Anglizismen in der russischen Sprache


Examination Thesis, 2004

71 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

Einleitung

1. Anglizismen im Russischen – ein historischer Überblick
1.1 Anglizismen im Russischen vor dem 20. Jahrhundert
1.2 Anglizismen im Russischen im 20. Jahrhundert

2. Begriff des Anglizismus und Typologie von Anglizismen im Russischen
2.1 Semantische Typologie
2.2 Typologie nach dem Assimilationsgrad

3. Entlehnungsgründe und Assimilationsbedingungen von Anglizismen im Russischen
3.1 Außersprachliche Entlehnungsgründe
3.2 Innersprachliche Entlehnungsgründe
3.3 Assimilationsbedingungen von Entlehnungen im Russischen

4. Einführungsmechanismen von Anglizismen ins Russische
4.1 Transplantation
4.2 Transliteration

5. Formale Veränderungen von Anglizismen
5.1 Phonologische Ebene
5.1.1 Vokale
5.1.1.1 Entlehnung des englischen [æ]
5.1.1.2 Entlehnung des englischen Halbvokals [w]
5.1.2 Konsonanten
5.1.2.1 Palatalisation von Konsonanten
5.1.2.2 Stimmhafte und stimmlose Endkonsonanten
5.1.2.3 Anglizismen mit Doppelkonsonanten
5.2 Morphologische Ebene
5.2.1 Substantive
5.2.1.1 Substantive auf –инг
5.2.2 Adjektive
5.2.3 Verben
5.3 Wortbildung mit Anglizismen
5.3.1 Ableitungen von Anglizismen
5.3.2 Zusammensetzungen mit Anglizismen
5.4 Kalkierungen

6. Inhaltliche Veränderungen von Anglizismen im Russischen
6.1 Aktualisierte Lexik
6.2 Umorientierte Lexik
6.3 Determinologisierte Lexik
6.4 Neuentlehnungen

7. Funktionsbereiche von Anglizismen
7.1 Politik, Rechtswesen, staatliche Organisation
7.2 Wirtschaft
7.3 Kultur/Alltagsleben
7.4 Sekundäre und versteckte Anglizismen

8. Anglizismus versus eigensprachlicher Begriff bzw. anderes Lehnwort
8.1 Имидж versus образ
8.2 Саммит versus встреча на высшем уровне
8.3 Спонсор versus меценат
8.4 Брифинг versus пресс-конференция

9. Stilistische Funktionen von Anglizismen

10. Anglizismen: Pro & Contra
10.1 Anglizismen in der Rezeption von RussischsprecherInnen
10.2 Anglizismen in der Rezeption von LinguistInnen
10.3 Puristische Tendenzen in der russischen Linguistik
10.4 Braucht Russland Sprachpolitik gegen Anglizismen?

Fazit

Bibliographie

Einleitung

Коллоквиум штормило.

Схватились дискутанты.

Один сказал:

\

- Маркетинг!

Другой отрезал:

- Брифинг!

А третий рявкнул:

- Клиринг!

И грохнул кулаком.

Так в нашем регионе

Достигнут был консенсус

Посредством плюрализма,

Хотя и эксклюзивно,

Но что весьма престижно –

Без спонсоров притом![1]

Dieser Vers, der 1989 in einer der führenden russischen Zeitungen erschienen ist, ist ein klarer Ausdruck dessen, was von vielen RussischsprecherInnen und LinguistInnen als das wichstigste Merkmal der neuesten sprachlichen Entwicklung in Russland empfunden wird: Eine Vielzahl von Entlehnungen aus der amerikanischen Variante des Englischen, die Ende des 20. Jahrhunderts in die russische Sprache Eingang gefunden haben, sind inzwischen im russischen Sprachgebrauch fest verankert. Duličenko führt den Begriff русангл bzw. интеррусский язык (interrussische Sprache) ein, um den heutigen Zustand des Russischen zu charakterisieren[2]. Diese Begriffe bezeichnen das sprachliche Konstrukt, in welchem Elemente aus beiden Sprachen vereinigt sind.

Der oben zitierte Text kann ebenfalls als Widerhall der gesellschaftlichen Veränderungen, die Ende des 20. Jahrhunderts Russland erschüttert haben, interpretiert werden. Das Verschwinden vieler sowjetischer Realien und Konzepte führte dazu, dass deren Bezeichnungen heute in den passiven Wortschatz des Russischen übergegangen sind. Dies betrifft in erster Linie politische Termini der sowjetischen Epoche und wirtschaftliche Begriffe, die für sozialistische Planwirtschaft typisch waren. Gleichzeitig wurden durch die gesellschaftlichen Neuerungen sprachliche Elemente aktiviert, die sich an der Peripherie des sprachlichen Bewusstseins von RussischsprecherInnen befanden. Der Prozess der lexikalischen Aktualisierung ging mit dem Umwertungsprozess von Begriffen, die früher ausschließlich zur Bezeichnung von ‚fremden’, ausländischen Realien verwendet wurden, einher. Das derzeit besonders intensive Eindringen englischer Fremdwörter ins Russische, bedingt durch die Globalisierung der Wirtschaft und die weltweit angewendeten Informationstechnologien, kann als Internationalisierung der russischen Sprache gedeutet werden.

Wie der russische Staat selbst, wird auch die russische Sprache heute durch Prozesse der sprachlichen Demokratisierung und Liberalisierung gekennzeichnet. Sprachliche Normen, die im totalitären sowjetischen Staat Normalität waren, werden gesprengt. Eine Flut von Dialektismen, Jargonismen und Vulgarismen strömt in die Alltagssprache, in die Sprache der Medien und sogar in die russische Literatursprache. Hat sich der sprachliche Geschmack der Nation verschlechtert? Kann man die modernen sprachlichen Tendenzen, vor allem die starke Vorliebe für Anglizismen, als Mode sehen? Sind Anglizismen eine Gefahr für die Eigenständigkeit des Russischen?

Diese Arbeit präsentiert gegensätzliche Standpunkte, die in der Forschung zu diesem Thema vertreten werden. Krysin sieht in der aktiven Verwendung von Anglizismen keine Gefahr für das Russische[3]. Dunn plädiert dafür, den Einfluss von Anglizismen nicht zu übertreiben[4]. Kostomarov und Duličenko vertreten eine puristische Ansicht und lehnen Anglizismen ab[5]. Zwecks vollständiger Darstellung der Rezeption von Anglizismen wird auch der Umgang mit Anglizismen aus der Perspektive der RusssischsprecherInnen vermittelt.

Im Rahmen dieser Arbeit sollen Antworten auf folgende Fragen gefunden werden:

Welche Entlehnungsgründe gibt es?

Wie verlief der Entlehnungsprozess aus dem Englischen aus der historischen Perspektive?

Welche Bereiche der Lexik sind von der Anglifizierung bzw. Amerikanisierung des Russischen betroffen?

Wie werden Anglizismen auf verschiedenen Ebenen der Sprache (der phonologischen, morphologischen, semantischen) assimiliert?

Entlehnungen sind kein neuartiges Phänomen der russischen Sprachgeschichte, deshalb wird ein historischer Überblick über Anglizismen im Russischen vor und im 20. Jahrhundert an den Anfang gestellt. Im Weiteren wurde folgende Vorgehensweise gewählt: nach der Begriffsbestimmung von Bußmann, Betz und Baš werden Entlehnungsgründe sowie allgemeine Assimilationsbedingungen von Entlehnungen im Russischen beschrieben. In diesem Kapitel beziehe ich mich vor allem auf Krysin, Sorokin, Aristova und Filipovič. Ein wichtiger Baustein der Arbeit ist die Darstellung der Einführungsmechanismen von Anglizismen ins Russische. Es werden drei Einführungsarten (Transplantation, Transliteration und praktische Transkription) anhand der Untersuchungen von Timofeeva detailliert beschrieben. Sie zeigen die graphischen Veränderungen, die Anglizismen in der Aufnahmesprache erfahren. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird mithilfe der Analysen von Holden, Timofeeva, Shakhovsky, Sešan u.a. gezeigt, welchen Veränderungen die Lehnworte auf der phonologischen und morphologischen Ebene unterliegen. Dabei wird ausführlich auf die Wortbildungsmechanismen der Anglizismen eingegangen. In diesem Kapitel beziehe ich mich auf die entsprechenden Untersuchungen von Popp. Die formalen und inhaltlichen Veränderungen der Anglizismen im Russischen (untersucht von Ferm) werden anhand von ausgewählten Beispielen dargestellt. Zuletzt werden stilistische Funktionen von Anglizismen im Russischen genannt und durch Beispiele illustriert. Eine Liste von Anglizismen, aufgeführt nach ihren Funktionsbereichen, vervollständigt die Arbeit. Das Anliegen dieser Arbeit ist es zu zeigen, auf welche Art und Weise sich Anglizismen an das russische Sprachsystem anpassen und, davon ausgehend, aufzuspüren, inwiefern durch sie die Eigenständigkeit des heutigen Russischen bedroht wird oder nicht.

Das verwendete Sprachmaterial wurde der überregionalen russischen Presse

(April - September 2003), Internetseiten und Forschungsliteratur entnommen. Im Rahmen dieser Arbeit kann kein Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung aller in Hinblick auf Anglizismen wichtigen Aspekte erhoben werden. Vielmehr soll ein Überblick über Anglizismen im heutigen Russischen unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung der Sprache gegeben werden.

1. Anglizismen im Russischen – ein historischer Überblick

1.1 Anglizismen im Russischen vor dem 20. Jahrhundert

Die Übernahme von Elementen aus anderen Sprachen stellt keineswegs ein neuartiges Phänomen für die russische Sprache des 20. Jahrhunderts dar. In der modernen russischen Sprache findet man Wörter aus dem Niederländischen, Deutschen, Französischen, Englischen, Italienischen sowie Termini griechischen und lateinischen Ursprungs, die bereits in der Zeit von 1697-1724 ins Russische kommen. In diesem Zeitraum findet eine intensive Entwicklung des Schiffbaus, des Militärwesens und der Industrie statt, die neue Nominationen mit sich bringt. In Russland liegt der industrielle und technische Entwicklungsstand im Vergleich zu Europa so weit zurück, dass die westlichen Realien und entsprechende Benennungen nicht vorhanden sind. Die fremdsprachigen Lexeme werden entweder in der Originalform oder als Kalkierungen[6] übernommen.

Aristova unterscheidet drei Etappen russisch-englischer Beziehungen[7]:

1. 1553-1649 – Entwicklung intensiver Handelsbeziehungen zwischen Russland und England;
2. 1696-1725 – Epoche Peter I.: Intensivierung der Beziehung mit mehreren europäischen Ländern, darunter England;
3. Ende des 18.- Mitte des 19. Jahrhunderts: Verstärkung der diplomatischen und der Handelsbeziehungen zwischen Russland und England.

Im Folgenden werden diese Etappen ausführlich beschrieben.

Erste Handelsbeziehungen zwischen Russland und England beginnen sich zu entwickeln in der Epoche von Ivan dem Schrecklichen (1533-1584). Englische Kaufleute geniessen den Vorteil, in Russland zollfrei zu handeln. Viele englische Apotheker, Ärzte, Schiffsbauingenieure arbeiten in Russland. 1560 werden dauerhafte gegenseitige diplomatische Vertretungen in London und Moskau gegründet, deren Berichte wichtige Zeugnisse russisch-englischer Sprachkontakte dieser Epoche sind. In den Jahren 1555-1649 kommen erste Anglizismen ins Russische: сер , ерль , местер , лорд , лорд - трезер , лорд - кипер, etc. Aristova stellt fest, dass für diese Epoche eine breite Varietät in der Schreibweise und Aussprache von Anglizismen vorhanden ist, denn sie werden nach individuellen Aussprachebesonderheiten ohne feste Rechtschreibregel ins Russische übertragen[8].

1698 reist Peter I. nach London, um sich mit den Funktionen des englischen Parlaments vertraut zu machen und sein Studium des Schiffsbauwesens fortzusetzen, das er in Holland begann. Es gelingt dem Zar, englische Schiffsbaumeister und Ingeniere nach Russland zu bringen. Anfang des 18. Jahrhunderts reisen viele russische Lehrlinge nach England, um Schiffsbau-, Militär- und Ingenieurwesen zu studieren und die englische Sprache zu lernen. In der Epoche Peters I. werden

ca. 3 000 Wörter aus mehreren Sprachen ins Russische übernommen, dabei beträgt der Anteil von englischen Wörtern nur ca. 5% vom gesamten Lehngut dieser Zeit[9]. Meist sind es Fachtermini des Schiffswesens (катер , мичман , румб , шквал , шхуна, etc .) sowie einige englische Realien (билль , вист , грог , милорд , etc.). In dieser Zeit gibt es viele Schriftstücke, meist aus den Bereichen der Wissenschaft und Technik, die ins Russische übertragen werden. Im ersten Viertel des

18. Jahrhunderts ist das Prinzip der parallelen Veröffentlichung von Vorschriften, Reglements, Lehrbüchern und diplomatischen Schriftstücken auf Russisch und Englisch weit verbreitet.

Wie reagieren russische Bürger Anfang des 18. Jahrhunderts auf die Flut von Fremdwörtern? Nach Biržakova, Vojnova, Kutina[10] wird der Gebrauch von Fremdwörtern als Zeichen höherer Bildung gewertet. In der Epoche Peters I. gibt es praktisch keine puristischen Tendenzen in der russischen Philologie. Der Fokus der Philologie dieser Zeit liegt auf der Beziehung zwischen der russischen und der griechischen, lateinischen und polnischen Sprache. V. Tatišev, ein Linguist der Petrinischen Epoche, unterschied zwischen nützlichen und überflüssigen Entlehnungen. Zu nützlichen Entlehnungen zählte er solche Begriffe, die nicht übersetzt werden konnten, beispielsweise физика , математика , метафизика. Zu überflüssigen Entlehnungen zählten solche, die ein russisches Äquivalent hatten. Tatišev erstellte eine Liste, die überflüssige Begriffe enthielt.

Ende des 18. – Anfang des 19. Jahrhunderts verstärken sich wieder die russisch-britischen Beziehungen. Zum einen wird wieder intensiver Handel getrieben, zum anderen unterstützen sich die beiden Länder im Krieg gegen Napoleon. In dieser Zeit kommen viele Engländer als Lehrer und Gouvernanten nach Russland. In gebildeten Kreisen liest man englische Literatur im Original und nicht mehr in der französischen Übersetzung. Immer öfter reisen Russen auf die Britischen Inseln.

Erste russisch-amerikanische Beziehungen in Bereichen der Diplomatie, Kultur und Wissenschaft werden auf Ende des 18. Jahrhunderts datiert. 1780 bemühen sich die Direktorin der Petersburger Universität, Ekaterina Daškova, und die amerikanischen Staatsmänner George Washington und Benjamin Franklin um eine gemeinsame Forschungsarbeit über die indianischen Sprachen Nordamerikas. Anfang des 19. Jahrhunderts kommen die ersten amerikanischen Kaufleute nach St.Petersburg. Der amerikanische Einfluss in dieser Epoche ist jedoch nicht so stark wie der britische. Denn technische Entwicklungen (Dampflok 1784, erste Eisenbahn 1807), die in England gemacht wurden, fördern den Entlehnungsprozess aus der in England gesprochenen Sprache. In dieser Zeit kommen laut Aristova ca. 120 Anglizismen ins Russische, darunter Begriffe, die Geldeinheiten (гинея, пенс, стерлинг, фунт, шиллинг), englische Gerichte und Getränke (эль, джин, портер, пудинг, пунш, ростбиф), Kartenspiele (бостон, вист, роберт) u.a. bezeichnen[11]. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden viele Alltagswörter entlehnt: виски, грум, денди, джентльмен, комфорт, etc . Zu den Anglizismen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehören wissenschaftliche und technische Termini, Wörter aus den Bereichen der Politik, der Wirtschaft, der Landwirtschaft, der Kultur, des Sport, u.a.: горилла, гризли, дарвинизм, динго, мимикрия, пони, сеттер, юкка; буфер, газгольдер, деррик, ластик, манчестер, рельс, твин, тендер, тоннель, эбонит, экскаватор; спич, спикер, чартизм; спорт, спортсмен, etc . 1866 führt das Fremdwörterbuch von Michelson (1866) ca. 300 Anglizismen auf, darunter viele politische und philosophische Termini (аболиционизм, дефендеры, конгрегационисты, популяционисты, протекционисты, etc.).[12]

Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Reaktion der LinguistInnen auf Anglizismen durch puristische Tendenzen gekennzeichnet.[13] Dieser Zeitraum wird charakterisiert als „время особенно отчетливого и сильного осознания идеи национальности, национальной особенности и самобытности, гордости этой самобытностью и веры в свои национальные силы.“[14] Puristische Ansichten teilen

M. Lomonosov und A. Sumarokov, die den Einfluss von Anglizismen auf die russische Sprache sehr negativ bewerten. Rossijskaja Akademija schlägt vor, statt der Fremdwörter акционер , аманат , антипатия , арест , аудиенция Substantive russischen Ursprungs zu benutzen (пайщик , заложник , отвращение , задержание , прием). Die Herausgeber des Wörterbuches „Словарь Академии Российской“ in 6 Bänden (veröffentlicht 1822) nehmen zwar die Fremdwörter im Wörterbuch auf, finden aber für jeden fremdsprachigen Eintrag ein russisches Äquivalent, um die SprecherInnen zu motivieren, das muttersprachliche Wort zu benutzen. Beispielsweise werden актер als auch лицедей , аристократия - вельможедержавие , геодезия - землемерие eingetragen[15].

Nach Romanov kommen die meisten Anglizismen in den Jahren 1830-1870 ins Russische[16]. Dal’ listet in seinem Wörterbuch (1866) mehr als 750 Fremdwörter, darunter auch Anglizismen, auf. Das Ziel des Wörterbuches ist es: „во-первых, [...] он [словарь] обязан собрать и дать все, что есть [в языке], позволяя себе указания на неправильность, уклонения и примеры для замены дурного лучшим; во-вторых, долг его перевести каждое из принятых слов на свой язык и выставить тут же равносильные, отвечающие или близкие выражения русского языка, чтобы показать, есть ли у нас слово это или нет.“[17]

V. Belinskij übt mäßige Kritik an puristischen Einstellungen einiger seiner Zeitgenossen und vertritt die Ansicht, jedes Wort, entstamme es der eigenen Sprache oder einer Fremdsprache, muss eine einzige Bedingung erfüllen, nämlich präzise einen Gedanken bzw. eine Idee zum Ausdruck bringen[18]. Duličenko sieht die Gründe der niedrigen Popularität von puristischen Sprachtendenzen im Russland des 19. Jahrhunderts in der Internationalisierung der Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, die den Purismus zu einem negativ besetzten Begriff macht[19].

1.2 Anglizismen im Russischen im 20. Jahrhundert

Der Anfang des 20. Jahrhunderts ist in Europa durch rasche Entwicklung von Industrie, Wissenschaft und Technik gekennzeichnet. Russland pflegt intensive Beziehungen mit europäischen Ländern, deren sprachliche Konsequenzen zahlreiche Entlehnungen aus dem Französischen, Deutschen und Englischen sind. Die Zahl der französischen und deutschen Fremdwörter im Russischen geht allmählich zurück, während die Zahl der Anglizismen konstant ansteigt[20]. Aus dem Englischen werden in jener Zeit Termini aus dem Militärwesen, der Politik und Wirtschaft, aus dem Sportbereich sowie Alltagswörter übernommen: аммонал , аут , бар , блюз , ватерполо , дерби , джаз , докер , бойскаут , дредноут , лифт , локаут , митинг , регби , танк , трест , фильм , футбол , хаки , хулиган , шрапнель . Um die zahlreichen neuen Wörter für alle RussischsprecherInnen verständlich zu machen, werden Fremdwörterbücher herausgegeben. Nach der Revolution 1917 findet ein intensiver Lernprozess von entlehnten lexikalischen Elementen statt, denn im neuen sozialistischen Staat lernen nun auch Arbeiter und Bauern lesen und schreiben.

Über die Situation der 20er Jahre schreibt A. Tolstoj: „Известный процент иностранных слов врастает в язык. В каждом случае инстинкт художника должен определить эту меру иностранных слов, их необходимость. Лучше говорить лифт, чем самоподымальщик, телефон, чем дальнеразговорня, пролетарии, чем голодранцы, но там где можно найти коренное русское слово – нужно его находить.“[21]

Anfang der 30er Jahren nehmen deutsche und französische Entlehungen ab und das Englische wird die wichtigste Entlehnungsquelle für die russische Sprache. Es werden übernommen:

technische Termini: адаптер , детектор , картер , комбайн , конвейер , контейнер , крекинг , миксер , пикап , спидометр , стенд , стокер , тандем , трактор , троллейбус , эскалатор, etc .

Sporttermini: баскетбол , бейсбол , бутсы , гейм , допинг , драйв , корнер , корт , кросс , лайнсмен , нокаут , нокдаун , офсайд , пас , пинг - понг , пушбол , раунд , рекордсмен , рефери , ринг , скутер , спиннинг , спринт , спринтер , спурт , стайер , стартер , тайм , фальстарт , финиш , фол , форвард , форхэнд , хавбек , хоккей , яхтсмен, etc .

Fachtermini im Bereich der Wirtschaft: бизнес , бизнесмен , бум , демпинг , просперити , сейф , сервис , etc.

Wörter aus dem Bereich der Kultur und des Alltags: джаз - банд , кроссворд , скетч , тустеп , холл , чарльстон , блеф , бриджи , джем , джемпер , коктейль , пуловер , etc.

In den 40er und 50er Jahren verlangsamt sich der Entlehnungsprozess. Der Zweite Weltkrieg führt zum Anstieg patriotischer Stimmungen und des nationalen Stolzes. Nach dem Krieg werden einige fremdsprachige Namen in russische umgewandelt: французская булка - городская булка , брауншвейгская колбаса – московкая колбаса , цукаты – киевская смесь , кафе « Норд » - кафе « Север »[22] . Die Umbenennungskampagne umfasst auch einige Industriebereiche. 1949 wird ein Erlass verabschiedet, welcher 380 russische Textilfachausdrücke enthält, die zur Verwendung empfohlen werden. Beispielsweise werden statt люстровая шерсть - шерсть блестящая ; клюнкер – шерсть кизячая ; тифтин – шерсть ангорская ; игамид – капрон - смола , u.a. benutzt . Auch im Bereich des Sports werden einige Veränderungen sichtbar: man sagt nun половина игры statt тайм, вратарь statt голкипер , угловой statt корнер , полузащитник statt хавбек , вне игры statt офсайд , одиннадцатиметровый штрафной удар statt пенальти , персональное замечание statt фол . Allerdings werden in der gleichen Zeit einige Entlehnungen aus dem Englischen gemacht: баттерфляй , гандбол , джюдо , кросс спарринг, etc.

In den 50er und 60er Jahren erfolgt ein starker Zuwachs von Anglizismen in der Fachliteratur und der alltäglichen Kommunikation:

Technik - аутборт, барн, геном, думпер, клиренс, компьютер, кроссинговер, спайк, стресс, стрессо, etc.

Sport und Tourismus - аутсайд, аутсайдер, дриблинг, картинг, кемпинг, круиз, кэтч, мотель, прессинг, ралли, спидвей, стоппер, тайм-аут, тарта, etc .

Kunst und Kultur: бестселлер, буги, буклет, вестерн, герлс, дайджест, диксиленд, мюзикл, покетбук, рок, твист, хеппенинг, хобби, шейк, шоу, etc .

Alltag: джинсы, клипсы, минискерт, кока-кола, крекер, тост, тостер, чипсы, etc.

angloamerikanische Realien: бармен, битл, диксикрат, плейбой, смог, стриптиз, хиппи, etc.

Insgesamt ist die Reaktion auf die Fremdwörter in dieser Zeit positiv sowohl von SprachwissenschaftlerInnen als auch von RussischsprecherInnen.

In den 70er Jahren kann man zwei Tendenzen feststellen: einerseits wird der Zustrom von Fremdwörtern in die russische Literatursprache weniger intensiv, andererseits kommen viele umgangssprachliche Ausdrücke in den jugendlichen Jargon. Der Jargon wird als unvereinbar mit der sowjetischen Ideologie sehr negativ bewertet. In dieser Epoche werden übernommen:

einige wissenschaftliche und technische Termini - видеокамера , дисплей , имплант , импринтинг , инжекция , кварк , партон , ролкер , сканер, etc.

neue politische Termini - брифинг , импичмент , инаугурация , истеблишмент , консенсус , лобби , масс - медия , регион , рейтинг, etc.

Wörter aus dem Alltag - блейзер , блузон , кейс , сексапильный , фломастер, etc.

Begriffe aus dem Bereich der Kunst und Kultur - биг - бит , диск - жокей , диско , поп - арт , репринт, etc.

Begriffe aus dem Bereich des Sports – аэробика, виндсерфинг , лопинг , релинг, etc.

Der Entlehnungsprozess im 20. Jahrhundert ist nicht geradlinig, denn nach intensiven Phasen (1900-1917, 30-er Jahre, 60-er Jahre) folgen weniger intensive Perioden (nach der Oktoberrevolution 1917, 40-50er Jahre, 70-er Jahre) und umgekehrt. Ganz eindeutig kann man einen deutlichen Zusammenhang zwischen der politischen Situation in Russland und den Entlehnungsprozessen aus dem Englischen feststellen. In Zeiten des ideologischen Liberalismus wird der Entlehnungsprozess stärker, in den Phasen des sowjetischen Fanatismus schwächer. In den letzten 15 Jahren werden die meisten Anglizismen ins Russische in verschiedenen Bereichen übernommen.

Wertvolle statistische Daten zur Anzahl von Anglizismen im Russischen vom 16. – 20. Jahrhundert liefert Gorbačevič:[23]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Prozess kann sich auch umkehren: einige Anglizismen verschwinden aus dem Sprachgebrauch im Laufe der Zeit aus folgenden Gründen[24]:

1. Konzepte oder Objekte, die sie bezeichnen, sind nicht mehr aktuell: джемпер , бостон, u.a.
2. Direkte Entlehnungen werden durch Kalkierungen (Lehnprägungen) ersetzt: блюминг – прокатный стан ; инфайтинг – ближний бой, u.a.
3. Sie werden durch andere Anglizismen ersetzt: кембрик – батист , кондом – презерватив, u.a.

Einige Anglizismen kommen ins Russische durch eine dritte Vermittlungssprache, meist das Französische oder das Deutsche[25]:

das Französische – эссе (E essay, Fr essai); фланель (E flannel, Fr flanelle); боксер (E boxer, Fr boxeur); дренаж (E drainage, Fr drainage); бюджет (E budget, Fr budget); жюри (E jury, Fr jury).

das Deutsche – кекс (E cake, D Keks); компост (E compost, D Kompost); крокет (E croquet, D Krocket).

2. Begriff des Anglizismus und Typologie von Anglizismen im Russischen

Um Anglizismen in das Sprachsystem des Russischen einordnen zu können, ist es notwendig, zunächst einige terminologische Fragen zu klären. Anglizismen gehören eindeutig zu fremdsprachlichen Entlehnungen in der russischen Sprache. Eine Entlehnung wird als „Vorgabe und Ergebnis der Übernahme eines sprachlichen Ausdrucks aus einer Fremdsprache in die Muttersprache“[26] definiert. Unter einem Anglizismus wird üblicherweise eine Entlehnung verstanden, die englischen Ursprungs ist, deren Bedeutung unbekannt oder unklar ist und deren äußere Form nicht der aufnehmenden Sprache entspricht[27]. In der Forschungsliteratur gibt es bis heute keine einheitliche Systematisierung von Entlehnungen. An dieser Stelle werden zwei Systematisierungsversuche von Entlehnungen vorgestellt.

2.1 Semantische Typologie

Die bei weitem einflussreichste Klassifikation von Entlehnungen ist jene von Betz[28]. Sie wird von Maurer auf die Entlehnungsklassifikation im Russischen angewendet[29]. Die primäre Unterscheidung besteht zwischen:

1) direkten Entlehnungen
2) Kalkierungen

1) Direkte Entlehnungen

Unter direkten Entlehnungen fasst man Fremd- und Lehnwörter zusammen, die sich im Grad ihrer Assimilation unterscheiden. Der Begriff Fremdwort wurde vom Philosophen K.C.F. Krause geprägt und durch Jean Paul in der Zeitschrift Hesperus verbreitet. Er bezeichnet „einen aus der fremden Sprache in die Muttersprache übernommenen Ausdruck (meist zugleich mit der durch ihn bezeichneten Sache), der im Unterschied zum Lehnwort sich in Aussprache, Schreibung oder Form noch nicht an das System der Muttersprache angepasst hat.“[30] Ein Lehnwort im engeren Sinne ist eine Entlehnung, die sich in Lautung, Schriftbild und Flexion vollständig an die aufnehmende Sprache angeglichen hat[31].

2) Kalkierungen sind Nachbildungen des fremdsprachlichen Inhalts mit muttersprachlichen Mitteln. Sie werden unterteilt in Lehnübersetzungen, Lehnübertragungen und Lehnbedeutungen. Die verschiedenen Arten von englischen Kalkierungen im Russischen können an folgenden Beispielen verdeutlicht werden:

Lehnübersetzung (gliedweise Übersetzung eines mehrgliedrigen fremdsprachigen Vorbildes): бросовая цена (dumping price), ветровое стекло (wind screen), долгоиграющая пластинка (long play record), скрытая камера (hidden camera), языковая лаборатория (language laboratory).

Lehnübertragung (freiere Nachbildung des fremdsprachlichen Musters): кинозвезда (film star).

Lehnbedeutung (zusätzliche Bedeutung, die ein Wort nach fremdem Vorbild annimmt): картина (picture als Spielfilm), молния (lightning-telegramm), память (memory als Speicher).

2.2 Typologie nach dem Assimilationsgrad

In der russischen Linguistik hat Baš[32] ein anschauliches Klassifikationssystem von Entlehnungen unter Berücksichtigung des zeitlichen und qualitativen Aspekts ausgearbeitet. Ihre Untersuchung schließt sich an die Typologie von Betz in Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Fremd- und Lehnwörtern an. In ihrem Koordinatensystem stellt die X-Achse die Qualität der Entlehnungen und die Y-Achse ihre zeitliche Charakterisierung (von der gemeinslawischen Periode bis zur neuesten Periode) dar. Das Modell kann man folgendermaßen graphisch darstellen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] Literaturnaja gazeta, (1989, 51) aus: Kostomarov 1993, S. 63

[2] Duličenko 1994, S. 315

[3] Krysin 1995-1996

[4] Dann 1998

[5] Kostomarov 1994, Duličenko 1994

[6] siehe Kapitel 2.1

[7] Aristova 1965, S. 43-44

[8] Aristova 1965, S. 43

[9] Aristova 1965, S. 19

[10] Biržakova, Vojnova, Kutina 1972, S. 72

[11] Aristova 1965, S. 24

[12] Romanov 2000, S. 27

[13] Biržakova, Vojnova, Kutina 1972, S. 74

[14] “die Zeit des ausgesprochen klaren und starken Bewusstwerdens der Nationalidee, nationaler Eigentümlichkeit und Eigenart, des Stolzes auf diese Eigenart und Glaube an die eigenen nationalen Kräfte.“ Biržakova, Vojnova, Kutina 1972, S. 74

[15] Duličenko 1994, S. 316

[16] Romanov 2000, S. 29

[17] „erstens, [...] muss es [das Wörterbuch] alles, was [in der Sprache] vorhanden ist, sammeln und zeigen; es kann sich Hinweise auf Unrichtigkeit, Abweichungen sowie Beispiele, wie das Schlechte durch das Bessere zu ersetzen ist, erlauben; zweitens ist es seine Pflicht, jedes aufgenommene Wort in seine Sprache zu übersetzen und zugleich gleichwertige, diesem Wort entsprechende oder ihm ähnliche russische Begriffe aufzuführen, um zu zeigen, ob wir das Wort haben oder nicht.“ Aus: Romanov 2000, S. 29

[18] Romanov 2000, S. 29

[19] Duličenko 1994, S. 320

[20] Romanov 2000, S. 31

[21] „Ein gewisser Anteil an ausländischen Wörtern schleicht sich in die Sprache ein. In jedem Fall muss der Künstlerinstinkt das Maß an Fremdwörtern und ihre Notwendigkeit ermitteln. Es ist besser zu sagen lift als samopodymal’ščik, telefon als dal’nerazgovornja, proletarii als golodrancy, aber dort wo man ein ursprünglich russisches Wort finden kann, muss man es finden.“ Aus: Romanov 2000, S. 31

[22] Romanov 2000, S. 32

[23] Aus: Maximova 2002, S. 199

[24] Maximova 2002, S. 199

[25] Maximova 2002, S. 200

[26] Bußmann 1990, S. 213

[27] Muhr 2002, S. 34

[28] Muhr 2002, S. 32

[29] Maurer 1982, S. 9-16

[30] Kettemann 2002, S. 56

[31] Bußmann 1990, S. 444

[32] Aus: Popp 1997, S. 123-124

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Details

Title
Anglizismen in der russischen Sprache
College
University of Cologne
Grade
1,0
Author
Year
2004
Pages
71
Catalog Number
V29018
ISBN (eBook)
9783638306478
ISBN (Book)
9783638731638
File size
886 KB
Language
German
Keywords
Anglizismen, Sprache
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Tatiana Cuypers (Author), 2004, Anglizismen in der russischen Sprache, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29018

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Title: Anglizismen in der russischen Sprache



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