Veränderte Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen heute. Konsequenzen für Schule und Jugendhilfe


Akademische Arbeit, 2004

38 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Veränderte Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen heute
1.1 Gestaltung und Entwicklungsaufgaben der heutigen Jugendphase
1.2 Begriffliche Vorabklärungen
1.2.1 Sozialisation
1.2.2 Sozialisationsinstanzen
1.3 Veränderungen der familialen Bedingungen
1.3.1 Funktionen und Aufgaben der Familie
1.3.2 Der gesellschaftliche Wandel und die strukturellen Veränderungen
1.3.3 Auswirkungen auf die Sozialisation der Jugendlichen
1.4 Bedeutung und Sozialisationswirkung der Peergroup
1.5 Zwischenbilanz
1.6 Schule als dominierende Sozialisationsinstanz
1.6.1 Funktionen des Schulsystems
1.6.2 Sozialisationsprozesse in der Schule

2 Konsequenzen für Schule und Jugendhilfe
2.1 Aktuelle Problemlagen der Schulen
2.1.1 Belastungen des Schülerseins
2.1.2 Überlastungssituation der Lehrkräfte
2.1.3 Neue Anforderungen an die Jugendhilfe
2.2 Notwendigkeit und Begründung der Schulsozialarbeit
2.2.1 Argumente aus der Schulpädagogik
2.2.2 Argumente aus der Sozialpädagogik

Anhang

Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)

1 Veränderte Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen heute

Erwachsenwerden ist ein Prozess, der nicht einfach ist, besonders nicht in unserer Zeit. Die „berufenen Erzieher“ – Eltern, Lehrer und Sozialpädagogen klagen vermehrt über Schwierigkeiten im Umgang mit der nachwachsenden Generation (vgl. Mühlum 1995, S. 218). Diese Arbeit gibt einen kurzen Überblick über die Gestaltung der heutigen Jugendphase und über die weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen und soll das Spannungsfeld zwischen den wichtigen Sozialisationsinstanzen Familie, Peergroup und Schule aufzeigen.

1.1 Gestaltung und Entwicklungsaufgaben der heutigen Jugendphase

Die Jugendphase hat eine gravierende und lebensprägende Bedeutung für jeden Menschen. In den letzten Jahren hat gerade diese Lebensphase eine entscheidende Veränderung und strukturellen Wandel erlebt. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wird Jugend als selbstständige Phase im Verlauf des menschlichen Lebens begriffen. Sie stellt eine besondere Entwicklungsphase der Persönlichkeit dar, die den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäben unterliegt (vgl. Hurrelmann u.a. 1985, S. 10). In den letzten Jahrzehnten ist es immer schwieriger geworden, die Abgrenzung der Jugendphase zu der Kindheit und dem Erwachsensein zu definieren. Es ist einleuchtend, dass „weder ein 4jähriger noch ein 53jähriger Mensch dieser Phase zugerechnet wird“ (Butz 1998, S. 24), jedoch ist die Altersspanne, die dieser Lebensphase zugeordnet wird, nicht eindeutig zu bestimmen (vgl. Butz 1998, S. 24). Meistens wird jedoch die Altersspanne zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr als das Jugendalter bezeichnet. Manche Autoren unterteilen die Jugendzeit in unterschiedliche Phasen, wie z. B. Vorpubertät, Pubertät und Adoleszenz (vgl. Giesen 2002, S. 507) oder in pubertäre Phase (13-18jährige), nachpubertäre Phase (18-21jährige) und Nachjugendzeit (ab 21 Jahren). Bei den Jugendlichen, die schnell ins Berufsleben einsteigen, stellt die Jugendphase eine Übergangsphase dar und ist darum relativ kurz. Bei der sogenannten „Bildungsjugend“, z.B. Studenten, die lange Ausbildungszeiten haben, ist diese Lebensphase relativ lang, man kann sogar von einer „postadoleszenten“ Lebensform sprechen (vgl. Münchmeier 2001, S. 22f). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Übergang vom Kind zum Jugendlichen an den Beginn der Pubertät geknüpft ist, jedoch der Wechsel vom Jugendlichen zum Erwachsenen sich sehr individuell gestaltet und schwierig zu bestimmen ist (vgl. Butz 1998, S. 24f). Als oberste Grenze des Übergangs zum Erwachsensein wird das Alter von ungefähr 30 Jahren angesetzt mit der Begründung, dass spätestens dann in der Regel die meisten Studiengänge abgeschlossen worden sind und eine endgültige Loslösung vom Elternhaus auch in finanzieller Hinsicht erfolgt (vgl. Hurrelmann u.a. 1985, S.11).

Die Jugendphase ist eine Entwicklungsperiode, in der Mädchen und Jungen gleichermaßen stark gefordert werden und sich in einem Spannungs- und Konfliktzustand befinden, der aus der Ungleichheit zwischen der biologischen und der psychosozialen Entwicklung entsteht. Dieser Spannungszustand muss individuell gelöst werden, damit die Voraussetzung für eine „gesunde“ Weiterentwicklung der Persönlichkeit erfüllt wird. Wenn dieser Lösungsprozess im Jugendalter nicht gelingt, hat das meist krisenhafte Folgen, die sogar zu einer abweichenden Verhaltensentwicklung führen können. Diese Lösung kann jedoch nur dann letztendlich zustande kommen, wenn der Jugendliche sich von seinen Eltern innerlich ablöst und sich außerfamiliären Bezugspersonen und Anforderungen zuwenden kann (vgl. Hurrelmann u.a. 1985, S. 11f). Kennzeichnend für die Jugendzeit als eine eigenständige Lebensphase sind die sogenannten „psychosozialen Entwicklungsaufgaben“, die erfolgreich bewältigt werden müssen.

„Unter einer Entwicklungsaufgabe werden in der psychologischen Diskussion die kulturell und gesellschaftlich vorgegebenen Erwartungen und Anforderungen verstanden, die an Personen einer bestimmten Altersgruppe gestellt werden. Sie definieren für jedes Individuum in bestimmten situativen Lebenslagen objektiv vorgegebene Handlungsprobleme, denen es sich stellen muss“ (Hurrelmann u.a. 1985, S. 12).

Robert J. Havighurst (1982) stellte als erster die These auf, dass jedes menschliche Handeln auf Zielen basiert, an denen sich ein junger Mensch orientieren kann. Diese Ziele entsprechen den sogenannten Entwicklungsaufgaben, die nicht statisch sind, sondern sich in unterschiedlichen Situationen verschieden darstellen (vgl. Drilling 2001, S. 32). Erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgaben führt zur inneren Zufriedenheit und motiviert zum Lösen auch späterer Aufgaben, während Scheitern die Jugendlichen verunsichert werden und die Missbilligung der Gesellschaft zu spüren bekommen. Dadurch werden Schwierigkeiten auch beim Lösen zukünftiger Aufgaben begünstigt (vgl. Drilling 2001, S 32). Für die Adoleszenzphase werden nach Meinung mehrerer Autoren[1] folgende Entwicklungsaufgaben, die hier kurz zusammengefasst dargestellt werden sollen, klassifiziert und als Messpunkte gelingender Sozialisation verstanden (vgl. Butz 1998, S. 25; Hurrelmann u.a. 1985, S. 12f; Giesen 2002, S. 507 und Drilling 2001, S.32ff):

- Entwicklung und Übernahme der eigenen Geschlechtsrolle durch Verarbeitung und Akzeptanz der stattfindenden körperlichen Reifungsprozesse. Jugendliche müssen ihren sich während der Pubertät verändernden Körper neu kennen und annehmen lernen. Dabei sind besonders gleichgeschlechtliche Erwachsene wichtig, die als positive Vorbilder Hilfestellungen geben. Die Inszenierung des eigenen Körpers steht oft im Mittelpunkt von Jugendkulturen. Mit ihrem Auftreten wollen die Jugendlichen Reaktionen der Umwelt auslösen, bauen dadurch ihr Selbstwertgefühl auf und nehmen sich als Persönlichkeit wahr.
- Entwicklung von persönlichen Beziehungen zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen Geschlechts; Aufbau einer Partnerschaft, die langfristig die Basis für spätere eigene Familiengründung bilden kann.
- Fortschreitende Ablösung von der Herkunftsfamilie. Die Abhängigkeit von den Eltern nimmt ab und macht einer partnerschaftlichen Beziehung Platz, was jedoch meistens nicht ohne schmerzhafte Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern gelingt. Junge Menschen lernen dadurch, autonom von eigenen Eltern und auch von anderen Erwachsenen zu werden.
- Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz durch schulische und anschließend berufliche Qualifikationen, um im späteren beruflichen Leben eigene ökonomische und materielle Selbstständigkeit sichern zu können.
- Aufbau eines persönlichen mit dem eigenen Gewissen übereinstimmenden Werte- und Moralsystems. Jugendliche sollen sich sozial verantwortungsvoll verhalten und an kulturellen und politischen Bereichen der Gesellschaft partizipieren können. Doch eine Autonomie der Werte wird nur von einer Minderheit erreicht, denn in der Zeit des raschen sozialen Wandels und des Wertepluralismus sind unterschiedliche Verhaltensweisen erlaubt, was jedoch die Angst der Jugendlichen vor Ungewissheit, Beliebigkeit und Sinnentleerung erhöht.
- Entwicklung einer eigenen Identität: Jugendliche müssen sich mit sich selber auseinandersetzen, um zu wissen, was sie wollen, welche Ziele sie verfolgen und was sie in der Zukunft und in ihrem Leben erreichen möchten. Besonders stark suchen sie nach dem Sinn des Lebens allgemein und nach dem Sinn des eigenen Daseins. Gleichzeitig hinterfragen sie auch die existierenden Sozial- und Wertstrukturen nach ihrem Sinn und Bedeutung und suchen nach Antworten, die ihnen bei ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung weiter helfen.
- Entwicklung eigener Handlungsmuster im Umgang mit Medien und mit den Angeboten des Konsumwaren- und Freizeitmarktes mit dem Ziel, zu einem eigenen Lebensstil und zum bewussten und bedürfnisorientierten Umgang mit den entsprechenden Angeboten zu kommen.

Über diese Konstruktion von Entwicklungsaufgaben lässt sich die Jugendphase vom Erwachsenenalter abgrenzen. Laut K. Hurrelmann, B. Rosewitz und H. K. Wolf ist der Übergang ins Erwachsenenalter erst dann möglich, wenn alle jugendaltersspezifischen Entwicklungsaufgaben bewältigt worden sind (vgl. Hurrelmann u.a. 1985, S. 13). Jedoch wird in der Realität kaum eine dieser Entwicklungsaufgaben mit dem 20. Lebensjahr vollständig abgeschlossen[2]. So ist das Jugendalter z.B. eine Phase der intensiven Identitätssuche, aber nur selten der endgültigen Identitätsfindung (vgl. Giesen 2002, S. 507).

„Wir gehen davon aus, dass es zu krisenhaften Belastungen im Jugendalter kommt, wenn diese spannungsreichen Anforderungen nicht in Balance gehalten werden können. Gelingt die Balance, dann stellt die Jugendphase von ihrer strukturellen Anlage her eine besonders stimulations- und anregungsreiche Phase im menschlichen Lebenslauf dar“ (Hurrelmann u.a. 1985, S. 27).

Die erfolgreiche Bewältigung der obengenannten Entwicklungsaufgaben hängt von dem „sozialen Umfeld, der erworbenen Handlungskompetenz und den kognitiven Fähigkeiten ab“, das bedeutet, dass gelingende Sozialisation immer multifaktoriell bedingt ist (vgl. Schwendemann u.a. 2001, S. 39). Außerdem haben die primären Sozialisationsinstanzen Familie, Peergroup und Schule einen sehr hohen Einfluss auf die Bewältigung der psychosozialen Entwicklungsaufgaben und tragen viel zu einer erfolgreichen Entwicklung der Identität und des Selbstbewusstseins der Jugendlichen bei. Diese Sozialisationsinstanzen und deren Bedeutung für die Entwicklung der Jugendlichen sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

1.2 Begriffliche Vorabklärungen

Bevor jedoch auf die Wirkung, Veränderung und Bedeutung der einzelnen Sozialisationsinstanzen im Jugendalter eingegangen wird, sollen zunächst die Begriffe Sozialisation und Sozialisationsinstanzen erörtert werden.

1.2.1 Sozialisation

Alfred und Ingeborg Pressel definieren den Sozialisationsbegriff als einen Prozess, in dem der mit „rudimentären Instinkten“ geborene, aber für vielfältige Lernprozesse offene Mensch „durch die allgemeinen sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse wie durch spezielle Sozialisationsagenturen der jeweiligen Gesellschaft so geformt wird, dass er ihnen gemäße Einstellungen und Verhaltensweisen entwickelt“ und letztendlich selber als Erwachsener zum arbeitsteiligen Reproduktionsprozess seiner Gesellschaft beitragen kann (vgl. Pressel 2002, S. 889).

Der Mensch ist durch seine soziale Umgebung formbar und das ganz besonders im Kindes- und Jugendalter (vgl. Pressel 2002, S. 892). Klaus Hurrelmann vertritt die Auffassung, Sozialisation sei ein Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt (vgl. Hurrelmann 1985, S. 24). Das bedeutet, dass das Individuum im Verlauf einer gelungenen Sozialisation zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt wird und während dieses Prozesses seine Identität entwickelt. Diese Annahme beruht auf dem sogenannten „interaktiven Modell“[3], welches besagt, dass menschliche Entwicklungen und die Veränderung der sozialen Umwelt in einer wechselseitigen Abhängigkeit gesehen werden. Der Mensch kann seine eigene Situation bewusst reflektieren, selbstständig Ziele setzen, Mittel wählen, um diese zu erreichen und auch die Folgen seines Handelns bedenken. Als das wichtigste Kriterium für eine gelingende Entwicklung gilt nach diesem Modell der „Erwerb von bestimmten Grundqualifikationen des Handelns und der allgemeinen Kompetenz, in der gesellschaftlichen Umwelt autonom handlungsfähig zu sein und über eine eigene Identität zu verfügen“ (Hurrelmann 1985, S. 23f).

Diesen Prozess beschreibt Hurrelmann als Individuation und Integration (vgl. Butz 1998, S. 49). Unter Integration wird der Prozess der „Vergesellschaftung“ der menschlichen Natur verstanden, das bedeutet die Anpassung an gesellschaftliche Normen, Werte, Verhaltensmuster usw. Diese „Vergesellschaftung“ bietet eine Basis für die Entwicklung einer sozialen Identität der Jugendlichen, sie können sich dadurch subjektiv als ein anerkanntes Gesellschaftsmitglied begreifen. Unter der Individuation wird der Prozess der individuellen Persönlichkeitsentwicklung verstanden, d.h. Aufbau von kognitiven, motivationalen, sprachlichen, moralischen und sozialen Merkmalen und Kompetenzen und des subjektiven Selbstbildes als einzigartige Persönlichkeit (vgl. Hurrelmann 1985, S. 28).

Der Sozialisationsprozess kann dann als gelungen betrachtet werden, wenn aus der personalen und sozialen Identität eine ausgewogene Ich-Identität entsteht. Wenn Jugendliche in ihrer Umwelt selbstständig Entscheidungen treffen und handeln können, in eine sichere soziale Beziehungsstruktur eingebunden sind, in ihrer sozialen Umwelt anerkannt werden und über ein gesundes Selbstwertgefühl verfügen, haben sie diese Ich-Identität erreicht. Im weiteren Sinne schließt die Sozialisation nicht mit dem Erreichen des Erwachsenenstatus ab, sondern vollzieht sich lebenslang weiter. Sie umfasst alle weiteren Formungs- und Lernprozesse, besonders bei biographischen Veränderungen, wie z.B. Schulwechsel, Ausbildungsbeginn, Eheschließung, Pensionierung usw. (vgl. Pressel 2002, S. 891f).

1.2.2 Sozialisationsinstanzen

Die Gesellschaft begegnet Kindern und Jugendlichen natürlich nicht als etwas Ganzes und Einheitliches, sondern in der Form von den sogenannten Sozialisationsinstanzen (vgl. Butz 1998, S. 50). Darunter werden soziale Systeme, die zwischen gesellschaftlichen Strukturen und den Jugendlichen eine vermittelnde Funktion einnehmen, verstanden (vgl. Hurrelmann u.a. 1985, S. 62). Durch die zunehmende Arbeitsteilung der Sozialisation in unserer Gesellschaft erleben Kinder und Jugendliche Koordinationsschwierigkeiten, weil an sie von der Erwachsenenwelt unterschiedliche Erwartungen herangetragen werden. Familie, Kindergarten, Schulen aller Art, Betriebe und Massenmedien, staatliche Institutionen, Parteien und Verbände haben teils ergänzende, aber teils auch miteinander konkurrierende Ansprüche im Sozialisationsprozess (vgl. Pressel 2002, S. 890). Einerseits müssen die Sozialisationsinstanzen ihre Integrationsfunktion in die bestehende Gesellschaft wahrnehmen, anderseits müssen Jugendliche selbstständig eigene Deutungen und Sichtweisen entfalten und den Einfluss dieser sozialen Systeme subjektiv verarbeiten (vgl. Hurrelmann u.a. 1985, S. 62).

Von besonderer Wichtigkeit sind die sogenannten primären Sozialisationsinstanzen, weil sie die Persönlichkeitsbildung der Kinder und Jugendlichen sehr stark und unmittelbar beeinflussen. Dazu zählen Familie, Peergroup und Schule (vgl. Hurrelmann u.a. 1985, S. 62), deren Bedeutung und Wirkung in der Jugendphase im Folgenden kritisch betrachtet werden sollen.

1.3 Veränderungen der familialen Bedingungen

Zu den Grundbedürfnissen, nach denen sich die Kinder von Anfang an sehnen und die zum Teil auch noch im Jugendalter befriedigt werden müssen, gehören: Bedürfnis nach Liebe, Sicherheit, Lob, Anerkennung, Verantwortung und neuen Erfahrungen (vgl. Hamann 2000, S. 109). Die Befriedigung dieser Bedürfnisse geschieht in erster Linie in den primären Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peergroup, wobei die Familie eine besonders wichtige Rolle einnimmt (vgl. Hamann 2000, S. 109). Sie ist nämlich der Ort, an dem die Kinder ihre ersten Erfahrungen machen, ihre frühesten sozialen und kognitiven Fähigkeiten erlernen und durch Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern vieles über sich selbst und über andere Menschen lernen (vgl. Butz 1998, S. 61f). In den letzten Jahrzehnten hat die Institution Familie im Zuge des Individualisierungsprozesses und des gesellschaftlichen Wertewandels eine bedeutende Veränderung erlebt. Auch wenn sich ihre Formen, Muster und Beständigkeit stark verändert haben, wird sie von der großen Mehrheit immer noch positiv gesehen und erlebt (vgl. Münchmeier 2001, S. 23f).

1.3.1 Funktionen und Aufgaben der Familie

Vor einigen Jahren war es noch üblich, von „ der Familie“ zu sprechen. Heute ist es zunehmend schwieriger geworden, Familie verbindlich zu definieren (vgl. Granitzka/ Gravenhorst 2002, S. 312), denn der soziale Wandel der Gesellschaft spiegelt sich auch im Wandel der Familie bzw. der Familienbildung wider. Die früher selbstverständliche Familienform, die „Normalfamilie“, bestehend aus zwei miteinander verheirateten Eltern und ihren leiblichen Kindern, ist in unserer Gesellschaft nicht mehr die einzig anerkannte Familienform. Rosemarie Nave-Herz unterscheidet insgesamt 14 verschiedene Familientypen, die theoretisch und formalrechtlich auf Grund von unterschiedlichen Rollenzusammensetzungen (Eltern-,/Mutter-,/Vater-Familien) und unterschiedlichen Familienbildungsprozessen (Scheidung, Wiederheirat usw.) möglich sind (vgl. Nave-Herz 1997, S. 6f):[4]

Tabelle 1: Typologie von Familienformen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Quelle: Nave-Herz 1997, S.7.

Die heute in verschiedenen Formen gelebte Familie wird in ihrer Wirkungskraft trotz einigen unübersehbaren Defiziten hoch geschätzt. Das hängt mit den Leistungen zusammen, die sie als „Solidargemeinschaft, Lern- und Erfahrungsraum, Zelle der Gesellschaft und Integrationsfaktor des Menschen“ gegenüber dem einzelnen Individuum und der Gesellschaft erbringt (vgl. Hamann 2000, S. 14). Die Familie steht sogar unter einem besonderen Schutz des Gesetzgebers:

„Pflege und Erziehung ist das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft “ (Art. 6, Abs. 1-2 GG).

Auf die Frage nach Wirkungen und Leistungen der Familie für das Individuum und die Gesellschaft können ihre folgenden Funktionen, die miteinander sehr eng verknüpft sind, genannt werden:

- biologische Reproduktion der Gesellschaft,
- soziale Platzierung der Kinder,
- physische Erhaltung der Familienmitglieder,
- Spannungsausgleich,
- Haushalts- und Freizeitfunktion,
- Erziehungsfunktion (vgl. Hamann 2000, S.14).

Barbara und Michael Pieper fassen diese Familienfunktionen teilweise zusammen und unterscheiden zwischen Reproduktion, Haushalt, Regeneration und Sozialisation (vgl. Pieper/Pieper 1975, S. 11ff).

Jede Gesellschaft hat ein natürliches Interesse an der Reproduktion ihrer Mitglieder. Die Reproduktionsfunktion wird von der Familie durch Kinderzeugung, Verantwortung für ihre Erziehung und Versorgung und letztendlich durch ihre Eingliederung in die Gesellschaft wahrgenommen. Eng damit verbunden ist die Haushaltsfunktion, d.h. die Familie wird als eine Wirtschaftseinheit mit dem Ziel der materiellen Versorgung aller ihrer Mitglieder betrachtet. Eine Besonderheit dieser Wirtschafteinheit ist, dass unter den Familienmitgliedern eine einzigartige Solidarität herrscht. Die Räumlichkeiten und Gegenstände des Haushalts werden weitgehend als „allen gehörend“ betrachtet. Zur Regenerationsfunktion gehören alle diejenigen Aktivitäten der Familie, die sie zur „physischen und psychischen Erholung und zur emotional-affektiven Befriedigung ihrer Mitglieder“ beitragen (vgl. Pieper/Pieper 1975, S. 19). Dazu gehören Gestaltung der Freizeit (z.B. Wochenenden, Urlaub, gemeinsame Familienfeste usw.) und bestimmte Verhaltensweisen, die sehr viel zur Erhaltung und Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls beitragen. Familie stellt also einerseits einen besonderes geschützten sozialen Raum dar, in den man sich zurückziehen kann, jedoch andererseits auch einen spannungsreichen Ort, an welchem eine Vielzahl von Konflikten zusammenkommt und gelöst werden muss. Die vierte Familienfunktion, die besonders hoch gewertet wird, ist die Sozialisationsfunktion. Für eine gesunde Entwicklung eines Kindes sind emotionale Zuwendung, Wärme und Liebe lebensnotwendig. Sie prägen das sogenannte „Ur-Vertrauen“ und die „Gesellschaftsfähigkeit“ des Kindes und sind somit die „ersten Schritte“ der Sozialisation. Wenn das Kind nicht genügend Zuwendung besonders seitens der Mutter oder einer anderer Pflegeperson erfährt, so kann es zu schweren Entwicklungsstörungen und teils irreparablen Schäden kommen (vgl. Pieper/Pieper 1975, S. 14).

Die Familie als primäre Erziehungs- und Sozialisationsinstanz vermittelt Fähigkeiten zur Bewältigung des Alltags und zur Gestaltung tragfähiger zwischenmenschlicher Beziehungen und Tugenden, wie Lern- und Leistungsbereitschaft, Arbeitsmotivation, Verantwortung, Kooperationswillen und Eigenverantwortung. Sie gibt außerdem Hilfestellungen bei der Identitäts- und Wertebildung und vermittelt den Jugendlichen die Fähigkeiten, die sie brauchen, um in der Gesellschaft selbstständig zu leben und sie mit zu gestalten (vgl. Hamann 2000, S. 14-16). Die Wirkung der Familie als Sozialisationsinstanz ist stark von der ökologischen und ökonomischen Position der Familie abhängig, d.h. der Umfang der Lern- und Sozialerfahrungen wird durch die materielle und soziale Position der Familie bestimmt. Weitere Beeinflussungsfaktoren der Sozialisation können z. B. Erziehungsstil der Eltern, die Beziehung der Eltern untereinander und das Familienklima sein. In der Kindheitsphase hat die Herkunftsfamilie eine unumstrittene Position als Umweltvermittler.

Mit dem fortschreitenden Jugendalter entwickeln sich jedoch verschiedene Ablösungsprozesse, die auf kultureller (z.B. persönlicher Lebensstil), räumlicher (z.B. Auszug aus dem Elternhaus) und materieller (d.h. finanzielle Unabhängigkeit) Ebene zeitlich versetzt erfolgen können (vgl. Hurrelmann u.a. 1985, S. 63f). Durch die gesellschaftlichen Strukturveränderungen hat sich der Ablösungsprozess in verschiedene Dimensionen auseinandergezogen. Während im kulturellen Bereich, z.B. beim Medienkonsum, die Ablösung bereits in der Kindheit geschieht und auch die räumliche Ablösung recht früh einsetzt, verlängert sich die materiell-finanzielle Abhängigkeit durch den späteren Übergang in das Erwerbsleben. Die Familie bleibt auch im Jugendalter eine sehr wichtige Sozialisationsinstanz, wobei ihre Bedeutung vielmehr in Richtung materieller Sicherung und Unterstützung verlagert wird.

1.3.2 Der gesellschaftliche Wandel und die strukturellen Veränderungen

Eine der auffälligsten Erscheinungen im Strukturwandel der Familien ist, wie bereits schon erwähnt, die Pluralisierung der Haushalts- und Familienformen. Neben der sogenannten „klassischen“ Familie sind besonders Single-Haushalte, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Ein-Eltern-Familien und Stieffamilien zu berücksichtigen (vgl. Hamann 2000, S. 40). Je nach Entstehungsursachen ergeben sich komplexe Familienkonstellationen mit einem erweiterten Netzwerk an Verwandtschaftsbeziehungen (siehe Tabelle 1, S. 10). Deshalb werden zur Beschreibung dieser Familienformen oft Begriffe, wie „Heirats- und Scheidungsketten, Fortsetzungsehen, Mehrelternfamilien und Patchworkfamilien“ verwendet. Trotz der großen Zunahme anderer Familientypen in den letzen 15 Jahren ist die Zwei-Eltern-Familie mit formaler Eheschließung immer noch die dominante Familienform geblieben (83% aller Familien in Deutschland). Demnach wachsen nach Angaben des Familien-Surveys des Deutschen Jugendinstitutes 87,5% der Kinder unter 18 Jahren in den alten Bundesländern und 82% der Kinder in den neuen Bundesländern bei ihren leiblichen Eltern auf (vgl. Hamann 2000, S. 40; Nave-Herz 1997, S. 13)[5].

Eine weitere gesellschaftliche Entwicklung, die schon Ende des 19. Jahrhunderts zu einem immer häufiger werdenden gesellschaftlichen Trend wurde, ist die Zunahme von Scheidungen. Die Gründe dafür sind sehr vielfältig und individuell, wie z.B. gestiegene Selbstwertorientierungen, Zurückweisung traditioneller Vorgaben, Emanzipation der Frau und veränderte Einstellung der Bevölkerung der Ehe gegenüber. Wenn eheliche Beziehungen unharmonisch werden oder wenn einer der Ehepartner vom anderen enttäuscht wird, dann sind die meisten Paare heutzutage weniger bereit an ihrer Beziehung zu arbeiten und lösen die Ehe schneller auf. So endet in Deutschland jede vierte bis dritte Ehe und in Großstädten zunehmend jede zweite durch Scheidung, wobei die Scheidungsquote im Norden Deutschlands höher liegt als im Süden (vgl. Hamann 2000, S. 45f). Die kinderreichen Ehen werden am seltensten und die kinderlosen Ehen am häufigsten geschieden. Es werden auch relativ viele Ehen in der sogenannten „nachelterlichen Phase“, d.h. wenn die Kinder über 18 Jahre alt sind, geschieden (vgl. Nave-Herz 1997, S. 14).

[...]


[1] Siehe Fußnote 2

[2] Diese Thematik wird im Folgenden nicht ausführlicher dargestellt, denn das würde sonst den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zur weiteren Vertiefung wird folgende Literatur empfohlen: Hurrelmann, Klaus, u.a., Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, München 1985; Butz, Petra, Familie und Jugend im sozialen Wandel. Dargestellt am Beispiel Ost- und Westberlins, Hamburg 1998; Bertram, Hans, Kindheit in einer individualisierten Gesellschaft, in: Edelstein, Wolfgang u.a. (Hrsg.), Ergebnisse der Jugend- und Sozialisationsforschung. Familie und Kindheit im Wandel, Potsdam 1996.

[3] Diese Modellvorstellung ist nur eine von vielen in der Literatur bekannten theoretischen Modellen der Sozialisation, denn in den letzten Jahrzehnten haben sich Psychologie und Soziologie sehr stark mit den Sozialisationsprozessen im Jugendalter beschäftigt. Weiterführende Literatur: Hurrelmann, Klaus, u.a., Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, München 1985, S. 22-32; Butz, Petra, Familie und Jugend im sozialen Wandel. Dargestellt am Beispiel Ost- und Westberlins, Hamburg 1998, S. 49-75.

[4] Im Rahmen dieser Arbeit kann leider nicht auf die Merkmale der Familie, die in allen Kulturen und zu allen Zeiten die Familie von anderen Lebensformen unterschieden haben, eingegangen werden. Zu dieser Fragestellung wird das Buch von Rosemarie Nave-Herz, Familie heute. Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung, Darmstadt 1997, empfohlen.

[5] Im Rahmen dieser Arbeit kann leider auf Veränderungen der familialen Interaktionsbeziehungen, der Erziehungsziele und der Eltern-Kind-Beziehungen nicht eingegangen werden. Zur Vertiefung dieser Aspekte wird das Buch von Bruno Hamann: Familie und Familienerziehung in Deutschland, Donauwörth 2000, S.50-55 und S. 97-110, empfohlen.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Veränderte Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen heute. Konsequenzen für Schule und Jugendhilfe
Hochschule
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
38
Katalognummer
V288545
ISBN (eBook)
9783656887324
ISBN (Buch)
9783656905844
Dateigröße
601 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
veränderte, sozialisationsbedingungen, kindern, jugendlichen, konsequenzen, schule, jugendhilfe
Arbeit zitieren
Elisabeth Keller (Autor:in), 2004, Veränderte Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen heute. Konsequenzen für Schule und Jugendhilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288545

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