Interreligiöse Ehen im islamischen Spanien nach mālikitischem Recht

Recht als Spiegel und Gießform von Identität


Tesis (Bachelor), 2012

36 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

I. Einführung

II. Identität als Begriff: Historisch fassbar?
Muslime in al-Andalus
Christen in al-Andalus
Juden in al-Andalus

III. Recht als Spiegel und Gießform von Identität

IV. Die Mālikīya: Rechtsschule von al-Andalus
Interreligiöse Ehen in der mālikitischen Rechtstheorie
Interreligiöse Ehen in der andalusischen Jurisprudenz
Status der Ehe
Die Brautgabe - ṣadāq
Kinder und Nachkommen

V. Fazit

VI. Literatur

Umschrift arabischer Personennamen, Begriffe und Zitate

erfolgte nach den Regeln der DMG.

Fremdsprachige Zitate, sofern im Fließtext verwendet, wurden

des einfacheren und schnelleren Lesens halber von mir übersetzt.

Die Originalstelle wird jeweils in einer Fußnote genannt.

Die zitierten Autoren und Werke sind von Beginn an in gekürzter Form angegeben.

Die komplett bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis.

I. Einführung

„Je größer ein Fluß, desto irreführender sein Name.“

Ilija Trojanow [1]

Die Gesellschaft auf dem Gebiet der Iberischen Halbinsel bildete im Mittelalter ein farbenreiches Kaleidoskop unterschiedlicher Kulturen. Mit der muslimischen Eroberung 711 n. Chr. begann eine Periode, in der sich Muslime, Juden und Christen über sieben Jahrhunderte gemeinsam einen geographischen Raum teilten, dessen Name bis heute bisweilen sinnhaft für das Ideal multikultureller Koexistenz verwendet wird: al-Andalus. Zu Zeiten des Umayyadenkalifats von Córdoba (929-1031 n. Chr.) waren von der Mittelmeerküste gen Norden gut zwei Drittel der iberischen Halbinsel muslimisch beherrscht. Mit dem ab 1011 einsetzenden Zerfall des Kalifats in einzelne Kleinfürstentümer (arab. ṭ āʾifa/ pl. ṭawāʾif) – der fitna – begann die Epoche der sog. Ṭ āʾifas und es kam zu ersten Eroberungen muslimischen Gebietes durch die christlichen Königreiche des Nordens. Die durch die von Norden her vorrückenden christlichen Eroberer unter Druck geratenen Ṭāʾifas riefen nach dem Fall von Toledo im Jahr 1085 n. Chr. schließlich die aus dem Maghreb stammende Berberdynastie der Almoraviden zu Hilfe, welche abgelöst von der Herrschaft der ebenfalls maghrebinisch-berberischen Herrschaft der Almohaden (ab 1147 n. Chr.) jene multikulturelle Epoche jäh beendeten.[2]

In den Augen mancher Zeitgenossen bietet al-Andalus[3] – das maurische Spanien – bis heute eine Projektionsfläche für „Das Ornament der Welt“[4], wo unter dem Identitätspostulat einer arabisch-muslimischen Leitkultur [5] eine Kultur der Toleranz geschaffen wurde, die „eben nicht romantisch-verträumt, vielmehr auf Toleranz, Frieden und wechselseitige Befruchtung ausgerichtet“[6] gewesen sei. Verklärt diese Darstellung die Wirklichkeit aber nicht zu einem Mythos – und ist kulturelle Toleranz und Blüte denn gleichsam ein Zeichen sozialer Toleranz?

Faktisch ist diese Mythifizierung als Teil einer politischen Debatte zu verstehen, bei der auf der einen Seite Beschwörer des „Kampfes der Kulturen“ den unausweichlichen Clash zwischen abendländischer Tradition und Islam in Europa prophezeien, wohingegen die Anhänger der Idee multikultureller Koexistenz und Symbiose schwärmerisch auf eine Epoche blicken, da diese auf eben diesem Kontinent Realität gewesen sei. In ihren „Visionen von al-Andalus“ stilisiert die Literaturwissenschaftlerin María Rosa Menocal den Palast der Alhambra in Granada (erbaut 1238 n. Chr.) zur Spitze einer Entwicklung von „starken und komplexen Beziehungen unter den Religionen der Kinder Abrahams in diesem Land.“[7] Im Chor mit anderen Wissenschaftlern deckt sie hierbei vereinzelt, mitunter wahllos, die Karten des bunten Puzzles al-Andalus auf und verwischt somit die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Historizität und der herrschenden politischen Debatte. Dabei scheint gerade der Inhalt jener aktuell geführten Debatte – die Frage nach einer europäischen Identität und der Platz des Islam darin – übertragen auf jenes vermeintlich „goldene Zeitalter“ irreführend, da ein Begriff wie Identität in einem ganz anderen Rahmen betrachtet werden müsste.

Und das Rad lässt sich weiter spinnen. Unter Berufung auf den Islamkundler W. Montgomery Watt legt Claus Leggewie den Finger in die europäische Wunde psychologischer Traumata durch die kulturelle Begegnung mit dem Islam. Der Islam sei dem Westen „ursprünglich und fremd zugleich“[8], Kreuzzüge und Reconquista offenbarten „[d]as Minderwertigkeitsgefühl Westeuropas gegenüber der islamischen Zivilisation“[9]. Gutgemeinter Orientalismus zur Läuterung gegenwärtiger Ungerechtigkeiten in einer eurozentrischen Welt? Denn interessanterweise nahm die spanische Geschichtsschreibung über weite Strecken eine dem hier erwähnten konträre Sichtweise ein und erklärte die islamische Epoche Spaniens zu einer Zeit der Unterdrückung seiner christlichen Seele.[10]

Alex Novikoff stellt in einem Überblick zur Verwendung des Begriffes der Toleranz in der mit dem mittelalterlichen Spanien befassten Historiographie daher fest, dass „sich überwiegend undefinierte Kategorien von Toleranz und Intoleranz als wenig hilfreich erwiesen haben, die Komplexität einer historischen Epoche [wie der andalusischen] zu erklären“[11]. Das Phänomen dieser komplexen, ethnisch und religiös heterogenen Gesellschaft mit dem Etikett convivencia zu versehen wird, stellt einen Versuch dar, diese Gefahrenstelle zu umschiffen. Convivencia beschreibt „eine andalusische Kultur, ein andalusisches Lebensgefühl, das die Religionsgrenzen überstieg und ein – keineswegs immer harmonisches, aber doch insgesamt kooperatives – Zusammenleben von Muslimen, Juden und Christen ermöglichte.“[12] Den Horizont dieser Toleranz sah der spanische Historiker Américo Castro folgerichtig im Islam und seinem Synkretismus mit christlich-jüdischen Traditionen.[13]

Diese Arbeit soll keinesfalls als Beitrag zu irgendeiner politischen Debatte aufgefasst werden. Vielmehr gab mir jene aktuelle Debatte Anlass, meine Gedankengänge in Reaktion darauf, wie folgt niederzulegen. Die Vorstellung interreligiöser Symbiose und Fusion, ein Amalgam der Kulturen scheint faszinierend, doch gilt es die historische Wirklichkeit einer solchen Gesellschaft gemäß objektiven Kriterien nachzuvollziehen. Historische, gesellschaftliche Wirklichkeit plausibel zu rekonstruieren, ist auf vielerlei Arten möglich. Die Auswertung schriftlicher Quellen ist wohl der gewichtigste Teil heutiger Geschichtswissenschaft. Wo die schriftlichen Quellen enden, ist das Terrain geöffnet für logisch gezogene Erklärungsmuster. Besonders in Fragen der Motivation und des Antriebs einzelner historischer Persönlichkeiten oder Gruppen zu ihren jeweiligen Taten verleitet das Sujet gar zu psychologischen Schlussfolgerungen. Bei herausragenden Ereignissen wie Schlachten, dem Sturz von Dynastien, Auseinandersetzungen unter Zeitgenossen mag darin der Weisheit letzter Schluss liegen. Jedoch setzt sich Geschichte nicht aus einzigartigen, herausragenden Ereignissen zusammen, Geschichte besteht aus dem Alltag. Erst diesen Alltag zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort nachzuvollziehen, erlaubt uns, historische Ereignisse in ihrer psychologischen Dimension einzuordnen und zu umreißen. Doch wie lässt sich für den Historiker Alltag im Nachhinein rekonstruieren?

Unter Alltag verstehen wir das routinierte Tagesgeschehen und die diesem zugrunde liegende Ordnung innerhalb einer Gesellschaft, die sich je nach Perspektive territorial, religiös, militärisch, geschlechtsspezifisch etc. eingrenzen lässt – wir betrachten also entweder den Alltag von Frauen, von religiösen Gruppen usw. Dabei spielt sich routiniertes Tagesgeschehen im Rahmen fester Normen ab, die sich über Generationen eingespielt haben und gewohnheitsgemäß eingehalten werden. In dieser Form eines kollektiven Brauchs sind derartige soziale Gewohnheiten schwer fassbar. Doch nach dem Soziologen Theodor Geiger (gest. 1952) bilden sie den Grundstein, aus dem sich normatives Recht und damit „die soziale Lebensordnung eines zentral organisierten gesellschaftlichen Großintegrats“[14] ableitet (mit Großintegrat bezieht sich Geiger dabei auf Gesellschaften, in denen eine zentrale Macht Organe ausbildet, die Gesetzgebung und Judikative monopolistisch handhaben, wobei die soziale Ordnung institutionalisiert werde)[15].

Rückwirkend betrachtet, ließe sich aus überlieferten Rechtsnormen sozialer Alltag ableiten. Jedoch ist diese These nur bedingt gültig. Denn ungeachtet der jeweils herrschenden Ordnung repräsentiert normiertes Recht soziale Gewohnheiten nicht allein, sondern eignet sich ebenso als Instrument aktiver Gestaltung sozialer Wirklichkeit von oben. Recht bewegt sich daher auf der einen Seite zwischen von Institutionen zum Zwecke seiner Einhaltung verübten Zwang sowie seiner gesellschaftlichen Anerkennung und dem daraus abgeleiteten sozialen Druck auf der anderen.[16]

Dabei geht jedes Rechtssystem von einer Idealtypisierung der ihm unterstellten Individuen aus. In einer heterogenen Gesellschaft wie der andalusischen musste zwangsweise auch die dominierende islamische Jurisprudenz diese Vielfalt berücksichtigen und klar kategorisieren. In einem solchen Prozess bildet sich Identität als feststehendes Zugehörigkeitsattribut im Wechselspiel von Selbstreflexion und externer Kategorisierung aus. Ein Prozess, den wir in Kapitel III genauer definieren werden.

Wie muslimische Gelehrte auf diese in ständigem Fluss befindliche Gesellschaft in al-Andalus reagierten, macht Janina M. Safran in ihrem Artikel „Identity and Differentiation“ deutlich:

„On the one hand, they articulated and affirmed clear boundaries

between the faiths. On the other hand, they accommodated the

incorporation of new members into the community as wives and

converts by developing a legal system that regulated their incorporation.“[17]

Wie kam die soziale Heterogenität Andalusiens in der Rechtsprechung demnach zum Ausdruck? Wie wurde sie durch das Recht zu beeinflussen versucht?

Dies näher zu untersuchen, beschränken wir uns in Kapitel IV auf das Feld des Eherechts und der Eheschließung der zu jener Zeit vorherrschenden mālikitischen Rechtsschule und ihrer Gelehrten in der Praxis. Eine wegweisende Studie auf diesem Gebiet verfasste Maya Shatzmiller: „Marriage, family, and the faith: Women's conversion to Islam“. Darin untersucht sie die Auswirkungen der Konversion von Frauen zum Islam auf die Gültigkeit ihrer Ehe und ihre Rechte, und erklärt damit u.a. „einen Wandel, der sich in der Identität der Konvertierten vollzog.“[18] Schließlich ist es dieser Wandel von Identität der uns insbesondere dort interessiert, wo es zum direkten Zusammenleben von Angehörigen der verschiedenen Religionen kam: der Ehe.

Begibt man sich auf die Spurensuche nach dem viel zitierten Mythos des „goldenen Zeitalters der convivencia “ der muslimisch beherrschten heterogenen Gesellschaft von al-Andalus im 9.-11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, kommt der Rechtspraxis eine Schlüsselrolle zu. Doch auch jene (manchmal idealisierte) gesellschaftliche Realität war das Produkt eines Entwicklungsprozesses, der mit der Eroberung weiter Teile der Iberischen Halbinsel durch die Muslime in Gang gesetzt wurde.

II. Identität als Begriff: Historisch fassbar?

Muslime in al-Andalus

Bemerkenswerterweise bestand das etwa 7.000 - 12.000 Mann starke Eroberungsheer der Muslime, welches im Jahr 711 n. Chr. ohne große Widerstände fast die gesamte Iberische Halbinsel eroberte, zum größten Teil nicht aus Arabern sondern aus nordafrikanischen Berbern.[19] Wie ist es unter dieser Voraussetzung also zu erklären, dass die in der Einleitung postulierte arabisch -islamische Kultur der andalusischen Gesellschaft ihr Gesicht gab?

Insgesamt setzte sich die muslimische Bevölkerung aus folgenden, im Verlauf der Geschichte um Macht und Einfluss ringenden Gruppen zusammen:

1. Aus einer kleinen, aber dominanten arabischen Elite, die unter den Umayyaden zunächst ein Emirat errichtete (756 n. Chr.), das schließlich im Jahr 929 n. Chr. zum Kalifat mit Hauptsitz in Córdoba ausgerufen wurde.[20]

2. Aus den zahlenmäßig stärkeren und militärisch bedeutenden Berbern, die selbst erst kurz zuvor unter muslimische Herrschaft gefallen waren, die neue Religion angenommen hatten und kulturell wenig mit ihren arabischen Führern gemein hatten.[21]

3. Aus einer Bevölkerungsmehrheit von konvertierten Neumuslimen und Nachkommen aus gemischten Ehen, den sog. Muwalladūn, die von den arabischen Muslimen ihrer christlichen Abstammung und häufigen Tätigkeit als Diener wegen oft abwertend als „Slaven“ bezeichnet wurden.[22]

Jessica A. Coope sieht in der Konversion einheimischer Christen und ebenso Juden zum Islam einen religiösen und kulturellen Assimilationsprozess hin zu einer neuen Gruppenidentität, dem „der Wunsch volle gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung in der Gemeinschaft zu genießen“[23], zu Grunde lag. Neben dem formellen Akt der Konversion spielten weiter reichende Fragen, wie die nach der rituellen Reinheit unbeschnittener Konvertiten für Rechtsgelehrte eine nicht unwichtige Rolle, welche das Ansehen der Konvertierten nachhaltig beeinflusste.

Demnach erfolgte die Islamisierung durch Konversion hauptsächlich aus ökonomischen Beweggründen, was Coope daran festmacht, dass hauptsächlich Männer, die um Erfolg im öffentlichen Leben wetteiferten, diesen Schritt taten und nur in äußerst seltenen Fällen Frauen.[24] Assimilation durch Islamisierung ging der Akkulturation durch Arabisierung, ein Prozess der sich über mehrere Generationen erstreckt, also voraus.

Auch Thomas Glick macht deutlich, dass es bei der Konversion breiter Bevölkerungsschichten zum Islam keinesfalls zu einer Mischung mit der arabischen Minderheit kam. Auch die fortschreitende Arabisierung in der gesamten Gesellschaft nivellierte die sozialen Unterschiede keineswegs. Vielmehr entstand eine komplett neuartige Gesellschaftsstruktur, in der die arabischen Herrscher selbst ins Hintertreffen gerieten:

„Therefore, in such areas [...], where Arabs were outnumbered

by indigenous peoples of markedly different culture, political life

was typified by competion for power among Muslim groups.“[25]

Kennzeichnend für die muslimische Bevölkerung ist nach Glick eine tribal geprägte Gesellschaftsordnung nach Clanzugehörigkeit. Demnach mussten neu konvertierte – wohlgemerkt männliche – Muslime um die Patronage eines arabischen Stammes ersuchen, welcher fortan als ihr maulan fungierte. Der aufgenommene muwālin war zwar nicht automatisch vollwertiges Mitglied des Clans, jedoch übernahm auf diese Weise die einheimische, konvertierende Bevölkerung zunehmend die Strukturen ihrer Eroberer.[26] Geht man allerdings von der enormen Zahl an Konversionen aus, die Richard Bulliet anhand der Genealogie der Namenszusätze berechnet hat[27], ist es unwahrscheinlich, dass das tribale Netz zu deren Aufnahme fähig gewesen wäre. Glick geht daher davon aus, dass sich Konvertierende ganz unbefangen Namenszusätze zulegten, um sich mit einem prestigeträchtigen Clan zu assoziieren, ja sogar arabisierte Christen übernahmen demnach die arabische, patrilineale Namensgebung.[28] Ein Indiz dafür, dass Eheschließungen für die gesellschaftliche Stellung und den sozialen Aufstieg im ausgehenden 10. Jahrhundert an Bedeutung verloren.[29]

David Wasserstein wiederum beschreibt eine die unterschiedlichen ethnischen, muslimischen Bevölkerungsgruppen einigende, spezifisch andalusische Identität als „charakterisiert durch den Islam als Religion, Arabisch als Kultursprache, sowohl Arabisch als auch Romanisch als Umgangssprachen, und al-Andalus als ihr Territorium“[30]. Jedoch steht diese Ansicht in Diskrepanz zum Verlauf der Geschichte. Denn mit dem Niedergang des arabischen Umayyaden-Kalifats stand als Konsequenz der erwähnten sozialen Umwälzungen das Aufbrechen des inneren Zusammenhalts von al-Andalus entlang der innermuslimischen ethnischen Linien hin zu konfessionalisierten Kleinstaaten (so die gängige wörtliche Übersetzung der Bezeichnung mulūk aṭ-ṭ awāʾif).

Bemerkenswerterweise wird in der Form, in der sowohl Coope als auch Wasserstein von Identität sprechen, die Ambivalenz des Begriffs deutlich. Coope verwendet Identität als gruppenspezifisches Zugehörigkeitsmerkmal, an dem sich die verschiedenen Gesellschaftsgruppen klar unterscheiden lassen. Indikator für die jeweilige Identität bzw. Gruppenzugehörigkeit ist für Coope demnach die Religionszugehörigkeit – ein Aspekt dessen Valenz durch Konversion variabel ist.[31]

Wasserstein definiert hingegen eine andalusische Identität, die individuelle Gruppenzugehörigkeit transzendiert, und postuliert in dem Sinne das Dach, welches die Gesellschaft eint. Diese Vorstellung scheint stark an das modernen Staaten zu Grunde liegende Konstrukt von Nationalität und Staatsangehörigkeit angelehnt und dem Beispiel al-Andalus weder angemessen noch zeitgemäß zu sein.

In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, kurz auf die andalusische Šu ʿ ūbīya einzugehen, eine Randerscheinung, die sich im 11. Jahrhundert in einem einzigen wütenden Pamphlet des Muwallad Ibn Ġarsīya/García manifestierte, in welchem er „die Slaven, Byzantiner und alle Nichtaraber (ʿağam) glorifizierte.“[32] Der Begriff der Šuʿūbīya geht auf den Koranvers 49, 13 zurück:

„Ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen (indem wir euch)

von einem männlichen und einem weiblichen Wesen (abstammen

ließen), und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht,

damit ihr euch (auf Grund der genealogischen Verhältnisse)

untereinander kennt. [...] Als der Vornehmste gilt bei Gott derjenige

von euch, der am frömmsten ist. Gott weiß Bescheid und ist (über alles)

wohl unterrichtet / yā-ayyuhā an-nāsu innā ḫ alaqnākum min ḏakarin

wa-unṯā wa-ǧaʿalnākum šuʿūban wa-qabā ʾ ila li-taʿārafū inna akramakum

ʿinda Allāhi atqākum inna Allāha ʿalīmun ḫ abīrun“.[33]

Wobei für die Anhänger der Šuʿūbīya im ursprünglichen, persischen Kontext gemäß Roy Mottahedeh „šuʿūb für ein Volk stand, dessen Identität territorial festgelegt war, und qabāʾil für ein Volk stand, dessen Identität genealogisch festgelegt war.“[34] Diese Differenzierung bringt den vorliegenden Unterschied zwischen durch die Eroberung unter muslimische Herrschaft geratenen und konvertierten Völkern sowie arabisch-muslimischen Stämmen auf den Punkt, den es in den Augen der Bewegung hin zur Gleichstellung aller Muslime zu gestalten galt. Auch der im Jahr 880 n. Chr. beginnende Aufstand des Muwallad Ibn Ḥafṣūn gegen den Emir von Córdoba wird in der Literatur meist als Erhebung der einheimischen Landbevölkerung gegen die arabisch dominierte Herrschaft aus eben diesem Motiv gedeutet.[35]

[...]


[1] Trojanow, Ilija/ Hoskoté, Ranjit: Kampfabsage – Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen, München 2007, S. 15.

[2] Vgl. Krämer, Geschichte, 2005, S. 149-152.

[3] Ich verwende die Bezeichnungen Islamisches Spanien und Andalusien als Äquivalent zu al-Andalus, frei von jeglichen Nuancen politischer Couleur.

[4] Menocal, Ornament of the world, 2003.

[5] S. Bossong, Maurisches Spanien, 2007, S. 66.

[6] Ebenda, S. 120.

[7] S. Menocal: Visions of al-Andalus, in: Literature of al-Andalus, 2000, S. 1-24; hier S. 4: „[...]strong and complex relationships among the religions of the children of Abraham in this land.“

[8] S. Leggewie, Alhambra, 1993, S. 9.

[9] S. Watt, Einfluß des Islam, 1988, S. 82.

[10] So die im berüchtigt gewordenen spanischen Historikerstreit vertretene Sichtweise von Claudio Sanchez-Albornoz in seinem Werk España: un enigma histórico, Buenos Aires 1956/57. Ihm gegenüber trat Américo Castro für ein historisches Verständnis ein, nach dem die spanische Nation erst durch das Zusammenwirken der unterschiedlichen Religionen und Kulturen seit der islamischen Eroberung ihre eigenständige Identität gewann. Vgl. hierzu Bossong, Maurisches Spanien, 2007, S. 9-13; sowie Aidi, Interference, 2006.

[11] S. Novikoff, Tolerance, 2005, S. 34: „largely undefined categories of tolerance and intolerance have proved to be of little help in explaining the complexities of a historical period“.

[12] S. Bossong, Maurisches Spanien, 2007, S. 121.

[13] Nach Novikoff, Tolerance, 2005, S. 21.

[14] S. Geiger, Vorstudien, 1964, S. 339.

[15] Vgl. Raiser, Rechtssoziologie, 2007, S. 112.

[16] In der Soziologie wird dieser Zusammenhang dualistisch aufgefasst, man spricht von Zwangstheorie vs. Anerkennungstheorie; vgl. Raiser, Rechtssoziologie, 2007, S. 175ff.

[17] S. Safran, Identity, 2001, S. 575.

[18] S. Shatzmiller, Women's conversion, 1996, S. 240: „[...]a change that ocurred in the identity of converts.“

[19] Vgl. Roth, Muslim Conquest, 1976, S. 145.

[20] Vgl. Krämer, Geschichte, 2005, S. 144-147.

[21] Vgl. Coope, Conversion, 1993, S. 52.

[22] Vgl. Wasserstein, Party Kings, 1985, S. 163.

[23] S. Coope, Conversion, 1993, S. 51: „[the] desire to enjoy full social and legal status in the community.“

[24] Ebenda, S. 60.

[25] S. Glick, Spain, 2005, S. 202.

[26] Ebenda, S. 201.

[27] In seiner durchaus streitbaren Studie kommt Bulliet auf 7-8 Millionen Konversionen in al-Andalus im Zeitraum vom 8.-12. Jahrhundert und damit zu einem muslimischen Gesamtanteil von 70% an der Bevölkerung; s. Bulliet, Conversion, 1979, S. 117f.

[28] Vgl. Glick, Spain, 2005, S. 146-159.

[29] Vgl. Guichard, Structures, 1977, S. 242.

[30] S. Wasserstein, Party Kings, 1985, S. 163: „This ethnicity was characterized by Islam as a religion, Arabic as the language of culture, both Arabic and Romance as the languages of speech, and al-Andalus as its territory.“

[31] Vgl. Coope, Conversion, 1993, S. 56.

[32] S. Monés, Ibn G̲h̲arsiya, 1971, S. 773: „glorifying the Slavs, the Rūm and all the non-Arabs (ʿağām)“.

[33] Deutsche Übersetzung nach Paret, Rudi: Der Koran, Stuttgart 2010, S. 365.

[34] Zitiert nach Enderwitz, al-S̲hu ʿūbiyya, 1997, S. 514: „[...]whereby s̲h̲u ʿūb stood for a people whose identity was determined by territory, and ḳabā ʾ il stood for a people whose identity was determined by genealogy.“

[35] Vgl. Tibi, ʿUmar b. Ḥafṣūn, 2000.

Final del extracto de 36 páginas

Detalles

Título
Interreligiöse Ehen im islamischen Spanien nach mālikitischem Recht
Subtítulo
Recht als Spiegel und Gießform von Identität
Universidad
Free University of Berlin  (Islamwissenschaft)
Calificación
1,0
Autor
Año
2012
Páginas
36
No. de catálogo
V288973
ISBN (Ebook)
9783656893806
ISBN (Libro)
9783656893813
Tamaño de fichero
975 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Identität, al-Andalus, Mālikiya, Recht, Eherecht, Historisch, convivencia
Citar trabajo
Ruben Schenzle (Autor), 2012, Interreligiöse Ehen im islamischen Spanien nach mālikitischem Recht, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288973

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