Auf der Suche nach der verlorenen Jahrhundert-Oper. Der Komponist Erich J. Wolff (1874 - 1913)


Travail de Recherche, 2015

34 Pages


Extrait


Auf der Suche nach der verlorenen Jahrhundert-Oper

Der Komponist Erich J. Wolff

Ernest Newman prognostizierte am 1. Mai 1913 in „The Musical Times“, dass zwei oder drei der Lieder von Erich J. Wolff den Namen des jung verstorbenen Komponisten lebendig halten würden. Diese Vorhersage schien sich nicht zu verwirklichen, denn der amerikanische Musikologe hatte nur musikalische, nicht die politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorhersehen. Aber langsam scheint sich Newmans Prognose doch zu bewahrheiten.

Vor einhundert Jahren, im Jahre 1915, waren Erich J. Wolffs Kompositionen überaus populär. Kaum ein bedeutender Solist verzichtete in den Programmen seiner Liederabende auf „Alle Dinge haben Sprache“, „Knabe und Veilchen“ oder „Märchen“.

Die immense Popularität von Wolffs Liedern geht beispielsweise daraus hervor, dass in der Sammlung „2000 der beliebtesten Konzertlieder in Texten von Julius Lerche“[1] 17 Kompositionen Erich J. Wolffs, als besonders häufig im Rundfunk und im Konzertsaal erklingende Lieder aufgeführt sind[2], während Alexander Zemlinsky („Lied der Jungfrau“) und Franz Schreker (Wiegenlied der Els aus dem „Schatzgräber“)mit nur je einem Lied aufgeführt sind, –Max Schillings hingegen mit 13 Liedern. Überrundet werden diese Komponisten selbstredend von einer Vielzahl an Liedern Franz Schuberts. Statistisch ebenfalls deutlich noch vor Erich J. Wolff lagen hingegen Hugo Wolf mit 150 Liedern, Richard Strauss mit 75 Liedern, und Gustav Mahler mit 23 Liedern.

Auch die berühmten Proms-Konzerte enthielten Kompositionen Wolffs. So brachte die Sopranistin Gwendolen Maude, begleitet von Percy Pitt, am 16. September 1903 in der Queen’s Hall „Erminie“ als „Proms premiere“ heraus, und am 9. September 1929 interpretierte die Sopranistin Tatiana Makushina – neben dem Schlussgesang der Brünnhilde – Wolffs „Alle Dinge haben Sprache“, op. 19.2 und „Du bist so jung“, am Klavier begleitet von Berkeley Mason.

Adelheide Pickert wurde bei ihrem ersten Liederabend am 3. Dezember 1912 in Berlin, wo sie – neben Arien von Haydn, Bassani und Paisello und Liedern von Mahler und Haas – sechs Lieder von Wolff sang, vom Komponisten begleitet.

Denn Wolff war auch ein überaus gefragter Begleiter für Solisten, selbst wenn deren Programme keine Kompositionen von ihm enthielten, so etwa beim Liederabend mit Julia Culp am 8. Februar 1907 in Wien, wo ausschließlich Lieder von Hugo Wolf auf dem Programm standen.

Für die prominenten Sängerinnen seiner Epoche schuf Wolff auch eigene Orchestrierungen seiner Lieder.

Aus einer Auflistung der Konzerte Wilhelm Furtwänglers in Lübeck geht hervor, dass dieser Dirigent in sein Symphoniekonzert am 24. Februar 1912 neben den Vorspielen zu Wagners „Tristan und Isolde“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ – Lieder von Beethoven und Wolff integriert hat. Am 8. November 1913 begleitete er die Sopranistin Hermine Bosetti mit 4 Liedern von Wolff und Pfitzner, und in seinem Symphoniekonzert am 27. Februar 1914 standen – neben Carl Goldmarcks Ouvertüre „Sakuntala“ und Beethovens Pastorale – Klavierlieder von Mahler und Wolff auf dem Programm, bei denen Lula Mysz-Gmeiner von Furtwängler am Klavier begleitet wurde.

Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht auch Werbe-Annoncen des Verlages Harmonie. Anlässlich des Erscheinens des „in elegantem Leinenband“ gebundenen Erich J. Wolff-Albums ist zu lesen: „Ein neuer berühmter Liederkomponist[,] dessen reizende Kompositionen jetzt allenthalben volle Anerkennung gefunden haben und bereits von vielen der beliebtesten Liedersänger und -Sängerinnen, u. a. Anton Siestermann, Julia Culp, Elena Gerhardt, Paul Schmedes, Helene Staegemann, Alexander Heinemann, Tilly Koenen etc. etc. in ihr ständiges Programm aufgenommen sind, ist unstreitig Erich J. Wolff. Der unterzeichnete Verlag hat von seinen Werken bisher ca. 50 Lieder gedruckt und empfiehlt dringend jedem Musikliebhaber, sich ein Verzeichnis derselben kommen zu lassen.“

In einer Anzeige „90 Lieder und andere Compositionen von Erich J. Wolff“ im Jahre 1909 wirbt der Harmonie Verlag mit dem Hinweis, „aus dem Repertoire von: Julia Culp, Elena Gerhard [sic] Claire Dux, Anton Sistermanns, Paul Schmedes etc. etc.“, und auf der Titelseite der Publikation von elf neu zusammengestellten, besonders populären Liedern Wolffs verweist die New Yorker Harmonia Edition postum darauf, dass diese Lieder zum festen Repertoire der Solisten Julia Culp, Elena Gerhard [sic], Nelson Eddy und John Charles Thomas, sowie „many other distinquished artists“, gehörten.

Bis Ende 2009 war der 1874 in Wien geborene, später in Berlin lebende Komponist und Liedbegleiter Erich J. Wolff in keinem Musiklexikon zu finden und mit keinem Opus auf Tonträgern vertreten. Und ohne die Pflege der Liedertradition in den USA wäre dieser Komponist heute wohl völlig vergessen.

Biografische Hermen

Sucht man nach Quellen zur Vita von Erich J. Wolff, so ist die Ausbeute bei weitem geringer als dessen umfangreiches Oeuvre selbst.

Nach der Veröffentlichung der ersten Doppel-CD mit Liedern, Gesängen und einem Melodram aus der Feder von Erich J. Wolff, im Jahre 2011, war u. a. zu lesen: „Wie hat man ihn nur vergessen können? Farbenreicher als Erich J. Wolff (1874 bis 1913) schrieb kaum ein Liedkomponist des frühen 20. Jahrhunderts. 43 der meist kurzen Stimmungsbilder stellt die US-Sopranistin Rebecca Broberg, begleitet von Hans Martin Gräbner, hier überzeugend vor: eine Entdeckung.“[3]

Und seither tauchen immer wieder neue Dokumente zum Leben und Werk dieses Komponisten auf, Puzzleteile, die das Bild runden helfen[4].

In seiner Zemlinsky-Biographie nennt Antony Beaumont den Pianisten und Komponisten Erich J. Wolff den „untrennbaren Begleiter Schönbergs und Zemlinskys in den späten Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts“[5].

Auch in Alma Mahler-Werfels Tagebüchern erfolgt die erste Erwähnung Wolffs in Zusammenhang mit Zemlinsky und Schönberg: Am 3. April 1900 ist zu lesen: „Zemlinsky war leider nicht da. Nur seine beiden Freunde Wolff und Schönberg.“[6] Eine Anmerkung des Herausgebers Antony Beaumont nennt Wolff „aus ärmlichen Verhältnissen“ stammend und „weitgehend Autodidakt“.

In einem erst kürzlich wieder aufgetauchten Interview im Boston Evening Transcript vom 26. Februar 1915 berichtet die Sopranistin Julia Culp:

„Seine Eltern waren arm und ohne soziale Bestimmung. Er studierte am Wiener Konservatorium, aber die Wiener Kultur ist undenkbar ohne das Wiener Kaffeehaus. Somit fand ein beachtlicher Teil von Wolffs musikalischer Erziehung neben den kleinen runden Kaffeehaustischen, mit honigsüßem Likör statt, im einen oder anderen Café am Ring. Hier arbeitete Wolff seine Übungen im Kontrapunkt aus, dem folgte eine Runde Billard, und wenn das Kaffeehaus-Orchester die letzten schunkelnden Noten der ‚Fledermaus’ gespielt hatte, ging er zum Klavier und spielte zur Begeisterung seiner Begleiter die neu vollendete Fuge.“[7]

Eine Anekdote, die im April 1921 im Magazin „Etude“[8] erschien, berichtet, dass Wolff nach Beendigung seiner Studien am Wiener Konservatorium Johannes Brahms eine neue Komposition am Klavier vortrug, woraufhin Brahms sein verbales Lob mit einer teuren, ägyptischen Zigarette mit goldenem Mundstück bekräftigt haben soll.[9]

Zemlinskys Klavierquartett in D-Dur wurde – mit Alexander Rosé, Friedrich Buxbaum Zemlinsky und Wolff – am 23. November 1893 aus der Taufe gehoben.

Im März 1904 war Wolff Gründungsmitglied der “Vereinigung Schaffender Tonkünstler”, die im Januar des folgenden Jahres die Uraufführung der symphonischen Dichtung “Pelleas und Melisande” ihres Präsidenten Arnold Schönberg realisierte.

In der Saison 1901/02 arbeitete Wolff als Assistent Alexander Zemlinskys am Wiener Carl-Theater.

Als Nebenprodukt eines nicht zustande gekommenen Drucklegung von Zemlinskys Symphonischer Dichtung „Die Seejungfrau“, im Jahre 1903 im Süddeutschen Musikverlag in Strassburg im Elsass, wertet Beaumont das Erscheinen von Wolffs Sechs Kleinen Tänzen op. 4, in diesem Verlag im selben Jahr. Der Strassburger Verlag publizierte auch eine Vielzahl von Wolffs Liedern.

Nachdem Alma Schindlers Mutter im Jahre 1901 dafür gesorgt hatte, dass alle Kontakte zwischen Alexander Zemlinsky und Alma abgebrochen wurden, schlug Zemlinsky seiner leidenschaftlich geliebten Schülerin Alma vor, ihre privaten musikalischen Studien bei Erich J. Wolff fortzusetzen.[10]

In seiner Zemlinsky-Biographie erwähnt Beaumont die Aufregung, welche eine gemeinsame, heitere Postkarte von Wolff und Zemlinsky an Alma Schindler bei deren Stiefvater Carl Moll ausgelöst hatte: „Ist er [Zemlinsky] einer dieser Halb-Juden, denen es nie gelingt, ihr Judentum los zu werden? Und zu denken, dass er mit einem Gefährten wie Wolff – einem ungewaschenen Juden – zusammen sitzt, um die ganze Nacht durch zu trinken.“[11]

Alma Schindler charakterisierte Wolff als „effectif [!] ungewaschen. Er sprach hinter mir mit [Richard] Heuberger. Auf einmal sagte Frau [Ida] Conrat: Fräulein geben Sie acht auf ihre Haare. Ich glaube W. trägt einige Lebewesen auf sich herum. Ich setzte mich schleunigst vor, und von da ab lachten wir nurmehr über den armen Kerl.“ Ein Zusatz zeugt gleichwohl auch von erstem Interesse Alma Schindlers an Wolff: „Wenn ich den so in ein heißes Bad stecken könnte!“[12]

Zwei Wochen später, am 19. April, gab Alma Schindler in ihrem Tagebuch ein Gespräch mit Wolff im Tonkünstlerverein wieder: „Wir plauschten ganz lustig.“ Das Gespräch drehte sich über Zemlinsky und endete mit Wolffs Statement: „Wissen Sie, ich glaube das zwischen Ihnen und Zemlinsky eine Art Compromiss besteht... Leugnen Sie nicht. Ich weiß ja wie das ist. Ich bin ja auch vom G’schäft.“[13] Im anschließenden Konzert, das Zemlinsky leitete, wurden, so Alma Schindler in ihrem Tagebuch, auch „Lieder von J. Wolff (dem ungewaschenen) gesungen. Eins besonders lieb, das letzte auch bis auf den Schluss, der unfein, maniriert & bedeutungslos war. Zemlinsky stimmte mir bei – dann giengen wir.“[14]

Weitere Tagebuch-Eintragungen zeugen von Zemlinskys Eifersucht auf den Freund und von persönlichen Verstimmungen zwischen Lehrer und Schülerin. Die waren am 1. Dezember 1900 behoben, und Alma Schindler ließ sich – um einen anderen Verehrer auszustechen – von Hugo Conrat und Erich J. Wolff zu ihrem Sitzplatz im Konzert führen, bei dem u. a. Lieder aus Zemlinskys Opus 8 sowie Wolffs „Schön Liebchen“ auf dem Programm standen.

Und ein andermal ist zu lesen: „Absolut wollten Zemlinsky und Wolff mich mit in ein mir unbekanntes Haus schleppen, in dem heute eine musikalische Jause war und Lieder von Wolff, Schönberg, Zem[linsky]. etc. gesungen wurden.“[15]

Am 22. Februar 1901 kamen sich Alma Schindler und Erich J. Wolff näher: „Wie Wolff mich sah, nahm er meine Hand in seine beiden Hände, dankte mir für meinen Brief. War überhaupt sehr, sehr lieb.“ Almas Fazit liest sich – im Zusammenhang des Tagebuchs der antisemitisch denkenden, gleichwohl mit vielen Juden verkehrenden, umschwärmten jungen Frau – durchaus als ein rassistisches Vorurteil: „Ein hübscher Kerl ist er. – Wenn er nur reiner wäre.“[16]

„Im Jahre 1908“, so Antony Beaumont, übersiedelte Wolff „nach Berlin, wo er als Begleiter tätig war.“[17] Er lebte in der Landhausstr. 53 in Wilmersdorf, damals eine größere jüdische Ansiedlung.[18] Wolff betrachtete die norddeutsche Metropole jedoch nicht als seine neue Heimat, denn in einem Schreiben an die befreundete Wiener Sopranistin Lorle Meissner vom Januar 1912 heißt es: „Daheim? Nein – nur in der Landhausstraße, denn unser Daheim ist wo anders.“

In einem der wenigen erhaltenen handschriftlichen Dokumente berichtet Wolff im Januar 1912 von bevorstehenden Konzerten in Holland und im Juni von einem Ferienaufenthalt am Vierwaldstätter-See.

Lorle Meissner, die Gattin des an der Universität in Königsberg als Professor lehrenden Pianisten Rudolf Meissner, hatte sich offenbar Mitte 1911, mit der Bitte um Vorschläge für eine Auswahl seiner Lieder. an Wolff gewandt. In einem Konzert in Göttingen hatte sie dann einige von Wolffs Liedern aufgeführt, einige davon vermutlich als Uraufführung. Später ist dann auch von einem geplanten Wolff-Konzert in Berlin, mit Lorle Meissner und dem Tenor Paul Schmedes, sowie Wolff als Begleiter, die Rede.

Wolff hat Schmedes anschließend sein Lied op. 22, No. 7 gewidmet.

Vermutlich sind einige der Lieder aus dem Nachlass, deren Druckausgabe sämtlich über keine Widmungsangaben verfügen, Lorle Meissner gewidmet, denn Wolff hatte ihr Juni 1912 versprochen: „Wenn das Kind brav ist, kriegt es auch eins oder zwei oder drei – Je – nach dem.“

Glaubt man den Erinnerungen von Blanche Marchesi, so war der gefragte Begleiter am Klavier Wolff allerdings ein schlechter prima-vista-Spieler. Daher habe er die Programme, die er begleitet habe, „stets auswendig gelernt und gespielt“. Als sie, gemeinsam mit Julia Culp, nach ihrem Berliner Konzert zu später Stunde eine Abendgesellschaft bei Eteka Gerster aufgesucht habe, sollte Wolff gegen ½ 2 Uhr morgens ihren nächtlichen Vortrag begleiten. Bei der damals als Novität geltenden, noch unbekannten Arie der Tosca, soll Wolff den Wechsel von Dur nach Moll nicht wahrgenommen, die große, statt der kleinen Terz gespielt haben. Mit Dur in der Begleitung und Moll in der Gesangsstimme habe die Komposition des Zeitgenossen so scheußlich geklungen, dass die Sopranistin ihren Vortrag abgebrochen und statt der Puccini-Arie, ein von Wolff begleitetes Brahms-Lied vorgetragen habe.[19]

Um seinen Freund Arnold Schönberg finanziell zu unterstützen, empfahl Wolff im Februar 1912 Julia Culp, den Freund als Arrangeur für eine Orchestrierung von Beethovens Lied „Adelaide“ zu verpflichten. Der erfolgreichen Aufführung im Oktober desselben Jahres folgte eine weiterer Auftrag Culps an Schönberg, auch Lieder von Franz Schubert für sie zu orchestrieren. (Da Schönbergs Manuskripte verloren gingen, gab es fünf Jahre später erheblichen Ärger und Schönberg bezeichnete Culp u. a. mit dem Schimpfwort „Hure“.)[20]

Julia Culps „angenehmste Erinnerungen“[21] zeugen von mehr als „künstlerischer Übereinkunft“, sie lassen auf eine große Vertrautheit mit dem Komponisten schließen. „Himmlischer Musiker!“, ist ihr Attribut für Wolff. Der schenkte ihr einen Gordon Terrier mit Namen Solo, den sie noch nach dem Tod des Komponisten als Haustier im Grunewald spazieren führte. Außerdem heißt es im Interview: „Sein malerisches Klavierspiel blieb niemals unbemerkt, obgleich es nie vordergründig war.“

„Alle seine Lieder in den letzten sechs Jahren seines Lebens“ seien „hauptsächlich für sie geschrieben“, und „mehr als 40 von ihnen“ halte sie „ständig in ihrem Repertoire“[22].

Um so verwunderlicher ist es, dass nur zwei der Druckausgaben ihren Namen als Widmungsträgerin anführen: das „Lied der bretonischen Fischermaid“ und „Sommernacht“ aus Opus 18 sind Julia Merten-Culp zugeeignet. Die Dehmel-Lieder, op. 21, nennen keinen Widmungsträger, aber das Bostoner Interview vermerkt sybillinisch: „Sehr wahrscheinlich wurde dieses Lied spezifisch für Fräulein Culp geschrieben. Sie ist eine wunderbare Darstellerin für die Absicht dieser Lieder. Aber ‚Fitzebutze’ ist eine Herausforderung selbst für ihre Fähigkeiten.“

Die in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn verwahrten Kartengrüße Wolffs an Lorle Meissner und ihre Mutter enthalten auch Zeilen von Wolffs Gattin Helene Wolff. Der Komponist muss sie spätestens 1911 geheiratet haben: seine Lieder op. 22, 4-6, an „H.“, und zuvor schon der komplette Flaischlein-Zyklus, op. 19, an „Helene Schwarz“, scheinen sich an diese Adressatin zu richten.

Ob Helene Wolff, geborene Schwarz, identisch ist mit jener Schriftstellerin Helene Schwarz, von der Romane, wie etwa „Heurekanaan“, in Zeitungen erschienen, lässt sich vorerst nicht verifizieren. Sollte dies der Fall sein, so stammen wohl auch die anonymen Texte zu Wolffs Melodramen von ihr.

Helene Wolff begleitete ihren Ehemann auf seiner letzten Konzertreise in die USA. Letztmalig findet sie in der New York Times Erwähnung als Wolffs Witwe, die mit ihrem Mann im Hotel Astor Quartier bezogen hatte.[23]

Der völlig unerwartete Tod des Komponisten, der mit nur 38 Jahren an den Folgen einer zweifachen Mittelohroperation während ihrer gemeinsamen USA-Tournee verstarb, ist in Elena Gerhardts Autobiographie Recital [24] als ein die Sängerin niederschmetterndes Erlebnis nachzulesen. Die Leipziger (Mezzo-)Sopranistin erinnert sich:

„Meine zweite Konzertreise in Nord-Amerika begann am 31. Dezember 1912 und war bereits im Voraus ausgebucht. Sie dauerte bis Mitte April 1913. Diese Zeit begann an der Ostküste mit einer Tour von acht Konzerten und mir als Solistin des Bostoner Sinfonieorchesters, damals von Dr. Carl Muck dirigiert. Außer Boston besuchten wir New York, Washington und Baltimore. Ich sang in etwa fünfzig Konzerten, und es blieb mir in diesen Monaten wenig Zeit zum Erholen oder Spielen. Erich J. Wolff, ein ausgezeichneter Begleiter und sehr begabter Lieder-Komponist, tourte damals mit mir, zusammen mit seiner Frau. Dieses war eine glückliche Kameradschaft, die allerdings ein tragisches Ende nahm. Wolff fühlte sich plötzlich krank und musste sich einer schweren Ohroperation unterziehen. Davon erholte er sich nicht und starb drei Tage nach der Operation am 19. März 1913 in einem New Yorker Krankenhaus. Das war ein solcher Schock für mich, dass ich mehrere Wochen lang meine Konzerte absagte oder verschob. Aber seine schönen Lieder Leben weiter und werden oft in Konzerten gesungen. Diese Tragödie war eine der traurigsten, ich jemals erlebt habe.“[25]

Zu den Berliner Freunden Wolffs zählte der 1864 in Stuttgart geborene Dr. Cäsar Flaischlen, der sich bereits 1891 in Berlin niedergelassen hatte, wo er von 1895 bis 1900 Redakteur der Kunst- und Literaturzeitschrift Pan und von 1902 bis 1907 Mitherausgeber der Monatsschrift Kunst und Künstler war. In Flaischlens Gedicht „Erich J. Wolff zum Andenken. 17. März 1913“ heißt es über Wolffs Aufbruch in die Vereinigten Staaten:

„Du lachtest: wozu Abschied nehmen!

Was heißt denn heut Amerika,

fünf Tage Fahrt und wir sind da!

Ihr tut, als ging es aus der Welt,

als ging's in Krieg,

ach nein! Sagt Sieg!

Denn Sieg muss es werden, und sorgt euch nicht:

meine Liebste geht ja mit!

Und überhaupt: ein viertel Jahr,

mein Gott was will das viel besagen!

Wir hätten uns hier doch auch zu plagen

und ein paar Dollars mehr, wenn sichs fügt,

macht Musikanten immer vergnügt!“

Flaischlen zeichnet Wolffs frohen Entschluss:

„Also Schluss und lebt wohl!

Die Segel gespannt!

gibt's Maibowle, sind wir wieder im Land!“

Dem aber folgte in der Realität:

„März .. Frühling .. Ostern .. Glockenläuten ..

blitzende Sonne .. Blumen im Zimmer ..

Briefe, Karten: fröhliches Fest

und herzliche Grüße allerseits

und in der Zeitung .. zehn, zwölf Zeilen:

Erich J. Wolff.. und ein schwarzes Kreuz!“[26]

Von Nachkommen Wolffs ist nichts bekannt, obgleich beim Filmschauspieler Frank Wolff (1928 – 1971) eine große (Familien-?)Ähnlichkeit mit dem Komponisten ins Auge sticht.

Auf weitere Freunde von Wolff lassen die Widmungen seiner Werke schließen.

Seine Stücke für Klavier zu zwei Händen schlagen den Bogen zu dem bedeutendsten Virtuosen und Lehrer des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Theodore Leschetitzky (1830 – 1915). Ihm hat Wolff die „Liebesnovelle“, op. 6. freundlichst zugeeignet, was aber nur auf der bei Carl Haslinger in Wien erschienenen, deutschen Ausgabe vermerkt ist. Wolffs Opus 7 nennt verschiedene Widmungsträger: „Capriccio appassionato” ist der Wiener Pianistin Malvina von Dutschka (1846 –1918) gewidmet, die „Gavotte antique” der Gräfin Angèle Potocka, die im Jahre 1903 ein damals weit verbreitetes, noch heute lesenswertes Buch über ihren Schwager Theodor Leschetitzky veröffentlicht hat.[27]. Dessen Gattin, der berühmten Pianistin Prof. Eugenie Leschetitzky, ist Wolffs viertes Stück, „Valse Papillon“, gewidmet. Und Widmungsträgerin des dritten Stücks, „Amoroso“, war vermutlich die Pianistin Martha Schmidt-Reiser (1865-1927), einer Tochter des Arztes Dr. Karl Reiser, deren Nachlass sich in der Zentralbibliothek Zürich befindet. Die Widmungsträger der „Drei Konzert Etüden“ Wolffs sind der russische Pianist Professor Paul de Conne (1874-1959) der von 1901 bis 1915 die Ausbildungsklasse für Klavier an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst geleitet hat, der berühmte Musikpädagoge und Komponist Prof. Philipp Scharwenka (1847 – 1917), der in Berlin am Konservatorium seines Bruders tätig war, im Jahre 1892 dessen Leitung übernahm und im Jahr darauf mit der Klavierschule von Karl Klindworth zum Klindworth-Scharwenka-Konservatorium vereinigt hat, und schließlich „J. W.“ Letzterem anagrammatisch anonymisierten Widmungsträger hat Wolff besonders viele seiner Kompositionen zugeeignet, nämlich insgesamt 16 Lieder aus seinen Opus 8 – 13; somit dürfte es sich bei diesem Freund nicht um eine besonders befreundete Sängerin, sondern um eine Pianistin gehandelt haben.

Seine Vokalkompositionen dedizierte Wolff jedoch vornehmlich namhaften Gesangssolisten, wie etwa der kroatischen Diva Maja Strozzi, die in Thomas Manns Roman „Dr. Faustus“ verewigt ist, oder Brahms’ Freundinnen, der Altistin Alice Barbi und der Baronin Leonore Bach. Zu den illustren, häufig adeligen Widmungsträgern zählen auch solitäre Dichter, wie Philipp zu Eulenburgs jüngste Tochter Viktoria, unter dem Namen Tora zu Eulenburg.

Die Schrecken des bevorstehenden ersten Weltkrieges hatte der österreichische Komponist bereits in seinem Opus 22, No. 3 in Töne gefasst. In „Rekrut“, einem subversiv gegen das Militär agitierenden Klavierlied, heißt es:

Die Büchse auf der Schulter, so geht es eins und zwei! den ganzen Tag im Hof herum, der Korporal der schimpft sich krumm, und kahle Häuser stehen stumm wie Felsenwänd’ dabei. „Du Bauernkerl dahinten, dort in der letzten Reih’, du Herrgottmalefitz-Rekrut, ich hau dir noch das Kreuz kaputt!!“

Und wenn es mir auch wehe tut, ich mach’ ja keinen Schrei. Die Büchse auf der Schulter so stieg ich juch! Juchhei! noch jüngst im freien Berg herum und schoss den Gamsbock um und um und kahle Felsen standen stumm wie Häuserwänd’ dabei. Du Lumpenkerl da vorne mit deiner Schinderei! Du Himmelherrgottsakrament! Hätt ich dich nur im Felsgewänd’, dann wär’s vorbei! Dann hätt’s ein End’ auf eins und zwei...“

Diese Verse von A. de Nora zeichnete Wolff mit schreienden Akkorden und – wie die Vortragsbezeichnung lautet – „in scharf gemessenem Rhythmus“. Der scharf kontrastierende Marschduktus zeigt Verwandtschaft auf zu den schneidenden Marschweisen Gustav Mahlers. Dabei soll der ausführende Solist der in d-Moll notierten, dem Herzoglich Anhaltischen Kammersänger Alexander Heinemann gewidmeten Weise „roh“, „schmerzvoll“, begeistert“ und schließlich gar „grimmig“ charakterisieren, die unterschiedlichen direkten Reden im Forte und Fortissimo intonieren.

Aus den wenigen Quellen und spärlichen Funden in europäischen und amerikanischen Bibliotheken geht hervor, dass Wolff neben zwei Bühnenwerken mehr als 200 Lieder, 3 Melodramen, diverse Klavierstücke, ein Streichquartett und ein Violinkonzert komponiert hat.

[...]


[1] Julius Lerche: Das Wort zum Lied. 2000 der beliebtesten Konzertlieder in Texten. Eine Textprogramm-Sammlung für Rundfunk-Konzerte, Konzertbesucher und Grammophonfreunde. Bote und Bock Berlin (zweite Auflage) o. J. (1927) und: Berlin (dritte und veränderte Auflage) o. J. (1928), sowie Julius Lerche: Das Wort zum Lied. Zweiter Band. Neue Folge ernster heiterer und Operetten-Lieder-Texte. Berlin o. J. (1928).

[2] „Alle Dinge haben Sprache“, „Der Steinklopfer“, „Die Krone gerichtet“, „Es ist alles wie ein wunderbarer Garten“, „Fäden“, „Ich bin eine Harfe“, „Irmelin Rose“, „Märchen“ und „Leistenschuh über Seiden von Gold“ aufgeführt sind, im zweiten Band noch ergänzt durch „Christkindleins Wiegenlied“, „Das mitleidige Mädel“, „Der süße Schlaf, der sonst stillt alles wohl“, „Einen Sommer lang“, „Im Kahn“, „Knabe und Veilchen“, „Recht wie ein Leichnam wandle ich ungefähr“.

[3] kulturSPIEGEL 01-2010.

[4] Inzwischen verfügt Erich J. Wolff auch über eine eigene Seite bei Facebook.

[5] Antony Beaumont: Zemlinsky. Faber and Faber, London 2000, S. 32.

[6] Alma Mahler-Werfel: Tagebuch-Suiten. Hg.: Antony Beaumont und Susanne Rode-Breymann. Frankfurt 1997, S. 895.

[7] Julia Culp in Boston Evening Transcript, 26. Februar 1915. Übersetzung vom Verf.

[8] Theodor Presser (Hg.): The Etude Magazine, Philadelphia, April 1921.

[9] Vgl.: http://www.njetwork.ch/viewtopic.php?f=12&t=47 (Zugriff: 27.03.2009).

[10] Antony Beaumont: Zemlinsky. Wien 2005, S. 144.

[11] Beaumont, a. a. O., S. 85.

[12] Mahler-Werfel: Tagebuch-Suiten, a. a. O., S. 895.

[13] Mahler-Werfel: Tagebuch-Suiten, a. a. O., S. 493.

[14] Mahler-Werfel: Tagebuch-Suiten, a. a. O., S. 494.

[15] Mahler-Werfel: Tagebuch-Suiten, a. a. O., S. 597.

[16] Mahler-Werfel: Tagebuch-Suiten, a. a. O., S. 627.

[17] Beaumont, a. a. O.

[18] Erich J. Wolffs Absender auf Briefen an Frau Prof. Lorle Meissner, Königsberg. In: Universitäts- und Landesbibliothek Bonn.

[19] Vgl.: Blanche Marchesi,: The Singer's Pilgrimage. Grant Richards Ltd., London 1923, S. 250 f.

[20] Im Jahre 1913 bat sie Schönberg, auch noch um die Orchestrierung von Liedern der Komponisten Hugo Wolf, Johannes Brahms und Carl Loewe. Trotz Problemen mit dem Verlag C. F. Peters und hinsichtlich der Honorierung führte Schönberg diesen Auftrag aus, als er aber im Jahre 1927 seine Bearbeitungen für eine Veröffentlichung zurück bekommen wollte, stellte sich heraus, dass diese in einem Hotel in New York verschwunden waren. Vgl.: Beno Hofman: Julia Culp. Wereldberoemde Groninger zangeres. Uitgeverij Noordboek, Groningen 2002, S. 97 ff. und http://81.223.24.101:8081/schoenberg_test/werke_einzelansicht.php?werke_id=484&herkunft=allewerke (Zugriff: 22. 05. 2011)

[21] Julia Culp in: Boston Evening Transcript, a. a. O.

[22] ebenda.

[23] The New York Times, New York, 20. 03. 1913.

[24] Elena Gerhardt: Recital. Methuen, London 1953.

[25] Elena Gerhardt: Mein Lieder-Leben. Memoiren. Übersetzt, kommentiert und neu herausgegeben von Jutta Raab Hansen. Altenburg o. J. [2011], S. 79.

[26] Cäsar Flaischlen: Erich J. Wolff zum Andenken. 17. März 1913. In: Zwischenklänge. Altes und Neues. Stimmungen, Briefblätter, Von Festtagen und Werktagen, Dies und Das, Singlieder. In: Gesammelte Dichtungen, Bd. 5, Stuttgart 1921, S. 54 ff.

[27] Comtesse Angèle Potocka: Theodore Leschetizky. An intimate study of the man and the musician. New York 1903.

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Titre
Auf der Suche nach der verlorenen Jahrhundert-Oper. Der Komponist Erich J. Wolff (1874 - 1913)
Auteur
Année
2015
Pages
34
N° de catalogue
V287754
ISBN (ebook)
9783656880097
ISBN (Livre)
9783656880103
Taille d'un fichier
712 KB
Langue
allemand
Mots clés
suche, jahrhundert-oper, komponist, erich, wolff
Citation du texte
Prof. Dr. Peter P. Pachl (Auteur), 2015, Auf der Suche nach der verlorenen Jahrhundert-Oper. Der Komponist Erich J. Wolff (1874 - 1913), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/287754

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