeren Bedingungen und inneren Zwänge niederzuschreiben. Handkes Versuch, sich durch den Prozeß des Schreibens auch vom eigenen Entsetzen zu befreien, stellt sich am Ende als erfolglos heraus. Der Erzählzusammenhang löst sich in Erinnerungsfetzen und Assoziationen auf, am Ende steht der Vorsatz: „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“[1]

Vier Jahre nach Herausgabe der biographisch-autobiographischen Erzählung „Wunschloses Unglück“ erscheint 1976 Handkes Erzählung „Die linkshändige Frau“, die aus dem Drehbuch zum gleichnamigen, 1977 fertiggestellten Film hervorgegangen ist.[2] Es ist die Emanzipationsgeschichte einer Frau, die von einem Tag zum anderen ihre Ehe aufgibt, um zu ihrem Selbst zu finden. Im Gegensatz zum vorher genannten Werk handelt es sich hier jedoch um eine rein fiktive Frauengestalt, zu der Peter Handke nach eigenen Aussagen deshalb die geistige Energie habe aufbringen können, weil er „Wunschloses Unglück“, und damit die Lebens- und Todesbeschreibung seiner Mutter hinter sich hatte.[3]

Ein direkter Gegensatz zwischen den Hauptcharakteren der beiden Erzählungen wird offenbar: Die linkshändige Frau darf am Ende nicht als Verliererin oder Opfer dastehen. Der Autor selbst stellt diesen Zusammenhang zwischen den beiden Frauendarstellungen her: „Ich hatte das Bedürfnis, diese geträumte Frau leben und überleben zu lassen. Ein Bedürfnis, das begründet ist in meinen eigenen Gewißheiten und in meiner eigenen Schuld. Beim Tod eines Verwandten, glaube ich, fühlt man sich immer auf metaphysische Art und Weise schuldig; ich möchte von dieser ewigen Schuld sprechen, die einem das Gefühl vermittelt, eine bessere Welt zu entwerfen als die erlebte Welt.“ Handke erschafft die Frauenfigur Marianne nach dem Bild traditioneller Helden in Western- oder Kriminalgeschichten. Diese Helden haben eine gefährliche Situation überstanden, eine große Erfahrung gemacht oder ein Rätsel gelöst. Am Ende kehren sie nach Hause zurück und finden „zu einer ewigen Ruhe“.[4] Auch Handkes Heldin Marianne erlebt ihre existentielle Herausforderung und soll sich nach Handkes Vorstellungen am Ende, wie der Westernheld, entspannt im Schaukelstuhl zurücklehnen.

Aus dieser von Peter Handke selbst vorgenommenen Kontrastierung der beiden Frauengestalten in „Wunschloses Unglück“ und „Die linkshändige Frau“ ergibt sich die Frage, welche weiteren Gegensätze und welche Parallelen in den Lebensumständen und Persönlichkeiten der Hauptfiguren sichtbar werden. Inwiefern gleichen oder unterscheiden sich Lebenskampf, Wünsche und Entwicklungen der realen und der fiktiven Person, und durch welche Darstellungsformen gelingt es dem Autor, seine Intentionen zu verwirklichen?

2. Namensgebung und sozio-kultureller Hintergrund der Frauenfiguren

2.1 Lebensumstände als Relikte des 19. Jahrhunderts

Von schon fast banaler Offensichtlichkeit ist die Namensgleichheit der beiden Figuren: Handkes Mutter hieß Maria, die „linkshändige Frau“ Marianne. Auch in anderen Texten verwendet Handke gelegentlich Namen aus seinem direkten familiären Umfeld, wie zum Beispiel den seines im Krieg gefallenen Onkels Gregor, der in der Erzählung „Der kurze Brief zum langen Abschied“ und in dem Theaterstück „Über die Dörfer“ wiederkehrt. Die Vermutung liegt nahe, daß der Autor nicht aus Phantasielosigkeit auf bestimmte Namen zurückgreift, sondern den dargestellten Figuren erwünschte oder tatsächliche Eigenschaften der authentischen Personen zuordnet. Hier könnte Handkes Absicht deutlich werden, dem mißlungenen Suchen der Mutter nach Identität und Selbstverwirklichung durch Schaffen der „Linkshändigen Frau“ eine andere, erfolgreichere Variante entgegenzusetzen.

Handkes Mutter entstammt einer Familie von recht- und besitzlosen Kleinbauern und Handwerkern und wird 1920 in Griffen/Kärnten geboren.. Die damaligen Besitzverhältnisse entsprechen, laut Handke, praktisch denen „von vor 1848, gerade, daß die formelle Leibeigenschaft aufgehoben war.“ (WU S. 13) Die Bevölkerung lebt in ärmlichen Verhältnissen auf gepachtetem Grundbesitz, der adeligen Grundbesitzern oder der Kirche gehört. Handkes Großvater ist der erste in vielen Generationen geduldeter und geknechteter Landarbeiter, der auf einem eigenen kleinen Anwesen aufwachsen kann. Grund dafür ist, daß der Großvater unehelicher Sohn einer recht wohlhabenden Bauerntochter ist, welche daraufhin die Mittel für den Kauf eines kleinen Anwesens erhält. Von diesen Voraussetzungen auf eine gewisse materielle und geistige Unabhängigkeit zu schließen, wäre jedoch ein Trugschluß. Gerade das Bewußtsein eines bescheidenen Besitzes läßt in Handkes Großvater ein schon zwanghaftes Spar- und Verzichtverhalten entstehen, das auch die Erziehung seiner fünf Kinder beeinflußt. Bereits hier, in dieser Atmosphäre erzwungener Bedürfnislosigkeit und tief eingebettetem Wunschverzicht werden die Grundlagen gelegt für das spätere Scheitern eines jeden Ausbruchsversuches, den Handkes Mutter unternimmt.

Schon im ersten Satz der eigentlichen Biographie der Mutter kommt die räumliche und geistige Ausweglosigkeit ihres Daseins zum Ausdruck: „Es begann also damit, daß meine Mutter vor über fünfzig Jahren im gleichen Ort geboren wurde, in dem sie dann auch gestorben ist.“ (WU S. 12) Der enge Bezug von Geburt und Tod, von verheißungsvollem Anfang und trostlosem Ende, markieren den engen Raum, auf dem sich das Leben der Mutter abspielt. Dazwischen ein Leben in Armut, gefangen im strikten Rollenkorsett der kleinbürgerlichen Verhältnisse. Der von Peter Handke zitierte Kinderreim faßt dies zusammen: „So hießen ja schon die Stationen eines Kinderspiels, das in der Gegend von den Mädchen viel gespielt wurde: Müde / Matt / Krank / Schwerkrank / Tot.“ (WU S. 17) Handke füllt die kargen Stationen des Abzählreimes mit konkreteren Bildern: „Keine Möglichkeiten, alles schon vorgesehen: kleine Schäkereien, ein Kichern, eine kurze Fassungslosigkeit, (...) die ersten Kinder, ein bißchen noch Dabeisein nach dem Hantieren in der Küche, (...) dann schlecht auf den Beinen, Krampfadern, (...) Unterleibskrebs, und mit dem Tod ist die Vorsehung schließlich erfüllt.“ (WU S. 17) Für eine Frau in diesen Verhältnissen ist das Leben bereits vom Zeitpunkt der Geburt an vorherbestimmt, Alternativen gibt es nicht. Irene Kann faßt die Ausweglosigkeit der Situation zusammen: „Das Erdrückende für dieses Dasein liegt in seiner totalen Zukunftslosigkeit, da seit der Geburt alles festgelegt und den Zwängen der ewigen Wiederkunft des Gleichen unterworfen ist. Jede Regung, jeder Wunsch und Widerwille hat sich den Ansprüchen herrschender Normen zu fügen, und jede Möglichkeit wird durch einschnürende Sitten und Gebräuche ihres Potentials beraubt. Regulierende Instanzen sind die Blicke der Nachbarn ebenso wie die Kirche mit ihrem Rhythmus der Feiertage.“[5]

Materielle Armut, durch die Trunksucht des Mannes verursacht, beengte Wohnverhältnisse im Elternhaus der Frau, ungewollte Schwangerschaften, aus denen am Ende fünf lebende Kinder und drei Abtreibungen resultieren, völliges Fehlen von ehelicher Gemeinsamkeit und Liebe, dies ist das soziale Umfeld, in dem sich Handkes Mutter bereits im Alter von dreißig Jahren wie in einer Sackgasse gefangen sieht. „Sie war also nichts geworden, konnte auch nichts mehr werden, das hatte man ihr nicht einmal vorauszusagen brauchen. Schon erzählte sie von ‘meiner Zeit damals’, obwohl sie noch nicht einmal dreißig Jahre alt war. Bisher hatte sie nichts ‘angenommen’, nun wurden die Lebensumstände so kümmerlich, daß sie erstmals vernünftig sein mußte.“ (WU S. 36) Handke beschreibt die materielle Not der Familie als ein entscheidender Faktor in der „Entmenschlichung“ seiner Mutter. Weniger das tägliche mühselige Haushalten, bei dem noch wie vor hundert Jahren alles von Hand gemacht wird, sondern weit stärker die wiederkehrenden Demütigungen, das Bewußtsein, ständig eine Bittstellerin um die nackten Existenzgrundlagen zu sein, entziehen ihr Lebenskraft und Menschenwürde. (WU S. 62ff )

2.2 „Middle Class“ Perfektion des 20. Jahrhunderts

Von dieser im vorigen Jahrhundert verhafteten Lebensweise ist es ein weiter Sprung zum sozialen Umfeld der „linkshändigen Frau“ Marianne. Der Zeitpunkt ihrer Geburt liegt ungefähr eine Generation später und Welten entfernt von Handkes Maria. Die Erzählung vermeidet bewußt Biographisches. Die Personen gewinnen fast nur durch ihr Handeln konkretere Konturen, treten gleichsam einzeln ins Scheinwerferlicht. Den „allwissenden Erzähler“ , wie er durch die Person Peter Handkes selbst im „Wunschlosen Unglück“ in Erscheinung tritt, gibt es hier nicht. Schlaglichtartig hingeworfene Informationen zu den handelnden Figuren gleichen kurzen Regieanweisungen, die gerade für das Gelingen der betreffenden Situation notwendig sind.

Im Gegensatz zu „Wunschloses Unglück“ begleitet der Leser die Hauptfigur Marianne nicht von der Geburt bis zum Tod durchs Leben. Nur ein relativ kurzer Zeitraum von wenigen Monaten, von Mitte Januar bis zu den ersten milden Frühlingstagen, wird dargestellt. In diesen kritischen Wochen vollzieht sich jedoch eine Entwicklung in Marianne, die sie im Gegensatz zur Mutter Handkes als „Überlebende“ dastehen läßt. Es wird deutlich, daß auch sie von äußeren und inneren Zwängen umgeben ist, diesen jedoch nicht die Macht eingeräumt wird, über das gesamte Leben zu bestimmen.

Marianne ist dreißig Jahre alt und hat einen achtjährigen Sohn, Stefan. Ihr Mann ist Verkaufsleiter der lokalen Filiale einer in ganz Europa bekannten Porzellanfirma, beruflich erfolgreich und sehr viel unterwegs. Sie lebt in einer terrassenförmig angelegten Bungalowsiedlung am südlichen Abhang einer großen Stadt, in der der Handke-Kritiker Uwe Schultz deutlich die Konturen von Kronberg bei Frankfurt erkennt, einem früheren Wohnort Peter Handkes.[6] Die Familie ist nicht wohlhabend, lebt aber in bequemen Verhältnissen. Der Bungalow ist gemietet, da der Mann jederzeit versetzt werden kann. Diese Informationen werden auf den ersten beiden Seiten der Erzählung gegeben und bilden die Kulisse für die ersten Szenen der Handlung.[7]

Mariannes sozio-kulturelles Umfeld ist also geprägt von materieller Sicherheit. Der tägliche Kampf ums nackte Überleben ist ihr fremd, ihre Umgebung voll von geschmackvollen, komfortablen Dingen, die das tägliche Leben erleichtern: statt altem Feuerherd eine moderne Einbauküche, statt abgenutztem Email ein Silbertablett mit Kristallgläsern, statt vom Munde abgespartem Eierlikör ein Glas Wodka zur Entspannung. Doch die moderne Zweckmäßigkeit der Vorstadtsiedlung beengt Marianne. Die Zimmer der Wohnung gleichen ihr „Zellen“ (LF S. 17), die engen, verwinkelt angelegten Gäßchen der Siedlung mit ihren übereinander verschachtelten Bungalows erscheinen ihr künstlich und leblos: „Manchmal wünsche ich mir eine stinkende Pizzabude vor der Haustür, oder einen Zeitungsstand.“ (LF S. 16) Die monotone, bis ins letzte durchdachte Planung der Umgebung ist für Marianne Ausdruck ihres in festgelegten Bahnen verlaufenden Lebens: „Was mich an dem Haus hier stört, ist die Art, wie man abbiegen muß, um von einem Raum in den andern zu kommen: immer im rechten Winkel, noch dazu immer nach links. Ich weiß nicht, warum diese Bewegungsart mich so verdrießlich macht; sie quält mich geradezu.“ (LF S. 51) Auch Handkes Mutter in „Wunschloses Unglück“ ist in täglich wiederkehrenden Abläufen unentrinnbar festgelegt. Trotz äußerlich kontrastierender Lebensumstände ist die Qual beider Frauen die gleiche.

[...]


[1] Handke, Peter, Wunschloses Unglück, Suhrkamp Taschenbuch 146, Frankfurt am Main 1974, S. 105. (In der Folge beziehen sich alle Seitenangaben im Text auf diese Ausgabe)

[2] Jens, Walter (Hg.): Kindlers Neues Literaturlexikon, München 1988, S. 256

[3] Handke, Peter, „Durch eine mythische Tür eintreten, wo jegliche Gesetze verschwunden sind“ in: Fellinger, Raimund (Hg.), Peter Handke, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 234 ff

[4] Handke, Peter, „Durch eine mythische Tür...“ S. 234

[5] Kann, Irene , Schuld und Zeit. Literarische Handlung in theologischer Sicht. Paderborn 1992, S. 191

[6] Schultz, Uwe, „Die Einsamkeit der Emanzipation - Zu Peter Handkes Erzählung ’Die linkshändige Frau‘ “ in: Fellinger, Raimund (Hg.), Peter Handke, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 228

[7] Handke, Peter, Die linkshändige Frau, Suhrkamp Taschenbuch 560, Frankfurt am Main 1981, S. 7ff (In der Folge beziehen sich alle Seitenangaben im Text auf diese Ausgabe.)

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Details

Title
Frauendarstellungen in Peter Handkes Erzählungen "Wunschloses Unglück" und "Die linkshändige Frau"
Subtitle
Ein Vergleich
College
University of Koblenz-Landau  (Germanistik)
Course
Hauptseminar Peter Handke
Grade
1,2
Author
Year
1998
Pages
24
Catalog Number
V28709
ISBN (eBook)
9783638304139
ISBN (Book)
9783638853415
File size
517 KB
Language
German
Keywords
Frauendarstellungen, Peter, Handkes, Erzählungen, Wunschloses, Unglück, Frau, Hauptseminar, Peter, Handke
Quote paper
Cornelia Peters (Author), 1998, Frauendarstellungen in Peter Handkes Erzählungen "Wunschloses Unglück" und "Die linkshändige Frau", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28709

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