Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Die Figur des Don Juan
2 Mittel und Funktion der Satire
3 Der Umgang mit dem literarhistorischen Kontext
4 Literatur
1 Die Figur des Don Juan
Der Don Juan Max Frischs hat eine neue Grundkondition: „Ich liebe. Aber wen?“[1]. Er liebt sich zunächst einmal selbst, ist ein Narziss wie Tirso de Molinas oder Molières Don Juan. Der Don Juan Frischs erlebt allerdings eine Art Identitätskrise, die er bewusst auslebt. Seine Liebe ist ziellos auf jeden gerichtet, sie macht auch vor seinem Freund Roderigo nicht Halt, nur weiß er nicht, was er mit ihr anfangen soll. Ein pubertierender Don Juan demnach, denn der zerstörerische Trieb, den seine literarischen Vorgänger hatten, fehlt ihm. Tirsos und Molières Don Juan konnten ihre Lebensgrundlage aus der Triebbefriedigung ziehen. Sören Kierkegaard zufolge ließe sich noch differenzieren, ob sie je nach Reflexionsvermögen als Betrüger oder als Verführer agierten: „Von Don Juan muss man den Ausdruck Verführer mit großer Vorsicht gebrauchen, (…) weil er überhaupt nicht unter ethische Bestimmungen fällt. Ich möchte ihn aber lieber einen Betrüger nennen (…). Um Verführer zu sein, bedarf es stets einer gewissen Reflexion und Bewusstheit (…). An dieser Bewusstheit fehlt es Don Juan. Er begehrt, und diese Begierde wirkt verführend; insofern verführt er.“[2] Ihr Lebensprinzip infrage zu stellen, war ihnen unmöglich: „Ich fühle in mir die Kraft, die ganze Welt zu lieben, und wie Alexander wünschte ich, es gäbe noch eine andere Welt, auf der ich meine Liebeseroberungen ausdehnen könnte.“[3]
Die Figur stimmt mit sich überein, sie lebt ihre Rolle. Kraft und Vitalität dieses ‚Naturtyps‘ mit ganz ungeahnten metaphysischen Dimensionen ersetzen die Notwendigkeit zur Reflexion, wo sie nicht, wie bei Molière, durch die Konfrontation mit den anderen Figuren erzwungen wird. Man denke an die Dämonisierung des Don Juan bei E. T. A. Hoffmann: „Eine kräftige, herrliche Gestalt (…), das sonderbare Spiel eines Stirnmuskels über den Augenbrauen bringt sekundenlang etwas vom Mephistopheles in die Physiognomie (…)“.[4] Rastlos von einer Eroberung zur nächsten ziehend, steuert der traditionelle Don Juan deshalb seiner gerechten Strafe entgegen. Und es ist dabei nicht von Bedeutung, ob diese Strafe hinreichend motiviert ist durch die immanente Instanz eines göttlichen Gerichts wie bei Molière, weil der Autor hier eine andere Intuition hat. Wichtig ist vielmehr, dass diese Strafe das vorbestimmte Ende einer linearen Entwicklung aufzeigt: „Ehen geschändet, Familien zerstört, Töchter verführt, Väter erstochen“[5]. Don Juan verlässt seinen konventionellen Aktionsraum durch die Provokation des toten Komturs und erhält die Quittung für sein frevlerisches Tun.
Ganz anders der Don Juan Frischs, der im Verlauf des Stücks verschiedene Stadien durchläuft. Deshalb musste auch das typische Handlungsschema des Don-Juan-Stoffes umgeworfen werden, das durch die Jahrhunderte seiner Rezeption hindurch unverändert blieb, auch wenn sich die Figuren um Don Juan änderten. Primäre Bedeutung für die Wandlungsfähigkeit des modernen Don Juan kommt dabei dem dritten Akt zu. Nur eine Nacht liegt zwischen dem zweiten und dritten Akt, in der Don Juan die sinnliche Seite der Liebe in einem für diesen Zeitraum geradezu unmenschlichen Ausmaß zur Neige auskostet. Der anbrechende Morgen sieht einen innerlich gefestigten, selbstbewussten Don Juan, der mit sich und der Welt ins Reine gekommen ist. Auf die Frage seines Freundes Roderigo, was mit ihm geschehen sei, antwortet er: „Ich habe ausgeliebt. Es war eine kurze Jugend“[6]. Und zuvor: „(…) Ich bin ein Mann geworden, das ist alles. Ich bin gesund, du siehst es, vom Scheitel bis zur Sohle. Und nüchtern vor Glück, dass es vorbei ist, wie ein stumpfes Gewitter“[7]. Don Juan ist erwachsen geworden, indem er die wahre Bestimmung seiner Liebe erkannt zu haben glaubt. Sie gehört der ‚männlichen Geometrie‘, denn „dort gibt es keine Launen (…) wie in der menschlichen Liebe“[8], sie ist ein Wissen, das stimmt. Aber der vermeintliche Anblick von Donna Anna, seiner ersten und einzigen Liebe, in Gestalt der Miranda, lässt ihn auf dialektischem Weg die wahre Liebe finden. Aus dem pubertär-romantischen Liebesgefühl und der bis zum Überfluss erfahrenen Liebe der vergangenen Nacht erwächst eine neue, wahre und aufgeklärte Liebe: „Ich halte deine Hand wie ein Leben, das uns noch einmal geschenkt ist, wirklicher als das erste, kindliche, voller um unser Wissen, wie leicht es vertan ist“[9]. Doch als die vermeintliche Donna Anna ihren Schleier hebt, sieht sich Don Juan an den Anfang seiner Erfahrungen zurückgeworfen, indem er erneut die Bedingtheit der Liebe in der Farce der Maskerade erkennt. Seines wahrhaft baarischen Weltgefühls („Ich spotte nicht über den Himmel, Freund, ich finde ihn schön.“[10] ), seines „Gelächters ohne Reue“[11] beraubt, nimmt Don Juan desillusioniert den Lebenskampf auf.
Dieser Kampf ist primär ein Kampf gegen die Gesellschaft, verstärkt dadurch, dass das göttliche Strafgericht nicht mehr als eine „kindische Herausforderung der blauen Luft, die man Himmel nennt“[12], ist. Diese Gesellschaft von „durchschnittlicher Verlogenheit“[13] versucht sich Don Juan zunächst durch die Heirat mit Donna Anna einzuverleiben, stößt aber auf den Widerstand des Nonkonformismus in sich, der schnell ihren wahren Charakter erkannt hat. So bleibt ihm nur die Rolle des Verführers, in die er hineingezwängt wird und die ebenfalls ihre Funktion innerhalb der Gesellschaft erfüllt. Don Juan ergibt sich in sein ‚Schicksal‘, kann sich in der Folge kaum retten vor den Frauen und wünscht sich in der klösterlichen Abgeschiedenheit seine Erfüllung in der Geometrie. Dass Don Juan überall, wo er auftritt, wüste Zerstörung hinterlässt, wie von selbst den Tod seines Vaters Tenorio, seines ‚Freundes seit je‘ Roderigo, Donna Annas und Don Gonzalos verschuldet, ist demnach in erster Linie der Gesellschaft zuzuschreiben, die ihn dazu zwingt.
Das scheint Frischs Kritik an der Gesellschaft zu sein, die das Individuum in dessen Selbstentfaltung behindert und diese verhindert. Molière dagegen macht Don Juan zum Exponenten einer Gesellschaft, die er mit satirischen Mitteln kritisiert: (Saganell zu Don Juan) „(…) es gibt so allerhand kleine Frechlinge, die Freidenker sein wollen, ohne zu wissen, warum, die sich als starke Geister aufspielen, weil sie glauben, es kleide sie gut (…)“[14].
Der Don Juan Frischs ist in jeder Hinsicht ein ‚Held‘ der Moderne. Der traditionelle Verführer war fest eingebunden in einen Moralkodex, zu dem in diesem Rahmen keine Alternative zur Verfügung stand (Molina), auch nachdem ein solches Weltbild suspekt geworden war: „(Der Beruf des Heuchlers) ist eine Kunst, die gerade um ihrer Verlogenheit willen aufs Höchste geschätzt wird. Und selbst wenn sie entlarvt wird, wagt man nichts gegen sie zu sagen“[15]. Der moderne Verführer Frischs dagegen reflektiert sein Handeln in Bezug auf die ihn umgebende Gesellschaft, und zwar aus sich selbst heraus und nicht erst als Rechtfertigung gegen eine zunehmende Kritik an seinem Handeln. Frischs Don Juan mit seiner Liebe zur Geometrie agiert stets aus der Defensive. Da, wo er wie sein traditionelles Vorbild zum Angriff übergeht, etwa bei der Inszenierung seiner Legende, scheitert er letztlich als Gefangener einer Frau. Seine Identitätskrise schließlich ergibt sich aus der Reduktion der zwischenmenschlichen Beziehungen auf eine bloß physiologisch-triebhafte Dimension, wie sie die Gesellschaft um Don Juan exemplarisch vorführt. Es ist die Austauschbarkeit solcher Beziehungen, die ihn zu der Auffassung gelangen lässt, es gäbe keine wahre Liebe und ihn zur Flucht in die Geometrie treibt. Er setzt „Selbstlosigkeit, den wahren Zustand der Liebe, mit (dem) Verlust des Selbst“[16] gleich, ohne letztendlich wirklich zu begreifen, dass die Geometrie keinen Ersatz für eine menschliche Beziehung bietet.
Die Akzente haben sich also verschoben. Don Juan agiert nicht mehr als vollwertige Gestalt gegen eine Gesellschaft, versucht nicht länger, in einer vorbürgerlichen Welt seinen Handlungsspielraum zu erforschen und Normen abzustecken. Don Juan sieht sich jetzt in eine Gesellschaft versetzt, die ein bestimmtes Handeln von ihm erwartet, ihm eine Rolle aufzwingt, der er sich durch konsequente Selbstentfaltung im Stile eines traditionellen Don Juan eben nicht mehr entziehen kann, sondern sich im Gegenteil immer tiefer in ihr verstrickt.
2 Mittel und Funktion der Satire
„Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ soll die „Deformation der zeitgenössischen Gesellschaft und deren tödliche Auswirkungen auf das Individuum“[17] aufzeigen. Dies geschieht in erster Linie mit den Mitteln der Satire, wobei noch zu analysieren sein wird, inwieweit sich die Satire auf den Don-Juan-Stoff selbst erstreckt.
Unsere Gesellschaft agiert also in einem ‚theatralischen Sevilla‘, in einer ‚Zeit guter Kostüme‘, womit die Ernsthaftigkeit ihres Tuns schon von vornherein geklärt ist. Ihre Hauptakteure Don Gonzalo, Pater Diego, Tenorio und Donna Elvira sind Karikaturen, deren Lächerlichkeit dem Zuschauer beständig vor Augen geführt wird. Don Gonzalo, impotent aber von edler Gesinnung, ein Repräsentant des ignoranten Christentums, lebt zusammen mit seiner Meute in einem breit angelegten Mantel- und Degenspektakel (zweiter und dritter Akt) seinen Begriff von Ehre und Heldentum aus, wobei kein Moment ausgelassen wird, um diesen jeglicher geistiger Grundlage entbehrenden Anachronismus gebührend herauszustellen:
[...]
[1] Max Frisch: Don Juan oder die Liebe zur Geometrie. In: Stücke. Bd. 2. Frankfurt/M. 1971. S.17.
[2] In: Sören Kierkegaard: Entweder – Oder. Zitiert nach: Frischs ‚Don Juan oder die Liebe zur Geometrie‘ hrsg. von Walter Schmitz. Frankfurt/M. 1987. S.149.
[3] Molière: Don Juan. Stuttgart 1986. S.8.
[4] E.T.A. Hoffmann: Don Juan. Stuttgart 1985. S.57.
[5] Max Frisch: Don Juan oder die Liebe zur Geometrie. In: Max Frisch, Stücke. Bd. 2. Frankfurt/M. 1971. S.65.
[6] ebd., S.48
[7] ebd., S.45
[8] ebd., S.47
[9] ebd., S.52ff
[10] ebd., S.44
[11] ebd., S.50
[12] ebd., S.64
[13] Max Frisch: Nachträgliches zu Don Juan. In: Max Frisch, Stücke. Bd. 2. Frankfurt/M. 1971. S.315.
[14] Molière: Don Juan. Stuttgart 1986. S.9
[15] ebd., S.58
[16] Michael Butler: Die Flucht in die Abstraktion. Zitiert nach: ‚Frischs Don Juan oder die Liebe zur Geometrie‘ von Walter Schmitz. Frankfurt/M. 1987. S.296.
[17] ebd., S.289