Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitungp
2. Photographie als eingefrorene Zeit
2.1. Prinzipielles zu den traditionellen und den technischen Bilderwelten
2.2. Wie sich Vergangenheit in der Photographie präsentiert
2.3. Wie sich Zukunft in der Photographie präsentiert
3. Die Photographie ist tot, es lebe die Photographie: digitale Photographie und das post-photographische Zeitalter
3. 1. Veränderungen im digitalen Zeitalter – zurück zur Ikonographie?
3.2. Viele digitale Bilder – und nur noch eine Zeit
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
6. Anhang
1. Einleitung
Als zunächst die Daguerreotypie, dann die Photographie im 19. Jahrhundert das Licht der Welt erblickte, hallte ihr nicht nur ein begeistertes Echo entgegen. Viele Persönlichkeiten der Zeit fühlten sich von der neuen Erfindung eher verunsichert und befürchteten, dass der photographische Klick irgendetwas Teuflisches an sich habe. Nadar, einer der berühmtesten Photographen des 19. Jahrhunderts, hielt in seinen Memoiren beispielsweise fest, dass selbst ein so gestandener Schriftsteller wie Honoré de Balzac fürchterliche Angst davor hatte, sich ablichten zu lassen.
„Balzac fühlte sich dem neuen Wunder gegenüber unbehaglich. Er konnte sich einer unbestimmten Angst vor der Daguerreschen Kunst nicht erwehren. […] Nach Balzac besteht jeder lebende Körper aus unendlich vielen ‚Spektren’, die in winzig kleinen Schuppen oder Blättchen schichtenförmig übereinanderliegen und ihn von allen Seiten einhüllen. Da es dem Menschen immer unmöglich sein wird, etwas zu erschaffen […], muss bei der Daguerreschen Photographie eine Schicht des abzubildenden Körpers erfasst, abgelöst und auf die Platte gebannt werden. Daraus folgte, dass jeder Körper bei jeder photographischen Aufnahme eine seiner Spektralschichten, dass heißt einen Teil seines elementaren Wesens einbüsste.“ Im Falle Balzacs, „hätte dieser spektrale Verlust ihm nur Gewinn gebracht. Die Rundungen seines Bauches und anderer Körperteile hätten ihm durchaus gestattet, sich, ohne ängstlich rechnen zu müssen, einiger ‚Spektralschichten’ zu entledigen.“ [1]
Doch sogar die Erkenntnis, dass es nicht die Spektralschichten, sondern die Reflexion der Lichtwellen sind, die sich auf der photographischen Platte einschreiben, hielt nur wenige vor Scheu, Zweifel und Kritik zurück. Oft war vom leichenhaften Charakter der erstarrten Gestalten und der eingefrorenen Zeit die Rede – von einer gewaltsamen Zweidimensionalisierung des vierdimensionalen Weltbildes des Menschen, in der Raum und Zeit radikal eliminiert werden.
Nach der ersten Weltausstellung 1851 in London, deren Veranstaltungsort heute nur noch auf den alten Photographien zu besuchen ist,[2] kam der große Durchbruch des Negativ-Positiv-Verfahrens von William Henry Fox Talbot. Neben den Sensationsschlagzeilen hagelte es auch negative Rezensionen. Polemisch erklärte Charles Baudelaire noch im selben Jahrzehnt, dass die Photographie durch ihre Profanisierung der Kunst zur allgemeinen Verdummung und Verblendung der Gesellschaft beitrage. Narzisstisch blicke sie in ihr festgefrorenes Spiegelbild auf der geglätteten Metallplatte – und erkenne darin menschliches Schöpfertum, obwohl sich lediglich eine geist- und fantasielose Schrift eines blutlosen Lichtes eingeschrieben habe. Für die Kunst sei die Photographie demnach die Strafe eines rachsüchtigen Gottes, Louis Daguerre, sein erster Prophet.[3]
Insbesondere die kunstkritische Photographiebetrachtung zog sich durch alle philosophischen Salons – bis hin zu den einschlägig bekannten Aufsätzen Siegfried Kracauers[4] und Walter Benjamins.[5] Das Verwunderliche der Photographie – die Auflösung und/oder Einfrierung der Zeit – machte sie zusätzlich für andere philosophische Zirkel interessant. Die Ära des Fin de siècle wurde zur Blütezeit der Zeitphilosophie. Durch Relativitätstheorie, Moment- und Chronophotographie animiert, diskutierten namhafte Denker wie Henri Bergson[6] und Edmund Husserl[7] das Problem der Zeit. Die Fragestellung darüber, was Zeit eigentlich ist und wie wandelbar sie sei, an die Momentphotographie zu koppeln, lag nahe. „Dies Hundertstel oder Tausendstel einer Sekunde, das man zur Belichtung braucht, fährt wie ein Blitz hinein in das Dickicht der Welt und langt hervor was unausdenkbar ist: den Zufall.“ [8] Es ist das Optisch-Unbewusste,[9] was sich durch die kurzen Klicks aus dem eingeengten, dreisekündigen Wahrnehmungsfenster des Menschen herauslöst[10] – ungeahnte Details preisgibt und die Zeit auf einer Ebene erfasst, auslöscht oder anhält, für welche die menschliche Wahrnehmung zu langsam ist.
Im Folgenden soll ein genauerer Blick darauf geworfen werden, wie sich die bereits gründlich erarbeiteten zeitphilosophischen Thesen zur klassischen Photographie in ein Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit einbauen lassen. Als Walter Benjamin seinen legendären Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schrieb, konnte er nicht davon ausgehen, dass die Reproduktion Dekaden später selbst in seine einzelnen Atome bzw. Bits und Pixel zerfallen würde. Das Original ist seitdem in keiner Weise mehr von der Kopie zu unterscheiden. Nur noch der Code bleibt als Original bestehen – ein Original ohne Aura, auch ohne jedes Greifbar-Zeitliche. Denn während die klassische Photographie, mindestens die weitgehend unverfälschte des 19. Jahrhunderts, noch einigermaßen klar die Gegebenheiten ihres zeitlichen Kontextes entriss, um sie auf Papier fühlbar und sichtbar zu machen, verschwimmen in der digitalen Photographie die drei vom Menschen konstruierten Zeitebenen – besser noch: sie schwimmen zusammen. Vergangenheit wird Gegenwart, ist Gegenwart und wird mit der Zukunft verknüpft. Künftige Ereignisse werden der größten Wahrscheinlichkeit nach in die Gegenwart geholt und erzeugen somit eine künstlich-sterile Nähe. Kann man in diesem völlig verworrenen Aggregatszustand überhaupt noch das eine vom anderen unterscheiden oder verflüssigt sich das, was wir heute Zeit nennen, in einer Form molekularer (Ur-)Suppe, die statisch auf einem Zeitpunkt verharrt, balanciert, manchmal überkocht und immer neue Zutaten in ihren archivarischen Bauch aufnimmt?
Diese Frage soll im vorliegenden Aufsatz insbesondere im zweiten Teil gestellt werden. Zunächst werden allerdings einige Voraussetzungen zur zeitphilosophischen Betrachtung der Photographie vorangestellt. Der erste Teil wird Prinzipielles zu den Bilderwelten zu sagen wissen und das Bildliche in Ikonographie, klassischer und digitaler Photographie in Bezug zu Wirklichkeit und Zeichenoberfläche setzen. Anschließend wird der Fokus auf die klassische Photographie fallen. Bereits im 19. Jahrhundert kam es zu heftigen Debatten über die Zeitstruktur, die sich auf der Silberschicht abbildete – inwieweit ihr Echtheit zugesprochen werden kann und inwiefern sich das menschliche Zeitbild durch den anhaltenden Klick des Photoapparats relativiert. Ebenso bilden sich Teile einer Zukunft in fast allen bildlichen Werken ab – eine Zukunft, die, wenn wir von der klassischen Photographie sprechen, zumeist ebenfalls schon Vergangenheit ist, zum Zeitpunkt des Linsenverschlusses aber noch nicht war. Wie man mit diesem Paradox umgehen soll, wird ebenso im ersten Teil geklärt, bevor die beiden auseinander liegenden Zeitebenen in ein neues, durch die Photographie umgewälztes Konzept von Gegenwart eingebettet werden sollen.
Der zweite Teil wird die Antworten des ersten anhand der Digitalphotographie weiterdenken. Hierzu sei beispielsweise an die schon von William J. Mitchell Anfang der 1990er Jahre gestellte Frage nach dem Photographiewert der Digitalphotographie zu erinnern.[11] Während sich die klassische Photographie stets des Kunstwertes erweisen musste, eröffnet sich im digitalen Zeitalter ebenso die Frage, inwiefern das in Pixel zertrümmerte post-photographische Bild überhaupt noch etwas mit einer Lichtschrift zu tun hat. Hat es sich in seiner Konvertibilität und Manipulierbarkeit nicht schon unlängst von den Erfindungen Daguerres, Niépces und Talbots entfernt? Zeit und Zeitlichkeit schrumpfen in ihr noch radikaler auf einen einzelnen Punkt zusammen. Zukunftsansichten konnte die klassische Photographie außerhalb einer vergegenwärtigten Vergangenheit nie zu Papier bringen. Die Simulationsfähigkeit des Digitalzeitalters ist dazu aber in der Lage und schafft nicht nur ein (Photo-)Universum der technischen Bilder, wie Vilém Flusser es beschreiben würde,[12] sondern eines der Simulakra – der hyperrealen Scheinbilder: sie geben ein deutlich verzerrtes Bild der Realität wieder.[13] Sind Scheinrealität im platonschen Sinne – und können in ihrer Glaubwürdigkeit und Authentizität dennoch als wahrhaftig gelten.
2. Photographie als eingefrorene Zeit
2.1. Prinzipielles zu den traditionellen und den technischen Bilderwelten
Auch wenn unser heutiges Leben stark von Bildern, Videos und Hochglanzfotografien geprägt ist, sind Bilderwelten keine Erfindung der Neuzeit – immerhin: sie funktionieren nach der Jahrhunderte langen Vorherrschaft des Wortes ein wenig anders. Seit jeher wurde aber versucht, die vierdimensional wahrgenommene Welt des Menschen in Chiffren zu übersetzen, die einer zwischenmenschlichen Kommunikation dienlich sind. Durch diese Codes vermittelt, nimmt der Mensch die Welt im Eigentlichen wahr und bestätigt sich gegenseitig die Existenz der Außenwelt – er empfindet sie somit stets als Konstrukt: es ist die Welt des Als-Ob, welche er sieht, hört, fühlt und kommuniziert.[14]
Die Bilder können als die frühsten dieser Codes angesehen werden. Bei genauer Betrachtung der prähistorischen Höhlenmalereien in Lascaux beispielsweise, fällt schnell die Übersetzung von Ousia (οΰσία) in den Bereich der reinen Bedeutungen ins Auge. „Symbole, welche aus zweidimensionalen Codes bestehen, wie das in Lascaux der Fall ist, bedeuten nämlich die ‚Welt’, indem sie die vierdimensionalen Raum-Zeit-Sachlagen zu Szenen reduzieren. Indem sie sie ‚imaginieren.’“ [15] In der Schrift findet dann ein weiterer Reduktionsprozess statt, der die wahrgenommenen Elemente der Welt zur Perlenkette auffädelt. Reduktion heißt dabei auch immer Mobilisierung – Kommunikationsmobilität: Information kann schneller übertragen werden, als wenn die gesamte Komplexität des Seins dargestellt werden müsste. Während solche Codes aber die Welt bedeuten sollen, fangen sie an, de facto die Welt zu sein. „Sie sollten Landkarten sein und werden zu Wandschirmen: statt die Welt vorzustellen, verstellen sie sie, bis der Mensch schließlich in Funktion der von ihm geschaffenen Bilder zu leben beginnt.“ [16] Ein Effekt, der bisweilen zur totalen Verselbständigung der Symbole auf den Zeichenoberflächen führen kann. Die Codes verlieren in diesem Fall ihre Bezugshintergründe und transformieren zu einer Welt vor der Welt: zur absoluten Simulation.[17] Alle ursprünglichen Bezugspunkte gleiten dagegen in eine Art submediale Realität – in den submedialen Raum hinter der Zeichenoberfläche ab, wobei letztere immer mehr zu einer Ersatzrealität wird.[18]
Logische Konsequenz einer Übersetzung der Welt in Bilder ist übrigens nicht nur eine medienvermittelte, gefilterte Wahrnehmung, sondern auch ein magisches Bewusstsein. Die Entstehung der Bildersprachen hatte unweigerlich Kult und Religion zur Folge. Die Welt der Bilder programmierte, wie der Medienphilosoph Vilém Flusser feststellt, unsere Vorfahren zu Wesen mit einem vollkommen diachronisierten Zeit- und Weltbild. Die Welt wurde von ihnen gleich der Szene in einem Bild wahrgenommen – nicht linear und grammatikalisch regelhaft, sondern kreisförmig scannend. Oder anders: „Für sie war die ‚Welt’ eine Menge von Szenen, welche magisches Verhalten fordern.“ [19] Und tatsächlich kann man den Zusammenhang von Kult bzw. Religion und Bilderwelt nachvollziehen. Man braucht sich nur die Symbole anschauen, mit denen religiöse Vereinigungen vor dem Durchbruch des Alphabets erfolgreich operiert haben. Freilich haben die monotheistischen Religionen, allen voran Islam und Judentum sowie teilweise das spätantike und mittelalterliche Christentum ein einigermaßen radikales Bildnisverbot durchgesetzt, um einen realen Gott nicht auf Zeichen reduzierbar machen zu können: die Angst, dass sich die Ikonenmaschinerie an die Stelle der reinen intelligiblen Gottesidee setzen könnte, schwang gerade bei den reformatorischen Bilderstürmern mit.[20] Das imaginäre Bild eines nebulös verschwommenen Gottes schimmert aber auch bei ihnen durch. Zwar folgen die monotheistischen Religionen der späten Antike längst nicht mehr dem der Zauberwelt eigenen Götzendienst, doch selbst sie haben an ihren Rändern ikonenhafte Züge angenommen.
Das beste Beispiel dafür sind die orthodoxen Kirchen. Selbst das heutige Medienverständnis in Russland ist immer noch stark von der Ikone geprägt. Die Ikone simuliert hierbei eine reale Erfahrbarkeit Gottes und ist dessen Medium. Als solches ist sie zwar hyperreal, dient aber durchaus der Realpräsenz einer vermuteten göttlichen Instanz, die nur aufgenommen, aber nicht verstanden werden kann. Bei den Ikonen geht es daher nie um die Übertragung einer linearen, tiefgründigen Information – es soll lediglich Anwesenheit und Aura simuliert werden. Die Ikone im rituellen Sinne wird dann in der bewussten Nichtbeachtung ihrer informativen Bedeutung verehrenswert, wie Roland Barthes wiederum in Bezug auf die photographische Emanation feststellt.[21] Ein solches den orthodoxen Gemeinden tief eingeprägte magische Bewusstsein hat sich in Russland sehr viel später gerade in dem von Barthes angesprochenen zauberhaften Wesen der Photographie weitergeführt. Die sozrealistischen Propagandaphotographien bilden sowjetische Führer wie Lenin und Stalin als vergötterungswürdige Ikonen ab[22] – mit dem Ziel dem Volk das magische, opiumdurchdrängte Zuckerbrot zukommen zu lassen, nach welchem es verlangt.[23]
In ihrer Einzigartigkeit strahlten die Ikonen über Jahrhunderte hinweg die Aura einer telepathischen Anwesenheit der Heiligen aus – sie war und ist in diesem Sinne Ritual und Kunstwerk. Denn nur die Einzigartigkeit des Kunstwerks weiß es, Zauberwerte zu vermitteln, wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schreibt. „Die ersten Kunstwerke sind […] im Dienste des Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen. […] Der einzigartige Wert des ‚echten’ Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte.“ [24] Mit den modernen Reproduktionsmitteln berstet aber das rituelle Potenzial der Bilderwelten. Und während Aura und Kult erlischen, verdrängt ein imperativer Ausstellungswert des Profanen und Alltäglichen das Besondere – die magische Grundhaltung bei der In-Empfangnahme der hyperreal wirkenden Bilder bzw. Photographien bleibt jedoch aus Tradition bestehen, weswegen Vilém Flusser auch zu Recht behaupten kann, dass unsere Gesellschaft noch nicht gelernt hat die technischen Bilder richtig zu lesen.[25]
Die Photographie ist das erste rein technisch produzierte Bild, welches anfänglich noch künstlerisch-bildliche Züge trägt, nach und nach aber zu einem ganz eigenen Universum wird. „Mit der Photographie war die Hand im Prozess bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche mehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen.“ [26] Plötzlich war das magische Element ganz in der chemisch-optischen Black Box des Photoapparats – in dieser Mausefalle für Licht und Leben[27] – verschwunden. Es ist eine apparative Black Box, die alles Magische sogar zu einem neuen Niveau heraufbefördert und zu abstraktem Gaukeln werden lässt.[28] Die massenhaft vervielfältigten Produkte, die sie auswirft, stehen für vorgefertigte Imperative, die von der geschichtlichen in eine neomagische Welt übersetzt werden. Neomagisch ist sie schon deshalb, weil durch ihre breite Streuung magische Imperative global übertragen werden und keine lokal gebundenen Götzenbotschaften mehr darstellen.
Erfunden wurde diese Black Box bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und basierte auf dem Prinzip der Camera obscura. Hinter dieser befanden sich montierte Kupferplatten, die mit Jod und Silber beschichtet waren. Auf diese Weise lichtempfindlich gemacht, nahm die Silberschicht den Abdruck der Natur auf. Die ersten Heliographien dieser Art von Joseph Nicéphore Niépce benötigten für ebendiesen Abdruck bis zu acht Stunden – die Außenwelt wuchs somit mit ihrer gesamten Zeitdimension in das Bild hinein. So gesehen ähnelte es den typisierenden Gemälden, die das eigentlich nicht Existente, aber Typische darstellen – somit also riesige Zeit- und Raumfenster zu einem winzigen, flachen Abdruck komprimieren.[29] Was die Photographie mit Louis Daguerre 1835-1839, später sehr revolutionär mit William Henry Fox Talbot in ihrem zeitlichen Wesen veränderte, waren die reduzierten Belichtungszeiten. Mit fünf bis neun Minuten bei Daguerres Daguerreotypien – je nach Jahreszeit – näherte sich die optisch-chemische Erfassung der Welt bereits allmählich der Gegenwartswahrnehmung des Menschen.[30] Dieser, so er auf den Bildern auftauchte, wuchs nicht mehr a priori in diese hinein, sondern wurde seiner Gegenwart vom Apparat entrissen. Nichtsdestotrotz waren bei Daguerres Technik keine Reproduktionsverfahren mitgedacht. Diese kamen erst mit Talbots lichtempfindlichem Photopapier auf. Es wurde als Negativ belichtet und konnte beliebig oft als Positivversion vervielfältigt werden, womit der Aura des Originals erstmals von apparativer Seite her starke Konkurrenz gemacht wurde. Folgt man Benjamin, so hat dieses schnelle Reproduktionsverfahren Talbots die Aura gewissermaßen zerschlagen.[31] Durch die radikale Reduzierung der Belichtungszeiten in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts kam es zusätzlich zu einer eigenwilligen Einfrierung von Zeit. Was angesichts großer Aufnahmedauern zunächst einer Zusammenschmelzung großer Zeitkomplexe entsprochen hatte, wurde nun zu einem Anhalten von Zeit und einer Plättung von Raum: mit dem Erreichen einer Belichtungszeit von drei Sekunden in den 1840er Jahren war zudem schon früh die menschliche Wahrnehmungs- und Gegenwartsgrenze erreicht. Der Apparat erfasste schon einige Jahrzehnte später ganz andere Welt- und Zeitbilder als der Mensch – nahm Tausendstel von Sekunden wahr. Während dem Menschen stets ein etwa dreisekündiges Zeitfenster bewusst und gegenwärtig ist, schert sich der Automat nur wenig um solche Grenzen des Bewusstseins.[32] Die Grenzen wurden rigoros vom Apparat durchbrochen: was einstmals Augenblick war, wurde zu Kamerablick und Kinoauge (kinoglaz).[33] Sie ließen Zeit (sowie Raum) komplett aus dem photographischen Abbild verschwinden: das Photo – ein „manifester Schatten der Zeit“ [34] und womöglich nur eine flüchtige Spur von ihr im submedialen Raum, welche unseren zeitweisen Verdacht gegenüber dem offen liegenden photographischen Archiv erweckt.[35] Eine vollkommen veränderte Zeitwahrnehmung manifestierte sich auf den photochemischen Papieren und ließ das Zeitkontinuum genau genommen nur noch als unsichtbare Fährte zurück: „In der Photographie ist Zeit nicht eingefroren […], sie ist verschwunden.“ [36] Die Kamera „entreißt das Geschehen dem zeitlichen Ablauf und zerschlägt es zu einem Puzzle, dessen Teile zu keinem Ganzen mehr zusammenzufügen sind.“ [37]
Kein Wunder, dass schon früh Zweifel an der Realität der photographischen Bilder aufkamen. Sicherlich, auch das chemisch erfasste Lichtbild besitzt eine Realität – jedoch ist sie seine eigene und nicht die der Menschen. Ihre äußere Ähnlichkeit ist mehr als nur ein Trugbild – das neue Bild ist Photorealismus im wahrsten Sinne des Wortes ist Hyperrealität und Simulakrum.[38] Drei Elemente sind es dabei, welche die Realität, an die die menschliche Wahrnehmung gebunden ist, in der Photographie verzerren. Zum einen die (1) Belichtungszeit, welche die menschliche Wahrnehmung massiv unterläuft, dann (2) das Zusammenschrumpfen, Anhalten und die Oberflächenglättung von Zeit und Raum, welche sich in der Black Box des Apparats vollzieht und zum Letzten (3) ist es die Vervielfältigungsmöglichkeit, welche die menschliche Realität zu einem tragbaren Sammelalbum reduziert: in der Welt der Bits und Bytes sogar zu einem für alle weltweit einsehbaren, adressier- und markierbaren (tagging) Sammelalbum nach dem Vorbild von Flickr. Während Marx den Philosophen vorwarf, die Welt nur zu interpretieren, anstatt sie zu verändern, weisen die Funktionäre des Photouniversums daraufhin, „dass es vergeblich ist, die Welt verstehen zu wollen und schlagen uns stattdessen vor, sie zu sammeln.“ [39]
[...]
[1] Nadar: Als ich Photograph war, Huber, Frauenfeld 1978, S. 22 ff.
[2] Zur ersten Weltausstellung 1851 in London wurde von Joseph Paxton eigens der Kristallpalast errichtet, welcher als eine architektonische Meisterleistung galt und aus einer umfangreichen Glasfassade bestand. Die Ausstellungshalle wurde angesichts der Präsentation neuster Phototechnik auch zum Objekt der photographischen Begierde. 1936 brannte das Gebäude komplett nieder.
[3] Vgl. Baudelaire, Charles: Die Fotografie und das moderne Publikum, in: Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie, Bd. I.: 1839-1912, Schirmer/Mosel, München 1980, S. 110-114
[4] Vgl. Kracauer, Siegfried: Die Photographie, in: ders.: Das Ornament der Masse, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977
[5] Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009 [Original 1936]
[6] Vgl. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1991 [Original 1896]; Bergson, Henri: Zeit und Freiheit, Diederichs, Jena 1920 [Original 1889]
[7] Vgl. Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Niemeyer, Tübingen 2000 [Original 1928]
[8] Sternberger, Dolf: Über die Kunst der Fotografie, in: Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie, Bd. II.: 1912-1945, Schirmer/Mosel, München 1979, S. 228-240
[9] Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 36 sowie: Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 50
[10] Zum menschlichen Wahrnehmungs- bzw. Gegenwarts- und Integrationsfenster von 3 Sekunden Vgl. Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewusstseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, dtv, Stuttgart 1987
[11] Vgl. Mitchell, William J.: The Reconfigured Eye: Visual Truth in the Post-Photographic Era, MIT Press, 1992
[12] Vgl. Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder, European Photography, Göttingen 2000
[13] Vgl. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen, Merve, Berlin 1978
[14] Zur Philosophie des Als-Ob, Vgl. Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob, Reuther & Reichard, Berlin 1913
[15] Flusser, Vilém: Medienkultur, Fischer, Frankfurt am Main 2002, S. 23 f.
[16] Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, European Photography, Göttingen 2000
[17] Vgl. Großklaus, Klaus: Medien – Zeit – Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, S. 149 ff.
[18] Vgl. Groys, Boris: Unter Verdacht, Hanser, München 2000, S. 27 ff.
[19] Flusser, Vilém: Medienkultur, S. 24
[20] Vgl. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen
[21] Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, S. 101
[22] Viele dieser klassischen Bildmanipulationen der sowjetischen Propagandamaschinerie sind einsehbar in: Jaubert, Alain: Fotos, die lügen. Politik mit gefälschten Bildern, Athenäum, Frankfurt am Main 1989
[23] Vgl. Schmid, Ulrich (Hrsg.): Russische Medientheorien, Facetten der Medienkultur Bd. VI., Haupt, Stuttgart 2005, S. 11 ff.
[24] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 16
[25] Vgl. Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder, u. a. S. 27
[26] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 10 f.
[27] Die Frau des Photopioniers William Henry Fox Talbot hatte die erste Kamera ihres Mannes als Mausefalle bezeichnet, welche das Leben mit dem Köder einzufangen versucht, Vgl.: Amelunxen, Hubertus von: Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot, Nishen, Berlin 1988, S. 47
[28] Vgl. Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 16 u. a.
[29] Vgl. Arnheim, Rudolf: Über das Wesen von Photographie, in: ders.: Die Seele in der Silberschicht, Medientheoretische Texte – Photographie – Film – Rundfunk, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, S. 20-35
[30] Vgl. Daguerre, Louis Jacques Mandé: Das Daguerreotyp und das Diorama, Metzler, Stuttgart 1839, Nachdruck: Th. Schäfer, Hannover 1988
[31] Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 15 f.
[32] Vgl. Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewusstseins
[33] Der sowjetische Filmemacher Dziga Wertow entwickelte in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts seine Theorie des dokumentarischen Kinoauges, welches mehr sieht als die menschliche Wahrnehmung und vor allen Dingen nicht durch die menscheneigene Subjektivität gefärbt ist. Vgl. Wertow, Dziga: Schriften zum Film, Hanser, München 1973
[34] Amelunxen, Hubertus von: Die aufgehobene Zeit, S. 44
[35] Vgl. Groys, Boris: Unter Verdacht
[36] Amelunxen, Hubertus von: Die aufgehobene Zeit , S. 49
[37] Ebd., S. 45
[38] Vgl. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen
[39] Sontag, Susan: Über Fotografie, Fischer, Frankfurt am Main 1999 [Original 1977], S. 83