Die Angst als Stilmittel in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ (1951)


Academic Paper, 2004

31 Pages, Grade: 1


Excerpt


Inhalt

1. Stilmittel und Erzählstruktur im Überblick

2. Schwierigkeiten bei der Bewältigung einer destabilisierten Gegenwart
2.1. Angst
2.1.1. Kriegsangst und die Rolle der 'Seher'
2.1.2. Individuelle Ängste
2.1.3. Vereinzelung und soziale Angst

3. Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)

1. Stilmittel und Erzählstruktur im Überblick

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Facetten der Angst als Stilmittel in Wolfgang Koeppels „Tauben im Gras“. Nach einer Hinführung zu den Stilmitteln und der Erzählstruktur soll im Kontext auf Koeppens Werk schließlich auf Schwierigkeiten bei der Bewältigung einer destabilisierten Gegenwart eingegangen werden, wobei die Angst in ihren Facetten ‚Kriegsangst‘, ‚Individuelle Angst‘ und ‚Vereinzelung und soziale Angst‘ im Vordergrund stehen wird.

Eine Romananalyse erfordert das Herausarbeiten der verwendeten Stilmittel und der Erzählstruktur, denn, wie Frederick Wyatt erklärt:

„Das Auseinanderhalten von Form und Gehalt ist [..] erkünstelt. Nicht nur ergänzen sich die beiden, sondern sie sind in Wirklichkeit nur Anschauungsformen derselben Erfahrung.“[1]

Jürgen Hein ergänzt mit konkretem Bezug auf Wolfgang Koeppen, dass „'Inhalt' und 'Erzählstrukturen' nicht voneinander gelöst werden können.“[2]

Dementsprechend soll in diesem Kapitel die Angst als stilistisches Merkmal des vorliegenden Romans in einem knappen Überblick, und darum losgelöst von der Anwendung differenzierter Erzähltheorien, deren akribische Abgrenzung im Hinblick auf das eigentliche Thema dieser Arbeit zu weit führte, angesprochen werden.[3] Zusammenfassend gilt für „Tauben im Gras“, dass

„[a]us knappen, exemplarischen Szenen, kaleidoskopartig an und ineinander gefügt und assoziativ verbunden, [..] in simultaner Entfaltung das sinnlich füllige Bild einer Großstadt und ihrer Gesellschaft“[4] entsteht, „die modellhaft konzentrierte Bestandsaufnahme eines Tagesgeschehens im Nachkriegsdeutschland.“[5]

Über 30 Figuren verschiedener Nationalität und unterschiedlicher Sozial- und Altersgruppen geraten als „Modellfiguren zeittypischer Schicksale“[6] in den Fokus; daher wird auch kein Einzelschicksal, erst recht kein Held, in den Vordergrund gerückt.

Wolfgang Koeppen interessiert „eigentlich nicht das Einmalige, Besondere, Private des Geschicks seiner Gestalten; vielmehr begreift er ihr Handeln und Leiden, ihre Reflexionen und Träume als Symptome der Zeit – einer kranken Zeit.“[7]

Die Erzählstränge, die jeweils eine Person oder Personengruppe in den Mittelpunkt rücken, setzen sich aus unterschiedlich vielen Segmenten zusammen, werden unterbrochen und später erneut aufgegriffen.

Der Szenenwechsel gleicht dabei „der Kameraschwenkung auf einen neuen Schauplatz“[8] und lässt Prinzipien „etwa nach der Art filmischer Überblendtechniken erkennen“[9].

Die Segmente werden zum Teil durch äußerliche, assoziativ wirkende Sach- und Wortelemente verknüpft, wie es beispielhaft der Übergang der Wirtshausszene, unterlegt mit dem Schlager „Candy-I-call-my-sugar-candy“, zum nächsten Abschnitt, in dem Washington Price seine Eltern anruft („call-the-States“), belegt (II 60):

„Der erste Satz eines Abschnitts greift das Bild oder die Formulierung auf, mit der der vorangehende Passus endete. Doch die Worte, in einen anderen Zusammenhang gestellt, meinen plötzlich etwas anderes“[10].

Koeppen bedient sich hier „der Doppeldeutigkeit des Wortes „to call“: nennen und anrufen. Eine einzige Vokabel leistet formale Kontinuität und plötzlichen Wechsel der Realperspektive. Und vielleicht kann man eben hierin eine semantische Funktion solcher Kunstgriffe sehen: sie schaffen Einheit, die ebenso äußerlich bleibt wie die meisten Begegnungen zwischen den Gestalten des Romans.“[11]

Des Weiteren kann eine gleiche oder parallele Ortskulisse mehrere Sequenzen zusammenfassen[12], wie die Segmente um die Ampelkreuzung (II 4255) oder die Stehausschänke (II 173177) unterstreichen.

Martin Hielscher stellt in Bezug auf die Segmentübergänge ganz richtig eine Verbindung zur Erzählhaltung[13] her:

„Koeppens Übergänge konstituieren durch den Schein der Notwendigkeit des Übergangs ein sich auktorial gebendes Erzählverhalten, das sie zugleich, aufgrund der Zufälligkeit des „Falzwortes“ verwerfen.“[14]

Tatsächlich arbeitet der Autor mit verschiedenen Perspektiven, die zuweilen schwer zu trennen sind: Sowohl mehrere personale[15] Erzählwinkel als auch der Überblick eines auktorialen[16] Erzählers treten auf und ergänzen sich. Heinz Dörfler kritisiert allerdings das Fehlen eines einheitlichen perspektivischen Standortes als standortloses Erzählen[17] und negiert damit die Möglichkeit der Multiperspektivik, die sich aus wechselnden Figurenperspektiven und der Position des Erzählers zusammensetzt. Das multiperspektivische Erzählen unterstützt die Darstellung simultaner Ereignisse, Fragmente aus unterschiedlichen Handlungssträngen alternieren dabei in schneller Folge. Um ein Maximum an Bildern und Perspektiven zu erreichen, variiert Koeppen die Konstellationen, in denen die Figuren aufeinander treffen.[18] Montagen und Assoziationen sorgen für weitere Simultaneität.[19]

Der auktoriale Erzähler in „Tauben im Gras“ hat eine zeitliche wie räumliche Übersicht über das ganze Geschehen; so schildert er kollektive Verhaltensweisen und Empfindungen wie die der evakuierten Städter (II 24f.) oder die der unbelehrbaren Deutschen. Er referiert über das Schicksal von Personen wie das des Lehrers Schnakenbach oder das der Baronin, die jeden Tag ziellos mit einer Straßenbahn in der Stadt herumfährt (II 121). Er liefert aus seinem Erzählwinkel „Bewußtseinsberichte“, charakterisiert auf direkte Weise einzelne Personen (II 15) und deckt psychologisch die Hintergründe ihres Verhaltens auf (II 156). Auch schaltet er von sich aus Rückblenden ein[20] und kommentiert Erlebnisse der Figuren (II 145).

Die oben bereits angesprochene Ambivalenz, die den auktorialen Erzähler sowohl unterstützt als auch untergräbt, zeigt sich erneut in einem Hinweis von Josef Quack: Kommentare sind danach weniger die Äußerungen eines auktorialen Erzählers, der seine Figuren dorthin führt, wohin er will, und sie denken lässt, was er will, als vielmehr seine Maßnahmen einer konzentrierten Darstellung, die das Erlebnis der Einzelpersonen begrifflich resümierend erfasst.[21] Er behält den Überblick und das Recht des Kommentierens, verliert jedoch den Status als „Schöpfer“ der Figuren, denen ein Alleinexistenzrecht zugestanden wird. Damit wird auch die Allwissenheit, die „Allmacht“ über Figuren und Handlung[22], zur Disposition gestellt. Erlach führt aus:

Der Erzähler „scheint allwissend zu sein, klappt die Hirnschalen seiner Figuren nach Belieben auf – „er (oder sie) dachte“ –, weiß dann aber wieder doch nicht alles – so zum Beispiel, ob der alte Dienstmann Josef von Odysseus erschlagen oder von einem Stein aus der verfolgenden Meute getroffen wird (II 161)[23][24].

Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der Erzähler in diesem Roman kein klassisch auktorialer ist, jedoch eine dominante Position innerhalb des Figurengefüges innehat und über die anderen Perspektiven hinausragt, „er hat das erste und das letzte Wort des Romans“[25], worin sich die führende Rolle bestätigt.

Neben der erzählerdominierten Perspektive gibt es verschiedene Erzählwinkel, in denen Reflexionen, Ängste und Träume aus der Sicht der Romanfiguren zur Darstellung gelangen. Das personale Erzählen, in erster Linie ermöglicht durch 'innere Monologe'[26] und 'erlebte Rede'[27], erfasst dabei vergleichsweise kurze Zeitabschnitte, diese aber in ihrer ganzen Dichte und Simultaneität.[28] Der innere Monolog, für den Emilias Masturbationsszene (II 3338) als bestes Beispiel dient, ist in diesem Roman vergleichsweise selten. Ihn kennzeichnet die führende Stellung der Figurenstimme, da kein Erzähler die Personenrede referiert. Im Gegensatz dazu steht die erlebte Rede, die in dieser Hinsicht „ambivalent und doppeldeutig ist, insofern es ein Erzähler ist, der die Bewußtseinsinhalte einer Romanfigur sprachlich artikuliert. [...] [E]s hängt jeweils vom Kontext ab, ob man als Leser die Doppelperspektivität noch wahrnimmt oder nur noch die Gedanken der Romanfigur zu erfassen meint.“[29]

Der Vorteil der erlebten Rede ist, dass der Autor „in gleitendem Übergang die Berichts und Sprachebenen ineinanderschieben, die Perspektiven wechseln [kann], ohne den durchgehenden Sprachduktus zu gefährden.“[30]

Der charakteristische rasche Wechsel der Perspektiven lässt sich an einem Segment, das sich auf den Schauspieler Alexander konzentriert, verdeutlichen (II 1214): Nachdem die Erzählperspektive beim Übergang in den Abschnitt noch unverändert dem des vorigen entspricht, wechselt sie nach einigen Sätzen „ohne deutlichen sprachlichen Bruch. Der Erzählerbericht wird durch die erlebte Rede abgelöst. „Was war es wieder für ein Morgen!“ könnte allerdings auch direkte Gedankenanführung, Alexanders Stoßseufzer im Zitat sein. Im nächsten Satz scheint dann der Erzähler wieder von seiner Position aus zu berichten: „Alexanders Gesicht war käsig unter der Schminke; es war ein Gesicht wie geronnene Milch.“ (II 13) Doch erneut verschiebt sich die Perspektive unmerklich zu Alexander hin, wenn seine Erinnerungen an den Aufbruch aus seiner Wohnung wiedergegeben werden. Auch dies geschieht wieder in der Form der erlebten Rede. Der Übergang von dem einen Gesichtswinkel zum anderen bleibt ungewiß, es ist zuweilen nicht eindeutig klar, von wo aus die Szene betrachtet wird. „Welche Persönlichkeit! Alexander beugte sich vor der Persönlichkeit.“ (II 13) Gehört das zu [...] Alexanders Gedanken, oder ist das ein ironischkommentierender Einwurf des Erzählers? Das Folgende ist hingegen eindeutig eine Aufzeichnung von Alexanders Bewußtseinsstrom, allerdings auch wieder eingekleidet in die indirekte Form der erlebten Rede. [...] Verkompliziert wird dieses Stück indirekten inneren Monologs noch dadurch, daß Alexander sich seiner Gedanken erinnert. „Er dachte 'schau dir es an [...]'.“ (II 14) [...] Hier ändert sich noch einmal der point of view. Er bleibt zwar in derselben Person, springt aber in der Zeit zurück [...]. Gegen Ende des Abschnittes verschiebt sich die Perspektive sprachlich bruchlos wieder zum Erzähler.“[31]

Diese Analyse demonstriert, dass die Kategorie der Erzählsituation nicht zur Charakterisierung eines größeren Abschnittes oder gar des ganzen Werks, sondern lediglich zur Klassifizierung kleinerer Erzähleinheiten dienen kann.[32]

Bei Betrachtung der von Koeppen verwendeten Sprache fällt auf, dass er sich in der Handlungsschilderung „vorwiegend eines realistisch, unmittelbar anschaulichen Stils“ bedient, „während er als Diagnostiker das Niveau einer gehobenen, metaphorisch verkleideten und häufig chiffrierten Bildungssprache bevorzugt.“[33] Es überwiegen lange

„assoziierende Wortketten, die durch einen stark adjektivischen Stil und eine parataktische Satzführung unterstützt werden, die Satzgrenzen meist nur durch Kommata getrennt. [...] Durch Parallelismen und Wiederholungen, besonders durch Anaphern und Alliterationen, die sich zu Stabreimen verdichten können, erfolgt eine Rhythmisierung der Sprache“[34].

Wolfgang Koeppen steht stilistisch in der Nachfolge großer moderner Romanciers wie Alfred Döblin, James Joyce oder John Dos Passos. Besonders Joyce ist für ihn bedeutsam:

„Ich bin überzeugt, daß man heute auch ohne die Wegmarke Joyce in seine Richtung gehen müßte. Dieser Stil entspricht unserem Empfinden, unserem Bewußtsein, unserer bitteren Erfahrung.“[35]

Der Einfluss der genannten Autoren ist augenfällig:

„Der sich assoziativ fortspinnende innere Monolog, die Montagetechnik und der filmhafte Bildwechsel, die Simultaneität [...], der Perspektivenwechsel, die Kombination von epischem Bericht, Dialog und gedachter Rede, zumal der fast unmerkliche Übergang von der objektiven Darstellung in den Monolog, die Technik [...] der Schlagzeilen – alle diese Mittel hat Koeppen weder erfunden noch in die deutsche Literatur eingeführt. Aber er ist der erste Schriftsteller, der sie mit virtuoser Selbstverständlichkeit zur epischen Bewältigung der deutschen Realität nach 1945 anzuwenden vermochte.“[36]

Der Einsatz der Stilmittel erfolgt auf ganz eigene Weise; besonders im Hinblick auf die Montagetechnik fällt auf, dass im Gegensatz zu den erwähnten Vorbildern „[n]icht Addition, sondern Komposition, nicht Collage, sondern Montage“[37] Kennzeichen des Erzählers Koeppen sind, er „breitet nicht aus, sondern verdichtet.“[38]

Als weiteren bedeutenden Aspekt des Koeppen'schen Erzählens seien die vielfältigen mythologischen und literarischen Referenzen genannt, auf die einzugehen in diesem Rahmen aufgrund ihrer Komplexität und des Themas der Arbeit nicht zu leisten ist.

2. Schwierigkeiten bei der Bewältigung einer destabilisierten Gegenwart

Das Ende des Krieges, der Beginn der Besatzungszeit, auch mit der abrupten und erzwungenen Abkehr von vormals geltenden Werten und Normen, sind eine Zäsur, die von der Bevölkerung und damit den Romanfiguren die Anpassung an neue Verhältnisse verlangt. Erfahrungen des Krieges, der Vernichtung und Vertreibung erschweren eine nahtlose Anknüpfung an das 'Vorher', auch für diejenigen, die das Ende des Nationalsozialismus erleichtert aufnehmen. Besonders schwer fällt die Verarbeitung der erlittenen Verluste: Henriette Gallaghers jüdische Eltern wurden von den Nationalsozialisten ermordet, sie selbst ist aus Deutschland geflohen. Carlas Mann ist ebenso im Krieg gefallen wie Josefs Sohn. Frau Behrend hat ihren Mann an die Tschechin Vlasta verloren, mit dem Ende des Nationalsozialismus geht zusätzlich der Verlust ihrer geschätzten gesellschaftlichen Position der „Frau Obermusikmeister“ (II 18) einher. Emilia verliert ihre finanzielle Sicherheit und ihren gesellschaftlichen Status. Schnakenbach bezahlt den Sieg über Musterungskommission und Kriegseinsatz mit körperlichem Verfall und infolgedessen mit dem Verlust seiner Arbeit.

Die durch die massiven Veränderungen eingetretene Destabilisierung der Gesellschaft ist konkret erfahrbar in den defizitären Beziehungen der Figuren und ihrem Alltagsverhalten. Der Verlust der Erfahrungssicherheit wird in der Regel begleitet von Desorientierung und Infragestellung von Werten und Weltbildern und erschwert die Bewältigung des Lebens ebenso wie das unhinterfragte Festhalten an vormals Gültigem. Schwierigkeiten treten auch auf in Bezug auf den Weg zu einem möglichen persönlichen „Glück“ und einen noch denkbaren Sinn des Lebens.

2.1. Angst

Die Atmosphäre des Romans ist geprägt von Angst, diese „beherrscht alle Lebensräume.“[39] Die zeitgeschichtlichen Umstände, „a world where the past is best forgotten, and the future insecure, if not threatening“[40], machen individuelle wie kollektive Ängste verständlich, die das substanzielle Lebensgefühl der Romanfiguren beeinflussen: „In allen wirkt Lebensangst, Fremdgefühl und Unsicherheit, sie alle sind unentschieden im Empfinden und im Tun.“[41] Die Dominanz des Angstgefühls in vielfältigen Formen bestätigt Reich-Ranicki mit seiner Einschätzung, „Tauben im Gras“ sei „vor allem eine Studie über die Angst“[42].

Bereits der Erzählduktus bildet das Grundgefühl der Angst sichtbar nach, wie Altenhofer überzeugend darlegt:

„In der Spanne zwischen zwei Katastrophen ist kein Raum für eine Geschichte mit Anfang und Ende, in einer Atempause geht dem langen epischen Atem des traditionellen Erzählers die Luft aus. Sein Redefluß wird in eine Folge disparater, simultan zu denkender Segmente zerlegt und auf verschiedene Stimmen verteilt, deren innere Monologe und erlebte Reden sich jedoch wieder zu einem „atemlosen“, gehetzten erzählerischen Staccato vereinigen.“[43]

Ein unruhiger, vorwärts drängender Sprachfluss, der dem Leser kaum Zeit zum Absetzen und Neubeginnen lässt, und die Aufzählungen und wörtlichen Wiederholungen, die den Eindruck eines hämmernden Staccatos unterstützen, versetzen den Leser beständig in Anspannung.[44] Bereits der erste Erzählabschnitt ist davon geprägt und bildet „sprachlich, stilistisch, motivisch und thematisch“ den „Makrokosmos“[45] des Romans ab.

Thomas Richner weist damit zu Recht auf die exzeptionelle Stellung, die gerade dem Anfang eines Romans zukommt, hin.[46]

2.1.1. Kriegsangst und die Rolle der 'Seher'

Das erste und das letzte Erzählsegment fungieren als Rahmen des Romans, der die Situation und die Atmosphäre verdeutlicht und dabei explizit auf die Bedrohung durch einen neuen Krieg eingeht. Die Steigerung dieser Bedrohung während des Romanverlaufs, dessen erzählte Zeit nur etwa 18 Stunden umfasst – vom Läuten zur Frühmesse (II 14) bis Mitternacht (II 218) –, ist im Vergleich beider Abschnitte unübersehbar.

Die Kriegsangst als wichtige kollektive Befind­lichkeit der Zeit speist sich aus dem Gefühl, in einem „Spannungsfeld“ (II 11) zu leben, in einer geopolitisch besonders prekären Lage eines geteilten Deutschlands in „östliche Welt, westliche Welt, man lebte an der Nahtstelle, vielleicht an der Bruchstelle“ (II 11). Dieses Gefühl wird verstärkt durch den Eindruck, dass die Gegenwart nicht mehr als eine „Atempause auf dem Schlachtfeld“ (II 11) ist, ein Krieg wie in Korea, einem ebenfalls geteilten Land, möglicherweise kurz bevorsteht und sich ein solcher aufgrund des Ost-West-Konflikts erneut zu einem Weltkrieg entwickeln könnte.

Die mentale Bereitschaft für einen neuerlichen Krieg fehlt größtenteils, „man hatte noch nicht richtig Atem geholt“ (II 11), die im persönlichen Bereich erlittenen Verluste und einschneidenden Lebensveränderungen noch nicht bewältigt. Trotzdem wird bereits für den nächsten Krieg gerüstet; das „verteuerte das Leben“ und „schränkte die Freude ein“ (II 11).

Die Medien verkünden, täglich neu, heraufziehendes Unheil und tragen mit teils bedrohlichen, teils Hilflosigkeit und Verzweiflung andeutenden Schlagzeilen, im Roman auffällig durch typographische Hervorhebung, zur weiteren Verängstigung der Menschen bei:

„Wie Blitzlichter erhellen sie die Situation und verweisen auf die geschichtliche Stunde, lassen die weltweite Bedro­hung nicht vergessen. Die unpersönliche Übermacht der augenblicklichen Weltlage kontrastiert zur persönlichen Ohnmacht der kleinen Leute.“[47]

Auch die Radionachrichten sorgen für Beunruhigung:

„Josef verstand nicht, was der Mann sagte, aber manche Worte verstand er doch, die Worte Truman Stalin Tito Korea. Die Stimme in Josefs Hand redete vom Krieg, redete vom Hader, sprach von der Furcht.“ (II 67)

Otto Lorenz spricht den Medien keine neutral informierende, sondern eine aktiv unterstützende Rolle zu:

„Vor allem das Wirklichkeitsbild der journalistischen Medien [...] bereitet durch Herbeireden einer neuen Katastrophe das Ende der „Atempause“ vor. Die Tageszeitungen und Wochenzeitschriften (mit illustrierten Lebenserinnerungen, die Schuld verdrängen und solche Helden feiern, die sich gut als Werber für ein neues Heer eignen) bahnen den Weg für eine 'Wiederkehr des Gleichen'.“[48]

Die Medien stellen sich damit in den Dienst der Staatsmänner und anderer gesellschaftlich Verantwortlicher, pressen „Geschrei und Lügen“ derer „in die Spalten“ (II 219) der Zeitungen, die vorsätzlich die Voraussetzungen für die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und einen neuen Krieg schaffen, die Angst der Menschen und die Hoffnung auf eine Abwendung der Bedrohung ignorierend: „[S]ie redeten von Aufbau und bereiteten den Abbruch vor“ (II 12).

Politiker und Medien erweisen sich als die im Prolog genannten „Auguren“[49], die „die Flugzeichen der technischen Vögel zu deuten verstehen“[50]. Im Gegensatz zur Bevölkerung sind sie davon überzeugt, dass Krieg und Wehrbeitrag unweigerlich kommen werden: Die Schlagzeilen nehmen den Charakter mythischer Weissagungen an.[51] Diese sind keine Überraschung, schließlich sind die Auguren selbst daran beteiligt, die Zeichen zu schaffen: Als „professionelle Sinnproduzenten“ wissen sie nicht nur, was geschrieben steht, sondern auch, wie es hineingelesen wird[52], sie kennen „untereinander die Tricks“, „mit denen sie zum eignen Vorteil die Unwissenden betrügen.“[53]

„Die Auguren in der Stadt lächeln. Weil das, was den einzelnen noch als unentschieden erscheint, in Wirklichkeit zwar nicht entschieden, aber doch vorprogrammiert ist.“[54]

Der letzte Erzählabschnitt verweist darauf, dass die Hoffnung auf Abwendung der Bedrohung in letzter Minute vergebens, die Chance bereits „vertan“ (II 219) ist. Besonders im Vergleich von Anfang und Ende fällt durch modifizierte Wortfolgen die Verschärfung der Bedrohung und der Angst ins Auge:

„Zum einen sind die im Druckbild hervorgehobenen Nomina „ Spannung, Konflikt “ um zwei weitere, „ Bedrohung, Verschärfung “, ergänzt worden, die eine Verschlechterung der weltpolitischen Situation signalisieren. In der Wendung „vielleicht an der Bruchstelle“ vom Anfang des Romans ist das einschränkende „vielleicht“ am Schluß fortgelassen, andererseits ist das Wort „Schlachtfeld“ am Ende um das Attribut „verdammten“ erweitert. Und schließlich hat der Autor das epische Präteritum („Flieger waren über der Stadt“) durch das ungewöhnliche Präsens („Am Himmel summen die Flieger“) ersetzt.“[55]

Das Präsens entlässt den Leser der 1950er Jahre in seine eigene Gegenwart, „leitet hinaus in die leider nicht fiktiven Gefährdungen und Brüche und Beängstigungen in der realen Zeit und Welt.“[56]

Gerade die Sonderstellungen des ersten und des letzten Erzählabschnittes weisen auf die starke Position des Erzählers hin, der sich in diesen Segmenten unumstößlich als Zeichendeuter etabliert, dabei nicht nur die Stimmung der Zeit und der Menschen einzufangen weiß, sondern auch die Machenschaften der Auguren durchschaut. Eine distanziert-gelassene Haltung ist ihm aufgrund der Brisanz der Lage unmöglich, zumal er sich selbst „zur bedrohten und angsterfüllten Allgemeinheit“[57] zählt, welche jedoch im Gegensatz zu ihm die Zeichen der Zeit in ihrer Deutlichkeit nicht sieht oder sehen will. Er rechnet sich damit

„weder den lächelnden Auguren zu, noch denen, die nicht zum Himmel aufblicken. Weder vermag er die Ahnung des Unheils in positives Wissen oder in Macht umzuwandeln, noch versteht er es, seine Angst zu verdrängen [...]; daß er die apokalyptischen Zeichen als einziger wahrzunehmen glaubt, bestätigt ihm nur seine Einsamkeit. Die Stimme des Erzählers ist die des Propheten in der Wüste.“[58]

Dies gilt ebenso für den Autor selbst, der dem Erzähler seine Weltsicht zum großen Teil eingeschrieben hat. Christoph Haas erkennt in Koeppens Nachkriegsromanen ohnehin eine für die moderne Literatur ungewöhnliche Unmittelbarkeit, in der Erzähler und Autor gleichzusetzen sind.[59]

Da Koeppen in der von ihm dargestellten Gegenwart lebt, ist sein Standpunkt nahezu zwangsläufig der des „betroffenen Beobachters“[60] und der gelassene Blick aus einer zeitlichen Distanz, die das Wissen um den Ausgang der labilen Lage in sich trägt, bleibt ihm verwehrt.

Die Fähigkeit des Zeichendeutens wird auch offenbar in seiner scharfen Kritik der „als verhängnisvoll erkannten gesellschaftlichen Verhältnisse“[61]. Seine Befürchtungen bestätigen sich zum Teil im Fortgang der Geschichte der Bundesrepublik, doch die Romanrezeption Anfang der 1950er Jahre steht für die bittere Erfahrung des Desinteresses oder des Gegenangriffs:

[...]


[1] Wyatt, Frederick: Das Psychologische in der Literatur. In: Paulsen, Wolfgang (Hg.): Psycholo­gie in der Literaturwisschenschaft. Viertes Amherster Kolloquium zur modernen deutschen Lite­ratur 1970. 1971. S. 1533. S. 25.

[2] Hein, Jürgen: Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras. In: Kaiser, Herbert/ Köpf, Gerhard (Hg.): Erzählen. Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen. 1992. S. 3850. S. 38.

[3] Elemente, die für das Thema der Arbeit – die Darstellung der Schwierigkeiten bei der Bewältigung einer destabilisierten Gegenwart – besonders relevant sind, werden an entsprechender Stelle im Verlauf der Arbeit näher behandelt.

[4] Best, Otto F.: Tauben im Gras. In: Kindlers neues Literaturlexikon. CDRom. 2000.

[5] Ebd.

[6] Erlach (1973): S. 132.

[7] Bungter Georg: Über Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“. 1968. In: Greiner (1976a): S. 186197. S. 187.

[8] Koch, Manfred: Wolfgang Koeppen. Literatur zwischen Nonkonformismus und Resignation. 1973. S. 72.

[9] Koch (1993): S. 42.

[10] Bungter (1968): S. 191.

[11] Ebd.: S. 192.

[12] Vgl. ebd.: S. 191.

[13] Ich verwende die Begriffe Erzählhaltung, Erzählwinkel, Erzählerstandpunkt, Erzählperspektive parallel, ohne mich auf spezifische Erzähltheorien festzulegen. (Vgl. Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 1998. S. 44)

[14] Hielscher, Martin: Zitierte Moderne. Poetische Erfahrung und Reflexion in Wolfgang Koeppens Nachkriegsromanen und in „Jugend“. 1988b. S. 58.

[15] Hier wird aus dem Blickwinkel einer der Handlungspersonen selbst ohne Intervention des Erzählers erzählt. (Vgl. Vogt (1998): S. 50)

[16] Ein auktorialer Erzähler verfügt souverän als „Schöpfer“ über seinen Stoff. (Vgl. Best, Otto F.: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe 1994. S. 53) Er „kann nicht nur innerhalb seiner Geschichte, sondern auch in deren Vor-Geschichte zurückgreifen und die Zukunft vorwegnehmen. Er kann uns erzählen, was an einem beliebigen Ort oder an mehreren Orten gleichzeitig geschieht; er kann uns die Gedanken und Empfindungen der Personen, prinzipiell aller Personen seiner Geschichte mitteilen – und all dies, ohne sich oder sein „Wissen“ jemals legitimieren zu müssen.“ (Vogt (1998): S. 64)

[17] Vgl. Dörfler, Heinz: Moderne Romane im Unterricht. Modelle und Mate­rialien zu: Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen, Horns Ende von Christoph Hein, Das Parfum von Patrick Süskind, Kassandra von Christa Wolf, Das Treffen in Telgte von Günter Grass, Brandung von Martin Walser. 1988. (bes. „Das Reduktionsmodell. Zur Erschließung von Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras, S. 5078) S. 67.

[18] Vgl. Bungter (1968): S. 187.

[19] Vgl. Vogt (1998): S. 140.

[20] Vgl. Erlach (1973): S. 80f.

[21] Vgl. Quack (1997): S. 124.

[22] Vgl. Vogt (1998): S. 62.

[23] Möglicherweise lässt der Erzähler aber auch bewusst in der Schwebe, wer der Täter ist, weil die Demonstration der allgemein raschen Bereitschaft zur Aggression, zum Mord zentral ist.

[24] Erlach (1973): S. 83.

[25] Quack (1997): S. 108.

[26] Diese Monologe sind die unmittelbare Umsetzung des inneren Daseins einer Figur in Sprache als Wiedergabe von unausgesprochenen Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Assoziationen (Vgl.: Best (1994): S. 249), stehen somit in der Ersten Person, im Indikativ Präsens.

[27] Die Gedanken einer Figur werden syntaktisch zwar wie in direkter Rede, aber im Imperfekt und in der Dritten Person wiedergegeben. (Vgl. Vogt (1998): S. 28)

[28] Vgl. Vogt (1998): S. 55.

[29] Quack (1997): S. 107.

[30] Miller, Norbert: Erlebte und verschleierte Rede. In: Akzente 5 (1958), S. 215. Zitiert nach: Erlach (1973): S. 78.

[31] Erlach (1973): S. 76f.

[32] Vgl. Vogt (1998): S. 52.

[33] Quack (1997): S. 108.

[34] Briel, Dagmar von: Wolfgang Koeppen als Essayist. Selbstverständnis und essayistische Praxis. 1996. S. 55.

[35] Bienek (1961): S. 249.

[36] Reich-Ranicki (1963): S. 38.

[37] Erlach (1973): S. 91.

[38] Haas, Christoph: Wolfgang Koeppen. Eine Lektüre. 1998. S. 102.

[39] Brink-Friederici, Christl: Wolfgang Koeppen. Die Stadt als Pandämonium. 1990. S. 74.

[40] Craven, Stanley: Wolfgang Koeppen: A Study in Modernist Alienation. 1982. S. 180.

[41] Klappentext der Erstausgabe, zitiert nach: Lorenz (1998): S. 108.

[42] Reich-Ranicki (1963): S. 41.

[43] Altenhofer (1983): S. 286.

[44] Vgl. auch Koch (1973): S. 82/ Bungter (1968): S. 195.

[45] Richner, Thomas: Der Tod in Rom. Eine existentialpsychologische Analyse von Wolfgang Koeppens Roman. 1982. S. 22.

[46] Vgl. ebd.: S. 21.

[47] Bungter (1968): S. 193.

[48] Lorenz (1998): S. 120.

[49] Als 'Auguren' – Priester und Vogelschauer im Rom der Antike – gelten Menschen, die sich anbahnende, vorrangig politische Entwicklungen richtig deuten und vorhersagen. Ihr 'Augurenlächeln' ist dabei ein vielsagendspöttisches des Wissens und Einverständnisses unter Eingeweihten.

[50] Lorenz (1998): S. 116.

[51] Vgl. Uske, Bernhard: Geschichte und ästhetisches Verhalten. Das Werk Wolfgang Koeppens. 1984. S. 33.

[52] Vgl. Hielscher, Martin: Wolfgang Koeppen. 1988a. S. 82.

[53] Peters, Jürgen: Wolfgang Koeppen, ein Schriftsteller der Bundesrepublik. Zu den Romanen. In: Born, Nicolas/ Manthey, Jürgen (Hg.): Nachkriegsliteratur. Spurensicherung des Kriegs/ Gab es eine Re-education der Sprache?/ Antifaschismus nach dem Faschismus/ Das Pathos des Null­punkts/ Erste Gespräche über Bäume/ Poesie nach Auschwitz. 1977. S. 303317. S. 311.

[54] Ebd.

[55] Koch (1973): S. 75.

[56] Hein (1992): S. 48.

[57] Erlach (1973): S. 75.

[58] Altenhofer (1983): S. 293.

[59] Vgl. Haas (1998): S. 228.

[60] Erlach (1973): S. 176.

[61] Ebd.

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Details

Title
Die Angst als Stilmittel in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ (1951)
College
University of Hannover
Grade
1
Author
Year
2004
Pages
31
Catalog Number
V288477
ISBN (eBook)
9783656886433
ISBN (Book)
9783656905653
File size
701 KB
Language
German
Keywords
angst, stilmittel, wolfgang, koeppens, tauben, gras
Quote paper
Claudia Kollschen (Author), 2004, Die Angst als Stilmittel in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ (1951), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288477

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